Schattenblick → INFOPOOL → MEDIZIN → SOZIALES


ARTIKEL/482: Interview - Ins Hospiz geht der Betroffene zum Leben, nicht zum Sterben (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 9/2010

Interview
Ins Hospiz geht der Betroffene zum Leben, nicht zum Sterben

Gespräch mit Dr. Hans-Bernd Sittig


Am 2. Oktober findet der Hospiz- und Palliativtag Schleswig-Holstein in Geesthacht statt. Ein Gespräch mit dem ärztlichen Leiter Dr. Hans-Bernd Sittig.


Der Hospiz- und Palliativtag Schleswig-Holstein wendet sich an Ärzte und Psychologen, sowie an alle haupt- und ehrenamtlich im Hospiz- und palliative care-Bereich tätigen Kräfte. Ziel ist es u.a., die verschiedenen Fachgruppen zu integrieren. Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt sprach mit dem ärztlichen Leiter der Veranstaltung, Dr. Hans-Bernd Sittig, der u.a. auch Geschäftsführer und ärztlicher Leiter des auxilium Hospizes in Geesthacht, Vorsitzender und Leiter des Palliative Care Teams in Geesthacht/Hzgt. Lauenburg/Süd Stormarn) und Präsident der Akademie Palliative Care Norddeutschland - PACE - ist.

Frage: Der Hospiz- und Palliativtag steht unter anderem unter dem Motto "Türen öffnen". An wen wendet sich dieses Motto - bleiben Türen der Hospize noch zu vielen Menschen verschlossen?

Sittig: Das Motto "Türen öffnen" ist ein lauter Appell an alle, die betroffen sind und die betroffen werden können. An alle, die mit den selbst Betroffenen und auch deren Angehörigen ehrenamtlich oder professionell arbeiten. Damit sind auch die angesprochen, die entscheiden, wer "in ein Hospiz darf" und wer "nicht in ein Hospiz darf", d.h. die Entscheidungsträger der Krankenkassen, der MDK, der Medizinische Dienst der Krankenkassen. Wir wollen aber auch die Türen zwischen allen Akteuren im Palliativ- und Hospizbereich weiter aufstoßen, das Verständnis für die verschiedenen Herangehensweisen und Standpunkte untereinander verbessern, mehr Transparenz untereinander schaffen, Berührungsängste, Schwellenängste ausräumen, auch ganz pragmatisch und im wirklichen Sinn des Wortes Türen öffnen und offen halten, besser miteinander ins Gespräch kommen und bleiben, zeigen, wer wann was wo im Land Schleswig-Holstein und Umgebung anbietet, leisten kann, leistet.

Frage: Ein hoher Anspruch, der zugleich zeigt, wie groß die Defizite noch sind.

Sittig: Tatsächlich bleiben auch heute noch für viele Betroffene und ihre Angehörigen die ihnen zustehenden Leistungen aus dem palliativen Bereich und dem Hospiz verschlossen. Gründe sind Verzweiflung, Ablehnung, Verdrängung, mangelnde, mangelhafte oder falsche Aufklärung, Schmerz, Trauer, Unkenntnis, Angst, z.B. vor dem Sterben, vor unkalkulierbaren Kosten. Aber auch das Antragswesen, wiederholte Ablehnung von Anträgen oder Wartezeiten. Viele Betroffene vermuten fälschlicherweise, sie dürften nur zum Sterben ins Hospiz kommen. Das Gegenteil ist der Fall: Ins Hospiz geht der von einer unheilbaren Erkrankung Betroffene zum Leben, zum Leben vor dem Tod.

Frage: Sie sprechen mit Ihrer Veranstaltung alle palliativmedizinisch tätigen Ärzte, Psychologen, Pflegekräfte, Berater und Ehrenamtliche in der Hospizarbeit an. Wie gelingt die Zusammenarbeit der verschiedenen Gruppen aus Ihrer Sicht bislang und wo sehen Sie Hindernisse für eine bessere Kooperation?

Sittig: Die Zusammenarbeit der verschiedenen Gruppen gelingt in den einzelnen Regionen sehr unterschiedlich gut und effektiv. Es hängt immer wieder am meist ehrenamtlichen Engagement einzelner. Zusammenarbeit und Teamarbeit sind ein hartes Brot und erfordern Zeit, Geduld, regelmäßige Treffen und Besprechungen, eine immerwährende Kompromissbereitschaft aller Beteiligten, ein beständiges Zugehen auf den Anderen, die Akzeptanz und Wertschätzung des Anderen, der anderen Meinung, die Bereitschaft zum lebenslangen und täglichen Lernens. Teamarbeit und Zusammenarbeit brauchen Wollen und Engagement, Toleranz und Wertschätzung, Zeit und Raum, Unterstützung, finanzielle Mittel und gesellschaftliche, soziale, ideelle und letztendlich auch pekuniäre Anerkennung. Eine bessere Kooperation gelingt nur mit besserem Verständnis für das Gegenüber. Aus dem Nebeneinander muss ein gemeinsames Miteinander werden.

Beispielhaft für eine einfache, reibungslose, komplikationslose, ausgezeichnete und letztlich auch effiziente Zusammenarbeit ist im Süden von Schleswig-Holstein in den letzten drei Jahren das PCT-GLS (Palliative Care Team Geesthacht, Herzogtum Lauenburg & Süd Stormarn) entstanden. Unverzichtbare Kooperationspartner sind die vielen hoch motivierten und umfassend und sehr gut ausgebildeten Ehrenamtlichen. Zum PCT-GLS gehören auch die palliativmedizinisch ausgebildeten Ärzte und Pflegenden, die Psychologen, Physiotherapeuten, Sterbeammen und Sozialarbeiter, die Apotheker, Seelsorger, das auxilium Hospiz, die Freunde des Hospizes, die ambulante Hospizgruppe, der ambulante Palliativ- und Hospiz-Beratungsdienst Geesthacht.

Gemeinsam mit den Haus- und Fachärzten werden hier Betroffene und deren Angehörige aus einer Hand liebevoll und kompetent rund um die Uhr das ganze Jahr beraten, behandelt und begleitet.

Frage: Eines Ihrer Ziele lautet Öffentlichkeit sensibilisieren. In aller Regel ist Palliativmedizin ein Thema, vor dem Menschen, deren Angehörige nicht gerade selbst betroffen sind, die Augen verschließen. Wie wollen Sie die Öffentlichkeit sensibilisieren?

Sittig: Die Menschen verschließen die Augen vor dem Thema Palliativmedizin, Hospiz, Sterben und Tod aus Angst und Unkenntnis. Palliativmedizin und Hospizarbeit wird von den meisten Menschen mit Sterben verbunden: Da kann man eh nichts mehr machen, heißt es dann oft. Viele Betroffene vermuten fälschlicherweise, sie dürften nur zum Sterben ins Hospiz kommen. Das Gegenteil ist der Fall. Wir möchten den Menschen vermitteln, dass das Leben lebenswert ist und das Sterben zum Leben dazugehört, dass aber gerade die Zeit vor dem Sterben eine sehr wertvolle Zeit sein kann, dass viele Symptome, die befürchtet werden - dazu gehören etwa Angst, Schmerzen, Einsamkeit, Übelkeit, Erbrechen, Luftnot, Kachexie, Appetitlosigkeit, Verzweiflung, soziale Probleme, Fatigue - wenn auch nicht immer beseitigt, so aber sehr wohl behandelt und gelindert werden können.

Frage: In den vergangenen Jahren hat sich beim Ausbau der Versorgungsstrukturen auch im Norden einiges getan. Wo steht Schleswig-Holstein aus Ihrer Sicht, wo sehen Sie Lücken, die noch geschlossen werden müssen?

Sittig: In der Tat hat sich in der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) in S-H in den vergangen Jahren einiges getan. Es gab vom Ministerium für Familie und Soziales aus Kiel Fördermittel zur Entwicklung der SAPV. In Schleswig-Holstein hatte sich dann vor ca. 2 ½ Jahren aus den Palliative-Care-Teams und potenziellen SAPV-Leistungsanbietern die Arbeitsgemeinschaft spezialisierte ambulante Palliativversorgung Schleswig-Holstein (ASPVSH) gegründet. Die ASPVSH hatte es sich zu Aufgabe gemacht, für alle potenziellen SAPV-Leistungsanbieter mit allen Krankenkassen einen landeseinheitlichen Vertrag zur spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) zu verhandeln und abzuschließen. Nach 1 ½ Jahren zähen Ringens um einen adäquaten einheitlichen SAPV-Vertrag haben die Vertreter der gesetzlichen Krankenkassen diese Verhandlungen mit der ASPVSH leider abgebrochen. In der Folgezeit haben die Kassenvertreter dann mit einigen SAPV-Leistungsanbietern Einzelverträge abgeschlossen. Die Kassen lassen nun verlauten, dass es in Schleswig-Holstein eine flächendeckende SAPV-Versorgung gebe. Dies ist aber nicht der Fall.

Schleswig-Holstein ist, was die SAPV im Vergleich zu anderen Bundesländern angeht, sicher schon weit vorangekommen. Wir sind ein Flächenland, die Einzugsgebiete einzelner Teams jedoch werden viel zu groß bemessen, Anfahrtswege von über 50 Kilometern sind die Regel. Viele Probleme der SAPV sind noch dringend klärungsbedürftig. Die Vergütungen der Leistungen sind nicht kostendeckend und somit betriebswirtschaftlich ein Desaster für die Teams. Die geforderten Qualifikationen sind sehr hoch, die geforderten Leistungen und Inhalte dieser Verträge sind nur über eine Querfinanzierung darzustellen.

Frage: Warum bestehen diese Lücken noch, wo liegen die Hindernisse?

Sittig: Versorgungslücken bestehen noch, weil etwa die Vertreter der Gesetzlichen Krankenkassen keine Verhandlungen mit weiteren Teams zulassen mit dem Hinweis, die Region sei schon versorgt; weil z.B. die aktuelle Vergütung der geforderten SAPV-Leistung nicht kostendeckend ist; weil z.B. die Haus- und Fachärzte sich hinsichtlich der SAPV nicht hinreichend informiert fühlen oder nicht korrekt informiert sind; weil das Formularwesen sehr ausufernd ist; weil Anträge oft schleppend bearbeitet oder abgelehnt werden oder weil die Versorgungsstufen herabgestuft werden; weil Betroffene sich im "Versorgungsdickicht" nicht auskennen; weil alle Angst vor Kosten zu haben scheinen; weil Hospize immer noch mehr als 10-20 Prozent ihrer Realausgaben irgendwie über Spenden erwirtschaften müssen; weil die Berechnungsgrundlagen für die Kosten stationärer Hospize schon seit Jahren überholt und veraltet sind.


2. Oktober 2010:
Hospiz- und Palliativtag Schleswig-Holstein 2010,
Veranstaltungsort: Integrierten Gesamtschule Geesthacht

*

Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 9/2010 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2010/201009/h10094a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

*

Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt September 2010
63. Jahrgang, Seite 20 - 21
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-119, -127, Fax: -188
E-Mail: aerzteblatt@aeksh.org
www.aeksh.de
www.arztfindex.de
www.aerzteblatt-sh.de
 
Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. September 2010

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang