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GEWALT/285: Psychische Traumatisierungen bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 177 - Heft 03/22, Juli 2022
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Psychische Traumatisierungen bei Kindern und Jugendlichen - eine kritische Sicht auf die Situation

von Claudia Chodzinski


In diesem Beitrag soll es nicht um die psychischen Aspekte und die Behandlung von Traumatisierungen gehen, sondern um eine kritische Reflexion und Diskussion unseres, in Deutschland bestehenden psychiatrischen und pädagogischen Kinder- und Jugendhilfesystems.


Die Sozialpsychiatrie muss den kritischen Diskurs wagen und immer wieder anregen, sodass ich mich als Verfasserin des vorliegenden Artikels dazu entschlossen habe, genau dieses zu tun und das "heiße Eisen" anzufassen. Wünschenswert wären weiterführende fachliche, politische und gesellschaftliche Diskussionen, auf die ich am Ende des Artikels noch einmal eingehen werde.

Die Zahl der tatsächlich an seelischen Verletzungen - im Sinne einer definierten Traumatisierung - leidenden Kinder wird in Deutschland nicht erfasst. Seit Einführung der Statistik von Kindeswohlgefährdungen steigt die Zahl gemeldeter und bestätigter Fälle kontinuierlich an. Die Dunkelziffern von Misshandlungen und Vernachlässigung sind vermutlich noch höher, besonders bei Kleinst- und Kleinkindern. Dabei geraten besonders auch die Fälle von Vernachlässigungen, "Wohlstandsverwahrlosung" und von psychischen Misshandlungen mehr und mehr in den Fokus.

Psychische Misshandlungen und seelische Gewalt sind ein Angriff auf das Selbstwertgefühl und das Selbstbewusstsein eines Menschen, dazu gehören Demütigungen, Einschüchterungen, emotionale Kälte, emotionale Erpressung, Manipulation, Instrumentalisierung u.v.m.

Gleichfalls sind die hohen Zahlen von physischer und sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen in der im Mai 2021 veröffentlichten Kriminalstatistik weiterhin alarmierend hoch:

"Im Jahr 2020 sind 152 Kinder gewaltsam zu Tode gekommen. 115 von ihnen waren zum Zeitpunkt des Todes jünger als sechs Jahre. In 134 Fällen erfolgte ein Tötungsversuch. Mit 4.918 Fällen von Misshandlungen Schutzbefohlener wurde eine Zunahme um 10 % im Vergleich zum Vorjahr registriert. Kindesmissbrauch ist um 6,8 % auf über 14.500 Fälle gestiegen. Stark angestiegen sind mit 53 % auf 18.761 Fälle die Zahlen bei Missbrauchsabbildungen, sogenannter Kinderpornografie. Auch die starke Zunahme bei der Verbreitung von Missbrauchsabbildungen durch Minderjährige war in 2020 besorgniserregend: Laut PKS hat sich die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die Missbrauchsabbildungen - insbesondere in Sozialen Medien - weiterverbreiteten, erwarben, besaßen oder herstellten, in Deutschland seit 2018 mehr als verfünffacht - von damals 1.373 auf 7.643 angezeigte Fälle im vergangenen Jahr." (Bundeskriminalamt Presse, Auswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik) (1)


Problem Diagnosestellung

Kinder können, je nach Alter, zunächst gar nicht erkennen und schon gar nicht kommunizieren, was ihnen widerfährt. Auffälligkeiten in der Entwicklung sind dann die ersten und oft auch die einzigen Anzeichen möglicher Traumatisierungen, werden aber häufig nicht den zugrunde liegenden Traumatisierungen zugeordnet. Stattdessen haben wir eine Vielzahl von anderen Diagnosen, die das ursprüngliche Problem larvieren, wie z.B. ADHS, sozial-emotionale Entwicklungsverzögerungen und andere.

Die Folgen sind häufige Falsch- und Fehlbehandlungen, gravierende Einschnitte in Lebensbiografien, Versäumnisse, Unterlassungen und wiederholte Traumatisierungen eines überforderten Hilfesystems.

Die bisherigen Diagnosekriterien des ICD-10 zu den Themen "Traumafolgen", einschließlich der posttraumatischen Belastungsstörung, finden sich in der Kategorie Kinder und Jugendliche nicht, was angesichts der Datenlage zu "traumatisierten Kindern und Jugendlichen" eine schwer nachvollziehbare Sachlage darstellt.

Der seit 2009 diskutierte Vorschlag von Bessel van der Kolk, die Diagnose "Entwicklungstraumastörung" oder "Traumaentwicklungsstörung" in das DSM-5 einzubringen, hat sich nicht durchgesetzt, wurde aber immerhin diskutiert. (2)

Im neuen ICD-11 werden psychische Störungen über die gesamte Lebenszeit erfasst, und spezifische Störungen im Kindes- und Jugendalter werden nicht mehr definiert. Allerdings können körperliche Misshandlungen, sexueller Missbrauch und Vernachlässigungen im Kindesalter als ein den Gesundheitsstatus beeinflussender Faktor kodiert und dokumentiert werden.

Es besteht Hoffnung, dass damit das Leid vieler Betroffener mit langjährig traumatischen Erfahrungen, die bislang nicht erfasst worden sind, zumindest dokumentiert werden kann, vorausgesetzt, die Kodierungen werden zukünftig auch genutzt.


Orte der Traumatisierung

Unabhängig von der Diskussion um die Diagnosestellung haben wir es in den Psychiatrien, in Wohngruppen, in Einrichtungen der Behindertenhilfe und vielen anderen ergänzenden Angeboten des Kinder- und Jugendhilfesystems vielfach mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen zu tun.

Aber nicht nur hier, sondern auch in anderen Bereichen finden wir traumatisierte Kinder, die Formen struktureller und institutioneller Gewalt ausgesetzt sind, z.B. die Instrumentalisierung von Kindern und Jugendlichen in Sorge- und Umgangsrechtsverfahren durch die Eltern und ungenügend ausgebildete Familienrichter/-innen, Umgangs- und Verfahrenspfleger/-innen etc. Hier werden nicht selten willkürliche Entscheidungen getroffen, die für die betroffenen Kinder und Jugendlichen maximale psychische Beeinträchtigungen darstellen.

Auch in bestimmten TV-Formaten, den sogenannten Sozialreportagen, sehen wir allabendlich öffentlich zur Schau gestellte Kindeswohlgefährdungen, und kaum jemanden scheint das zu interessieren. Hat man die Kinder explizit gefragt, ob sie so im TV gezeigt werden wollen? Und vor allem: Wer schützt sie und welche Unterstützung wird ihnen zuteil?

Die Gefahr von traumatischen Erfahrungen in Einrichtungen ist spätestens seit den Missbrauchstatsachen innerhalb der kirchlichen Schulen und Internate bekannt, und jede Fachkraft aus Psychiatrie und Pädagogik kennt und weiß von einer Vielzahl an Gewalt in Wohngruppen der Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen und anderen vollstationären Einrichtungen. Hier wiederholen sich - systematisch und allen Fachleuten bekannt - traumatisierende Erlebnisse.


Unübersichtliches Hilfesystem

Die Folgen sind, dass es immer mehr Angebote zur Unterstützung der betroffenen Kinder und Jugendlichen und auch ihrer Eltern gibt. Das klingt erst einmal gut, ist allerdings ein Fass ohne Boden. Angefangen von den frühen Hilfen bis hin zu Elternassistenz, Wohnheimen für Eltern mit Kindern, Hilfen zur Erziehung, Erziehungsstellen, Therapien für Kinder mit oder ohne Eltern - wir befinden uns in einem immens kostspieligen, mittlerweile unübersichtlichen Hilfesystem, welches die gewünschten Effekte bislang nicht zeigt, sondern allenfalls Schadensbegrenzung betreibt. Aus meiner beruflichen Praxis kenne ich Familiensysteme, die von vier Angeboten des Hilfesystems Gebrauch machen (müssen), ohne dass diese ausreichend untereinander kommunizieren und ihre Bemühungen fachlich abstimmen. Unkoordiniert, intransparent und ohne fachliche Aufsicht und entsprechende Evaluation. Fachkräfte berichten mir von angezeigten Kindeswohlgefährdungen, die ohne Konsequenzen bleiben, weil die Elternrechte im Vordergrund stehen und das psychische Befinden von Müttern und Vätern nicht verschlechtert werden soll.

Daraus resultierend behaupte ich, dass nicht alle Angebote des Hilfesystems das Kindeswohl im Blick haben. Hier wünsche ich mir transparente und mutige Diskussionen, mehr Öffentlichkeit und mehr verantwortungsvolle Politik.

Dabei fällt auf, dass es auch hier ganz entscheidend ist, wer wann mit wem, an welchem Ort und zu welcher Zeit Entscheidungen für Unterstützungs- und Behandlungsmaßnahmen anordnet und einleitet. Bekommt das betroffene Kind nach Traumatisierungen entsprechende Hilfen nach z.B. § 35a KJHG SGB VIII, oder kommt das Kind in eine Einrichtung der Behindertenhilfe unter SGB IX?

Zwischen vorschneller Pathologisierung betroffener Kinder und Jugendlicher und kollektivem Wegschauen haben wir es mit der kompletten Bandbreite eines überbordenden und dennoch versagenden Hilfesystems zu tun. Konkret bedeutet das: Die Akteure des Hilfesystems, ob Politik oder Fachleute, sind zu ängstlich, zu zögerlich, zu langsam, zu vermeidend, zu bürokratisch. Würde Kinderschutz in Deutschland ernster genommen, gäbe es die benannten Missstände in der Häufung so nicht.

Wir scheuen uns, das Kinder- und Jugendhilfegesetz von 1991 auf die notwendigen Bedarfe unserer heutigen Zeit anzupassen. Dazu gehört auch, sich mit unangenehmen Themen, wie dem Elternrecht und der Sorgerechtspolitik zu befassen und die Gegenfrage nach den Kinderrechten und den Elternpflichten zu stellen. Diese Probleme löst auch nicht das im Juni 2021 in Kraft getretene Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG), welches reformpolitisch sowieso noch nicht detailliert abgeschlossen ist.

Für uns in der Psychiatrie, Pädagogik, Psychologie kritisch Tätige bedeutet das, dass wir uns noch deutlicher positionieren und gesellschaftliche, regionale, überregionale, politische Fachdiskussionen einfordern müssen. Sensibilisierung, Fach- und Fortbildungen müssen Standard in allen Bereichen des Systems werden. Wo wir sind, müssen wir auf die Folgen von traumatischen Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen hinweisen und Abhilfen fordern. Die Psychiatrie als medizinische Fachrichtung muss noch deutlicher machen, dass es nicht sein darf, nur die Folgen eines versagenden Systems zu verarzten, zu pathologisieren, zu hospitalisieren und zu medikamentieren.


Weiterführende und zu einem kritischen Diskurs anregende Fragen:

• Wer sichert die Versorgung und den Schutz von Kindern psychisch erkrankter Eltern?

• Wie kann Öffentlichkeit und Aufklärung zu Themen wie generationsübergreifende Bindungsstörungen und deren Wiederholungsgefahr aussehen?

• Wer "kontrolliert" und sichert notwendige Erziehungskompetenzen von Eltern, und wer setzt Konsequenzen um, wenn diese nicht gesichert sind?

• Wer sichert genaue Diagnosestellungen und daraus resultierende Anforderungen an das Hilfesystem?

• Wer schützt Kinder vor struktureller und institutioneller Gewalt?

• Wer sichert die Mindestanforderungen an die fachlichen Qualifikationen pädagogischer, therapeutischer, medizinischer, administrativer, juristischer Akteure?

• Wer sichert die Umsetzung von Kinderrechten in allen Bereichen?

• Wer verbietet öffentlich zur Schau gestellte Kindeswohlgefährdungen in Sozialreportagen?

• Wer kontrolliert die Anbieter des Hilfesystems in Sachen Fachlichkeit?

• Wer sorgt für mehr Partizipation in der gesellschaftlichen und fachlichen Diskussion?

• Wer hört die Betroffenen an, und was sollten wir daraus lernen?

Diese Liste ist nur ein Anfang!


Claudia Chodzinski, Dipl.-Sozialpädagogin, Soziotherapeutin, Traumafachberaterin und Bindungspsychotherapeutin
www.claudia-chodzinski.de


Anmerkungen

(1) www.bka.de/DE/Presse/Listenseite_Pressemitteilungen/2021/Presse2021/210526_pmkindgewaltopfer.html
(letzter Zugriff: 14.05.2022)

(2) Hierzu: Schmid, Marc; Fegert, Jörg M.; Petermann, Franz (2010) Traumaentwicklungsstörung: Pro und Contra. In: Kindheit und Entwicklung, 19 (1), 47-63, Göttingen: Hogrefe Verlag oder unter:
www.fdr-online.info/wp-content/uploads/2019/12/Gahleitner-Traumaentwicklungsstoerung.pdf
(letzter Zugriff: 14.05.2022)


Wichtige Kontaktadressen für Fachkräfte und von Gewalt betroffene Kinder und Jugendliche

UBSKM - Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs
https://beauftragte-missbrauch.de/hilfe-und-praeventionsangebote
www.deine-playlist-2022.de/kinder
www.anrufen-hilft.de/
www.hilfe-portal-missbrauch.de/hilfe-telefon (Tel.: 0800 2255 530)

Nummer gegen Kummer:
www.nummergegenkummer.de/kinder-und-jugendberatung/kinder-und-jugendtelefon/ (Tel.: 116111)

Familienportal:
https://familienportal.de/familienportal/lebenslagen/krise-und-konflikt/krisetelefone-anlaufstellen

Kinderschutzhotline:
www.kinderschutzhotline.de/ (Tel.: 0800 19210 00)

Kinderschutzambulanz regional, hier Hannover
www.mhh.de/kinderschutz
www.kinderschutzhotline.de/
www.nummergegenkummer.de/kinder-und-jugendberatung/kinder-und-jugendtelefon/ (Tel.: 116 111)

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 177 - Heft 03/22, Juli 2022, Seite 14-16
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
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Telefon: 0221/51 10 02, Fax: 0221/52 99 03
 
Erscheinungsweise: vierteljährlich, jeweils zum Quartalsanfang
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Jahresabo: 34,- Euro inkl. Zustellung
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veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 7. Februar 2023

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