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ARTIKEL/483: Subjektive Krankheitstheorien in der medizinischen Kommunikation (spektrum/Uni Bayreuth)


spektrum 1/2010 - Universität Bayreuth

Krankheit in der Krise
Erforschung medizinischer Kommunikation als etablierter Bereich innerhalb der Angewandten Linguistik

Von Dr. Karin Birkner und Ivan Vlassenko


Lebensbedrohliche und chronische Erkrankungen werden von den Betroffenen häufig als schwere Krisen empfunden. Wie diese Krisen bewältigt werden, wie Krankheit sprachlich vermittelt und in der Arzt/Patient-Kommunikation behandelt wird, untersuchen Prof. Karin Birkner und ihre Mitarbeiter/innen Ivan Vlassenko und Alexandra Groß am Lehrstuhl Germanistische Linguistik der Sprach- und Literaturwissenschaftlichen Fakultät. Die Erforschung medizinischer Kommunikation ist ein etablierter Bereich innerhalb der Angewandten Linguistik, in der sprachwissenschaftliche und interaktionsanalytische Forschung mit einer Anwendungsorientierung, z. B. der Verbesserung der A/P-Kommunikation, verbunden wird.


Abb. 1: Transkript Simulant

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P:
T:

P:



T:
P:




T:

ich dachte echt ich krieg ne diaGNOse;
hm=hm,
(.) mit der hoffnung sind sie geKOMmen;
(--) und es hat mich äh (-) am sonntag (-) ziemlich UMgeworfen;
(-) also DA: (--) da hab ich bisschen so (-) äh (--)
bin ich bisschen so zuSAMmengebrochen;
[hab halt geHEULT und so;
[hm=hm,
.h weil ich dachte erstens die halten mich hier fürn simuLANten.
(-) und ZWEItens äh ähm: (--) (.)
ich hab halt ne hoffnung verbunden DAmit;
(-) falls ich ne diagnose beKOMme,
[dann hätt ich gewusst wies WEItergeht;
[ja-
hm=hm,



Fehlende Diagnose als Auslöser von Krisen

Einer der Schwerpunkte der Forschung der Germanisten liegt auf "Subjektiven Krankheitstheorien", d. h. den Vorstellungen von Patient/innen über das Wesen, die Entstehung und die Behandlung von Krankheiten (Faller 1997: 265). Diese nehmen auf vielfältige Weise Einfluss auf den Verlauf einer Erkrankung, so z. B. auf 'Compliance' (Therapietreue) und 'Coping' (Krankheitsverarbeitung). In der Arzt/Patient-Kommunikation gilt die Verständigung über Krankheitstheorien als wichtige Voraussetzung für die Herstellung eines Arbeitsbündnisses und damit eine erfolgreiche Behandlung (Birkner 2006).

Die empirische Datenbasis der Untersuchung von Subjektiven Krankheitstheorien bilden Arztgespräche und Interviews mit Patient/innen, die die Verdachtsdiagnose "Somatoforme Störung" aufweisen, d. h. unter körperlichen Beschwerden leiden, für die kein eindeutiger medizinischer Befund vorliegt. Die Verbalisierungspraktiken und Verfahren der interaktiven Bearbeitung werden mit gesprächsanalytischen Methoden untersucht. Dazu werden die Gespräche und Interviews aufgezeichnet und zunächst als Grobtranskripte verschriftlicht. Für die Auswertung werden dann Feintranskripte von relevanten Stellen erstellt.

Das Fehlen einer eindeutigen Diagnose und die Ungewissheit über die Ursachen der Beschwerden werden von den Betroffenen als stark belastend empfunden. Nicht zuletzt resultieren aus einer Diagnose Behandlungsperspektiven und die Hoffnung auf Heilung. Für die Patient/innen ist außerdem die eigene Glaubwürdigkeit sehr eng an Diagnosen gekoppelt, wie der Transkriptausschnitt in Abbildung 1 illustrieren soll.

Die Verdachtsdiagnose "Somatoforme Störung" wird von den Patient/innen häufig nicht akzeptiert. Selbst wenn sie eine psychosomatische Komponente ihrer Beschwerden für möglich halten, äußern sie dies im Arzt/Patient-Gespräch häufig nicht (Kreissl/Türp/Overlach/Birkner 2004).

Diese Zurückhaltung bei der Äußerung psychosomatischer Krankheitstheorien ist in der Furcht vor Stigmatisierung begründet und kann zu einer antizipatorischen Abwehr gegen eine psychosomatische Deutung der Beschwerden führen. Das bringt die Patient/innen oft in ein Dilemma zwischen der Selbstpositionierung als psychisch belastbar einerseits und durch die Beschwerden belastet andererseits. Dadurch kann der Verlauf des Arzt/Patient-Gesprächs so stark geprägt werden, dass selbst eine offene Fragetechnik des Arztes allein die Patient-/innen nicht ermutigt, ihre psychosomatischen Ursachentheorien mitzuteilen. Der Patientin Frau B. beispielsweise überlässt der Arzt viel Gesprächsraum, macht Pausen, lässt seinerseits die Möglichkeit, das Wort zu ergreifen, verstreichen und gibt durch wiederholtes Nachfragen mehrfach die Gelegenheit, dieses medizinisch hochrelevante Thema zu vertiefen; nichtsdestotrotz elaboriert sie ihre Krankheitstheorie nicht. Ganz anders im Interview; hier spricht die Patientin außerdem über ihre Todesangst und die mit ihrer Schmerzerkrankung einhergehenden Depressionen.

Die Untersuchungen machen deutlich, dass Subjektive Krankheitstheorien kontextsensitiv eingebracht werden. Dieses Ergebnis ist methodisch für medizinisch-psychologische Forschungen hochrelevant, da die Kontextgebundenheit von Subjektiven Krankheitstheorien in den üblichen Fragebogenerhebungen ausgeblendet wird. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass Subjektive Krankheitstheorien stabile, invariable Gebilde sind, sondern sie unterliegen individuellen Zielen in verschiedenen Settings, variieren nach Krankheitsphase und -verlauf und nicht zuletzt nach Art der Krankheit.


Diagnose als Auslöser der Krise

Ein weiterer Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich "Sprache und HIV/AIDS". Während bei somatoformen Erkrankungen das Fehlen der Diagnose ein Problem darstellt, löst die Bekanntgabe des positiven Ergebnisses über die vorliegende HIV-Infektion bei Betroffenen eine Krise aus. Da die HIV-Infektion dank neuer Therapiemöglichkeiten zwar behandel -, aber nicht heilbar ist und den Charakter einer chronischen Krankheit mit ungewissem Verlauf aufweist, ist sie ein Stressor, den seropositive Menschen jahrelang bewältigen müssen. Das "Coping", d. h. die von den Patienten entwickelten Bewältigungsstrategien, sich an die Krankheit anzupassen und sich mit ihr auseinanderzusetzen (vgl. Burish/Bradley 1983, Hasenbring 1990), umfasst einzelne Phasen der Krankheitsverarbeitung wie Ungewissheit - Schock - Verleugnung - Zorn und Wut - Depression - Feilschen oder Handeln - Akzeptieren (Kübler-Ross 1971). Hier lassen sich heterogene sowohl emotionsregulierende als auch problem-orientierte Bewältigungsstrategien der HIV-Infizierten erkennen, beispielsweise Ausblenden, Ablenken, Bagatellisieren, Fatalismus, Flucht, Selbstbemitleidung, aber auch Kampfgeist und positive Selbstinstruktion. Die empirische Grundlage bilden Audio- und Videoaufzeichnungen von Interviews mit Betroffenen. Den Schwerpunkt des Forschungsprojektes bildet die Analyse der sprachlichen Mittel, die HIV-Infizierte bei der narrativen Rekonstruktion des Krankheitserlebens verwenden.

Bei der Untersuchung der Darstellungsverfahren, mit denen die Betroffenen ihre Erfahrungen verbalisieren, fallen Narrationen auf, in denen heterogene Darstellungsverfahren eingesetzt werden. Die bildhafte Verbalisierung von Coping-Strategien durch Metaphern, Vergleiche, Bilder und Szenarios wird häufig von gestischen Visualisierungen begleitet. Idiosynkratische Gestik visualisiert mentale Vorstellungen. Die Darstellungsverfahren sind nicht willkürlich, sondern an Coping-Erfahrungen einzelner Phasen angepasst. So ist die Rekonstruktion der stark emotionalen Schockphase durch die Bündelung multimodaler Ressourcen geprägt, d. h. es kommen verbale und visuelle (nonverbale) Mittel zum Einsatz. Das unterscheidet sich wesentlich von der sachlichen Darstellung der Akzeptanz-Phase, die semiprofessionelles Wissen über das Nutzen aktiver Coping-Strategien, die für eine erfolgreiche Therapie sowie Compliance nützlich sind, vermittelt. Die sprachlichen Phänomene lassen Rückschlüsse auf kognitive Schemata krankheitsbezogener Konstrukte zu. Die Ergebnisse der Untersuchung werden der AIDS-Beratung zur Verfügung gestellt.


Frau Professor Dr. Karin Birkner ist Universitätsprofessorin für Germanistische Linguistik.

Ivan Vlassenko ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Germanistische Linguistik.


Literatur

Birkner, K. (2006): Subjektive Krankheitstheorien im Gespräch. In: Gesprächsforschung - Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion 7, 152-183.

Kreissl, M.; Overlach, F.; Türp, J.C.; Birkner, K. (2004): Das zahnärztliche Erstgespräch bei Patientinnen mit chronischen Gesichtsschmerzen. In: Schmerz, Band 18, 2004, 266-289.

Burish, T.G.; Bradley, L.A. (1983): Coping with chronic disease: Definitions and issues. In: Burish, T.G.; Bradley, L.A. (Hg.), Coping with chronic disease. New York, 3-12

Faller, H. (1997): Subjektive Krankheitstheorien bei Patienten einer psychotherapeutischen Ambulanz, in: Zeitschrift für Klinische Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie 45, 264-78.

Hasenbring, M. (1990): Zum Stellenwert subjektiver Theorien im Copingkonzept. In: Hoefert, H.-W. (Hg.), Schmerzbehandlung. Psychologische und medikamentöse Interventionen. München, 161-176.

Kübler-Ross, E. (1971): Interviews mit Sterbenden. Stuttgart.

Lazarus, R. S.; Folkman, S. (1984): Stress, appraisal, and coping. New York.

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Quelle:
spektrum 1/2010, S. 23-24
Herausgeber: Der Präsident der Universität Bayreuth
Redaktion: Pressestelle der Universität Bayreuth, 95440 Bayreuth
Tel.: 09 21/55-53 23, -53 24, Fax: 09 21/55-53 25
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Internet: www.uni-bayreuth.de
 
"spektrum" erscheint dreimal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Oktober 2010

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