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ARTIKEL/440: Warum viele Menschen ausgerechnet im Urlaub krank werden (welt der frau)


welt der frau 7-8/2009 - Die österreichische Frauenzeitschrift

Wie war's im Urlaub?
Warum viele Menschen ausgerechnet im Urlaub krank werden, was man dagegen tut und warum ein gelungener Urlaub Ehrlichkeit verlangt.

Ein Interview mit der Ganzheitsmedizinerin Beatrix Thunn-Hohenstein.

Von Julia Kospach


WELT DER FRAU: Täuscht der Eindruck oder werden viele Menschen tatsächlich gerade im Urlaub krank?

THUNN-HOHENSTEIN: Das kommt häufig vor. Urlaubsberichte beginnen sehr oft mit den Worten: »Hm, wie war mein Urlaub? Leider bin ich krank geworden.«

WELT DER FRAU: Ist das ein Zufall?

THUNN-HOHENSTEIN: Nein. Verschiedene Ausgangspositionen spielen da eine große Rolle. Häufig ist die Erwartungshaltung in Bezug auf den Urlaub einfach viel zu groß. Er soll eine Wiedergutmachung für alles sein, was ansonsten verpatzt ist. Das muss schiefgehen. Darin ähnelt der Urlaub dem Weihnachtsabend, der auch heillos mit Erwartungen überfrachtet wird. Viele glauben außerdem, Familiengeschichten im Urlaub austragen oder auch kitten zu müssen. Das ist mit Sicherheit nicht urlaubsgeeignet. Ein Urlaub ist kein wissenschaftlicher Kongress, der etwas bringen muss. Das kann nicht funktionieren.

WELT DER FRAU: Sind Kurzurlaube weniger krankheitsanfällig?

THUNN-HOHENSTEIN: Nein, man muss nicht extra nach Zentralasien oder Kenia fahren, um krank zu werden. Das kann in der normalsten Situation und Umgebung passieren. Physiologisch geht es um die Anpassung der Herzaktion an verschiedene Gegebenheiten. Im vegetativen Nervensystem, also dem, das unserem Willen und Einfluss nicht unterworfen ist, steht der Vagus für Erholung und Ruhe und der Sympathikus für Aktion. Wenn der Sympathikus - das heißt der Stresspegel, die Leistung, das Denken, die Anspannung, die Überforderung - heruntergeht, weil ich gerade nicht vor dem Telefon sitze, keinen Termin habe und nicht im Büro bin, dann ist der Körper so gescheit, den Vagus walten zu lassen - also die Erholung und Entspannung. Es muss immer Aktion und Reaktion geben. Auf das eine Extrem muss das andere folgen. So wird die Balance im Körper hergestellt und erhalten.

WELT DER FRAU: Was passiert, wenn Ungleichgewicht herrscht?

THUNN-HOHENSTEIN: Wenn ich die Erholungsphasen des Körpers von vornherein wieder mit Erwartungen und neuen Anforderungen überfrachte, dann geht sich das nicht aus.

WELT DER FRAU: Und man wird krank?

THUNN-HOHENSTEIN: Das hängt auch mit einer falschen Erlebnis- und Erholungssucht zusammen. Das vegetative Nervensystem heißt ja nicht umsonst auch autonomes Nervensystem. Es funktioniert nicht über das Bewusstsein. Es arbeitet selbstständig. Die Autonomie meines Nervensystems lässt sich von mir nicht auch im Urlaub schon wieder in ein neues stressiges Programm pressen.

WELT DER FRAU: Was passiert da im Körper? Warten Viren und Bakterien auf eine Gelegenheit zum Ausbruch?

THUNN-HOHENSTEIN: Das Krankwerden im Urlaub wird durch alle möglichen Dinge, die wir nicht gewohnt sind, gefördert: klimatisierte Räume, Klimawechsel, All-inclusive-Buffets, Jetlag, plötzliche intensive Sonneneinstrahlung usw. All das spielt eine große Rolle. Diese Faktoren verpassen dem Immunsystem einen Dämpfer.

WELT DER FRAU: Soll Urlaub in erster Linie der Erholung dienen?

THUNN-HOHENSTEIN: Urlaub im ursprünglichsten Sinn sollte einfach Erholung sein. Die Super-Urlaubsprogramme, die bis zum Sonntagabend ausgereizt werden, damit es am Montag mitsamt Jetlag am ersten Arbeitstag gleich wieder weitergehen kann, sind nicht gut. Leider ist die Versäumnisangst vieler Menschen sehr groß.

WELT DER FRAU: Aber nicht alle verreisen. Viele bleiben auch einfach zu Hause.

THUNN-HOHENSTEIN: Auch da ist es nicht anders: Der Organismus will Ruhe haben. Wenn man im Alltag Stress hat, ignoriert man ja das latente Kopfweh, den leichten Schnupfen, die Übelkeit oder das Herzrasen. Man spürt es nicht wirklich, weil man es übertüncht. Bewusst wird es einem erst an den freien Tagen. Das muss gar nicht neu auftauchen. Es ist weniger so, dass irgendwo Bakterien lauern, sondern dass das Immunsystem auf einen solchen Schleichgang umschaltet, dass es sich kaum mehr mit der Abwehr beschäftigt.

WELT DER FRAU: Zwingt das Immunsystem den Körper so in die Ruhe?

THUNN-HOHENSTEIN: Nicht den Körper als solchen, sondern unsere malträtierten Körper: gestresste, überarbeitete, überforderte Körper, die knapp vor dem Burn-out stehen. Denn auch wenn es als Modewort missbraucht wird, jeder Dritte oder Vierte von uns ist stark Burn-out-gefährdet und arbeitet mehr, als er sollte, weil er das muss.

WELT DER FRAU: Wegen der heiklen Lage am Arbeitsmarkt traut man sich nicht mehr in Krankenstand zu gehen und rettet sich deswegen zum Krankwerden in den Urlaub?

THUNN-HOHENSTEIN: Genau. In dem Fall ist das Kranksein eine vom Körper erzwungene Erholungsphase. Er will krank sein, damit er endlich Ruhe kriegt.

WELT DER FRAU: Ist das Kranksein im Urlaub mehr geworden?

THUNN-HOHENSTEIN: Ich war elf Jahre ärztliche Leiterin einer Wellness-Therme und hatte intensiv mit dem Thema Urlaub und Krankheit zu tun. Ich war an der vordersten Front. Mein Eindruck ist, dass das mit Sicherheit mehr geworden ist.

WELT DER FRAU: Gibt es dafür noch andere Ursachen als die schon genannten?

THUNN-HOHENSTEIN: Eine Rolle spielt sicher auch, dass viele Menschen ihre Urlaube in Kurzurlaube aufsplitten, um möglichst oft möglichst viel davon zu haben. Auch das funktioniert oft nicht. Man kann sich nicht am Freitagnachmittag an einer Rezeption abgeben, um sich am Sonntag wieder abzuholen und dazwischen zu sagen: Nehmt mich, ich bin bei euch auf Urlaub, tut mit mir das Beste und Schönste, »verwellnesst« mich!

WELT DER FRAU: Wieso funktioniert das nicht?

THUNN-HOHENSTEIN: Die Zeit ist zu kurz. Früher haben Urlaube drei Wochen gedauert. Das gibt es so gut wie nicht mehr.

WELT DER FRAU: Wären drei Wochen eine Art empfohlene Mindestzeit?

THUNN-HOHENSTEIN: Ich würde sagen, dass man jeden Urlaub langsam und in aller Ruhe angehen muss, ohne Erlebniszwang. Gemacht wird es ganz anders: Im Urlaub werden alle Freunde eingeladen, wird alles erledigt, wofür sonst keine Zeit ist, wird das Haus renoviert oder entrümpelt.

Eine echte Erholungszeit sollte mindestens zwei Wochen dauern, damit der berühmte Sympathikus sich so erholen kann, dass er nicht sogar im Schlaf weiterarbeitet.

WELT DER FRAU: Das war die Diagnose. Was ist das Gegenrezept? Wie vermeidet man es, im Urlaub krank zu werden?

THUNN-HOHENSTEIN: Ich würde eine andere Bescheidenheit verordnen. Man muss es nicht so übertreiben im Urlaub, muss nicht alles sehen und alles machen, was möglich ist. Und sich solche Dinge denken wie »5 Millimeter weniger Cellulite« könnte man auch noch ins Fünfsternehotel-Programm mit hineinpacken. Man muss nicht alles, was einem um sein Geld geboten wird, auch nutzen. Stattdessen ist es wichtig, in sich hineinzuhören und sich die Frage zu stellen: Was tue ich wirklich am liebsten?

WELT DER FRAU: Das ist aber doch sicher sehr individuell?

THUNN-HOHENSTEIN: Sicher. Der eine will Marathon laufen und der andere will um halb elf aufstehen und schauen, ob er irgendwo am abgeräumten Frühstücksbuffet noch eine lauwarme Butter erwischt. Der eine will seine Flügel hängen lassen, der andere sie ausbreiten und losfliegen. Es geht darum, sich typgerecht selber zu erforschen.

WELT DER FRAU: Es gibt kein Rezept?

THUNN-HOHENSTEIN: Nein. Urlaub verlangt Ehrlichkeit. Da muss man zugeben, wer man ist. Und man muss es auch vom anderen wissen, sich mit ihm abstimmen und darauf einstellen. Es geht um die Besinnung auf das, was einem wirklich am meisten behagt. Wichtig ist auch, sich darüber klar zu werden, was in der Zeit, die zur Verfügung steht, tatsächlich verwirklichbar ist.

WELT DER FRAU: Urlaub, damit er gelingt, braucht einen reifen Menschen?

THUNN-HOHENSTEIN: Vollkommen richtig.


Zur Person:

Beatrix Thunn-Hohenstein ist Allgemeinmedizinerin mit ganzheitlicher Praxis in Wien und Mauerkirchen/OÖ. Die Schwerpunkte ihrer ärztlichen Arbeit sind Prävention und Regeneration, Naturheilkunde, Psychosomatik, Stoffwechsel- und Gewichtsregulierung, Ganzheitsmedizin und ganzheitliche Labordiagnostik. Elf Jahre lang, bis Ende 2008, war sie ärztliche Leiterin des Vitalzentrums der Wellness-Therme Geinberg in Oberösterreich. (www.thunn-hohenstein.at)

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Quelle:
welt der frau - Die österreichische Frauenzeitschrift,
Ausgabe 7-8/2009, Seite 62-64
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin
Herausgeberin: Katholische Frauenbewegung Österreichs
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Juli 2009

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