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ARTIKEL/499: Der Mythos vom gesunden Migranten (MaxPlanckForschung)


MaxPlanckForschung - 3.2011
Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft

Der Mythos vom gesunden Migranten

Text Tomma Schröder


Wenn es nach der amtlichen Statistik geht, garantiert ein Einwandererschicksal ein langes Leben, und das nicht nur in Deutschland. Offiziellen Zahlen zufolge übertrifft die Lebenserwartung von Migranten deutlich die ihrer einheimischen Mitbürger. Ob das an einem gesunden Leben oder an Fehlern bei der statistischen Erfassung liegt, ergründet Rembrandt Scholz, Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock.


Plötzlich kommt Bewegung in die Gestik von Rembrandt Scholz. Er lehnt sich zurück, kippelt auf dem Stuhl und steckt sich die Brille in die grauen Locken. Um seine Augen spielen Lachfältchen, als er durch Seiten mit schwarz-weißem Zahlenwust blättert. "Tabellen anzugucken", sagt er und muss ein wenig über sich selber schmunzeln, "macht mir Spaß." Vor allem, wenn sie viel zu erzählen haben.

Und die Tabellen, die der Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock vor sich liegen hat, haben einiges zu erzählen. Von Berlin. Und vom Leben. Denn das, so wissen die Zahlen, dauert in Zehlendorf deutlich länger als in Kreuzberg. Genauer gesagt: über acht Jahre. Während ein Neugeborener in Kreuzberg im Jahr 1994 mit durchschnittlich lediglich 65,5 Lebensjahren rechnen durfte, hatte ein wenige Kilometer weiter südwestlich geborener Junge im Schnitt fast 74 Jahre vor sich. Zum ersten Mal sah Rembrandt Scholz diese Ziffernkolonnen in den 1990er-Jahren, als er noch an der Berliner Charité arbeitete. Er hatte sie über die Gesundheitsverwaltung des Landes bekommen - als erster Wissenschaftler überhaupt. Eigentlich wollte sich der Demograf von diesen Zahlen erzählen lassen, wie die Lebenserwartung von sozioökonomischen Bedingungen abhängt: von Arbeitslosigkeit, von Durchschnittseinkommen, von Gesundheitsversorgung.


Widersprüchliche Zahlen wecken Zweifel

Doch ganz nebenbei erzählten ihm die Zahlen noch etwas anderes. "Da konnte etwas nicht stimmen", sagt Scholz und zeigt auf die Tabelle, die das Leben der Kreuzberger auf die erstaunlich kleine Zahl von 65,5 Jahren zusammenfasst. Denn gleichzeitig konnte Scholz aus den Daten entnehmen, dass in Kreuzberg der Ausländeranteil im Jahr 1994 bei über 30 Prozent lag.

Wo viele Ausländer wohnen, muss aber auch die Lebenserwartung recht hoch sein. Denn nach den offiziellen Daten der 16 Statistischen Landesämter haben Migranten in Deutschland eine sehr viel höhere Lebenserwartung als Einheimische. Eine Beobachtung, die oft als "healthy migrant effect", also als "Effekt des gesunden Migranten", zusammengefasst wird. Doch wenn das stimmt, wie kann ein Stadtteil, der einen so hohen Ausländeranteil hat, gleichzeitig eine so niedrige Lebenserwartung haben? "Ein Widerspruch." Die Augen von Rembrandt Scholz leuchten. Er mag diese Momente, "wenn man etwas findet, was es vorher nicht gab". Eine Spur, einen Hinweis, einen Widerspruch. "Wenn man so einen Zipfel zu fassen kriegt, dann freut man sich natürlich", sagt er. Seit dieser Entdeckung hat der Wissenschaftler ganz ordentlich an dem Zipfel gezogen. Das Geheimnis der langlebigen Migranten konnte er dabei zumindest in Teilen lüften.

Ein Migrant in Deutschland, der heute 65 Jahre ist, hat im Schnitt gerade mal gut zwei Drittel seines Lebens hinter sich. Denn immerhin darf er mit weiteren 30 Lebensjahren rechnen und erreicht damit ein Alter, das sogar den Rekordwert japanischer Frauen übersteigt. Einem gleichaltrigen Deutschen dagegen verbleiben im Schnitt gerade einmal die Hälfte, nämlich genau 15,6 Jahre. Das zumindest ergeben Berechnungen, die sich auf die Zahlen der Statistischen Landesämter stützen. Wissenschaftlich sauber ermittelt aus der Zahl Lebender und Verstorbener. Für jeden überprüfbar und nachrechenbar. Für diesen großen Unterschied zwischen einheimischer und zugewanderter Bevölkerung, der sich auch in vielen anderen Einwanderungsländern beobachten lässt, hat die Wissenschaft vier verschiedene Erklärungen. Die erste beruft sich auf den Effekt des gesunden Migranten. Demnach wandern vor allem solche Menschen ein, die gesundheitlich fit und belastbar sind, weil Kranke die Strapazen einer fremden Umgebung und Sprache gar nicht meistern könnten.

Einwanderungsgesetze verstärken den Effekt. So regelte etwa ein deutsch-italienisches Abkommen von 1956, dass Gastarbeiter aus Italien einen Gesundheitstest absolvieren mussten, bevor sie einwandern durften. Wer hier nicht bestand, kam gar nicht erst nach Deutschland. Weil dadurch nur die Gesunden einwanderten, sei auch die Lebenserwartung der Einwanderer höher als die der einheimischen Bevölkerung, so die Erklärung.


Ältere Menschen kehren oft an ihren Geburtsort zurück

Auch die zweite Theorie setzt bei der Gesundheit der Migranten an. Sie geht davon aus, dass viele Migranten dank ihrer Kultur einen gesünderen Lebensstil pflegen als die Bürger westlicher Industrienationen und Einwanderungsländer. So ergaben Studien in den USA, dass etwa Lateinamerikaner dort weniger Alkohol trinken als Amerikaner. Und für Migranten in Deutschland wurden die traditionelle Lebensweise und die unterstützende Rolle der Familie als wichtige Faktoren für ein längeres Leben ausgemacht.

Dem entgegen steht allerdings, dass Migranten viele Nachteile wie ein oft geringes Einkommen und schlechtere Bildungschancen haben. Daher wird auch noch eine ganz andere Erklärung für die hohe Lebenserwartung von Migranten angeführt: der Lachs-Fehler.

Die traditionelle Lebensweise und die unterstützende Rolle der Familie gelten als wichtige Faktoren für ein längeres Leben.

Wissenschaftlich korrekt nennt er sich eigentlich "Salmon Bias" und steht für ein bekanntes, allgemein menschliches Phänomen: "Es ist anscheinend ein tief verwurzelter Wunsch, als alter Mensch noch einmal die Heimat zu sehen", erklärt Rembrandt Scholz. Wie die Lachse, die zum Laichen immer wieder die Flüsse hinaufwandern bis zu dem Ort, an dem sie auf die Welt gekommen sind, zieht es auch Migranten zurück an den Ort ihrer Geburt - oft im Alter und krank.

Für mexikanische und lateinamerikanische Migranten in den USA wurde ein solcher Zusammenhang bereits nachgewiesen. Dort zeigten Studien, dass sich Einwanderer, die in ihr Heimatland zurückgekehrt waren, in einem schlechteren Gesundheitszustand befanden als in den USA gebliebene Migranten. Da die kranken oder sehr alten Immigranten wieder auswandern, steigt somit die durchschnittliche Lebenserwartung der im Land bleibenden Einwanderer.


Die Statistik ist der ideale Ort für ewiges Leben

Ähnlich könnte es auch in Deutschland sein, meint Scholz. Und er vermutet hinter dem Lachs-Fehler sogar noch mehr: "Häufig ist es so, dass ältere Menschen, die nur für kurze Zeit in die Heimat reisen wollten, tatsächlich auch dort sterben." Ein Umstand, der es nicht immer bis in die deutsche Meldestatistik schafft. Dort lebt der Migrant stattdessen noch eine ganze Zeit lang weiter und erreicht vielleicht ein hohes Alter, bevor eine Verwaltungsstelle merkt, dass es den in der Statistik geführten Menschen gar nicht mehr gibt.

Und damit ist Rembrandt Scholz auch schon beim vierten und letzten Erklärungsansatz, der für ihn der plausibelste ist. Und der besagt: Migranten in Deutschland werden gar nicht älter als die einheimische Bevölkerung. Die unheimlich hohe Lebenserwartung, die sich rechnerisch für Migranten ergibt, ist schlichtweg auf Datenfehler zurückzuführen. Kein Mysterium, sondern ein Mythos.

Das könnte auch erklären, warum die durchschnittliche Lebenserwartung für Kreuzberger so niedrig ist, obwohl sehr viele der dortigen Bewohner Ausländer sind, die laut der bundesweiten Statistik ein fast biblisches Alter erreichen müssten. Die Berliner Daten wären dann einfach weniger fehlerhaft, aktueller und genauer als die Daten für ganz Deutschland. Doch wie kommt es zu dem Mythos des langlebigen Migranten, zu den Fehlern in den bundesweiten Daten? Dass die offizielle Statistik immer eine gewisse Fehlerquote enthält, damit müssen und können Demografen leben und umgehen. Doch Fehler, die sich auf eine um mindestens 15 Jahre überschätzte Lebenserwartung aufsummieren?

Rembrandt Scholz hält das durchaus für möglich. Denn die gemeldeten Zahlen können nur richtig sein, wenn die Bürger sie wahrheitsgemäß melden. Doch für viele Migranten gibt es gute Gründe, gewisse Dinge lieber zu verschweigen. "Einwanderer, die nicht aus der EU stammen, verlieren 30 Prozent ihrer Rentenansprüche, wenn sie in ihre Heimat zurückgehen", nennt Scholz ein Beispiel. Viele Migranten melden sich deshalb gar nicht ab, wenn sie aus Deutschland weggehen, und können so theoretisch ein ewiges Leben führen - zumindest in der deutschen Statistik. Ähnlich ist das bei Migranten, die zwar für gewisse Zeit in ihr Heimatland zurückkehren, sich aber aus Angst, das Recht auf Einbürgerung zu verlieren, nicht abmelden.

Und nicht zuletzt ist da eben auch die Krux mit den Namen. Für ausländische Namen gibt es im Deutschen oft die vielfältigsten Schreibweisen. Und so kann es schnell passieren, dass ein Mensch gleich zwei oder drei Namen und damit auch Identitäten im Melderegister hat. Wenn dieser Mensch dann stirbt, leben seine weiteren Identitäten auf unbestimmte Zeit in den Registern weiter. Das sind die sogenannten Karteileichen. Ein genauso beständiges wie unangenehmes Übel, das Demografen immer und überall begleitet. Besonders zahlreich sind diese Karteileichen in den Daten der Menschen mit hohem Alter vertreten, weil sich dort im Laufe der Zeit immer mehr Fehler ansammeln. "Solche Karteileichen", sagt Rembrandt Scholz, "können ja auch nicht sterben."


Gesetz verhindert den Nachweis von Fehlern

Dass sie sich so schlecht aus den Statistiken entfernen lassen, sei allerdings nicht die Schuld der amtlichen Statistiker, sagt der Demograf. Sie können und dürfen Einzelfälle gar nicht korrigieren - das ist in Deutschland qua Gesetz so vorgegeben: Die amtliche Statistik behandelt nämlich prinzipiell nur anonymisierte Daten. Sie kennt nur Fallnummern, keine Namen.

Personenbezogene Angaben verarbeiten nur die Melderegister und Standesämter, also die kommunale Verwaltung in den Gemeinden und Stadtteilen, die noch nicht zur amtlichen Statistik gehört. Diese beginnt erst mit den vom Verwaltungsvollzug getrennten Statistikstellen auf Kreis- oder Stadtebene, an die die Register und Standesämter ihre Daten nur anonymisiert und kumuliert abgeben: Rückverfolgung des Einzelfalls ausgeschlossen. Änderungen der Register sind selbst dann gesetzlich verboten, wenn sich in den Summen der amtlichen Statistik durch mathematische Methoden Fehler und Ungereimtheiten nachweisen lassen.


Revision offenbart mehr als 500.000 Karteileichen

Ein System, das dem Datenschutz dienen und die amtliche Statistik unabhängig machen soll. Die Kehrseite der Medaille: Fehler in Daten der amtlichen Statistik summieren sich immer weiter auf. Einmal, wenn Statistische Landesämter die anonymen Daten ihrer Städte und Kreise summieren, und dann noch einmal, wenn das Statistische Bundesamt die Kolonnen der Länder zusammenfasst. Aktuell bleiben die Zahlen der jeweiligen Gliederungsebene nur durch die sogenannte Fortschreibung: Die kumulierten Veränderungen der Zahlen - je nach Entwicklung positiv oder negativ - werden zum letzten Bestand einfach addiert. Fehler, die einmal im System sind, bleiben so für immer im System.

Deswegen war die Revision des Ausländerzentralregisters (AZR) für Rembrandt Scholz ein Glücksfall. Von 2000 bis 2003 glich man hier die eigenen Daten ab mit denen der regionalen Meldeämter, der Sozialämter und anderen Behörden. Im AZR ist dies möglich, da es nicht unter den strengen Datenschutz derselben Gesetze fällt wie die amtliche Statistik. Allein durch die Identifizierung doppelter Personen konnten mehr als eine halbe Million sogenannter Karteileichen entdeckt werden, erzählt Scholz.

Er bekam alle AZR-Angaben zu Geschlecht, Alter, Nationalität, Einreise- und Ausreisedaten der Registrierten zur Verfügung gestellt. Zwar waren diese Daten komplett anonymisiert, wie immer, wenn die Wissenschaft mit amtlichen Zahlen forscht. Dafür erhielt Scholz aber gleich zwei Datensätze: Einen vom Zustand vor und einen vom Zustand nach der Revision. Ein einmaliger Einblick in die Fehlerquellen dieser Statistik. "Und da habe ich mir gedacht: Jetzt habe ich etwas, jetzt muss ich daraus auch etwas machen", erzählt er. Und er machte etwas daraus.

Hatte die Lebenserwartung für Ausländer, die Scholz aus der offiziellen Statistik berechnet hatte, noch bei 96,5 Jahren für Männer gelegen, so ergab sich aus den Daten des Ausländerzentralregisters (AZR) eine ganz andere Zahl: 80,8 Jahre. Das ist zwar immer noch mehr, als deutsche Männer zum gleichen Zeitpunkt (2004) vom Leben erwarten durften. Aber mit 4,6 Jahren ist der Unterschied wesentlich geringer. Beim Abgleich zwischen den Daten des AZR und des Bundesamtes für Statistik fiel gerade bei den älteren Migranten über 80 auf, dass bis zu 20 Prozent der in der Statistik geführten Menschen gar nicht mehr in Deutschland lebten. Und auch für jüngere Altersgruppen von null bis 65 zeigte sich, dass bis zu zehn Prozent der statistisch erfassten Ausländer nicht anwesend waren.


Errechnete Sterbedaten vermutlich zu hoch

Weil solche Fehler in der offiziellen Statistik nie bereinigt wurden, sind die Daten des AZR wesentlich genauer. Sie zeigen, so Scholz, wie sehr die Daten aus der offiziellen Statistik von der Realität abweichen. Vermutlich aber, meint der Demograf, sei die errechnete Lebenserwartung für die Migranten auch in den Daten des Ausländerzentralregisters noch zu hoch. Schließlich hätten sich nicht alle Behörden an der Revision der Daten in gleicher Weise beteiligt.

Dass die Lebenserwartung von Migranten im Gegenteil sogar geringer sein könnte als die der einheimischen Bevölkerung, darauf deutet eine andere Untersuchung hin. Gemeinsam mit seiner Kollegin Eva Kibele vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung hat Scholz auch Daten der Deutschen Rentenversicherung Bund (DRV) ausgewertet. Hier werden zwar nicht alle Ausländer erfasst, weil nicht alle Rentenansprüche haben. Dafür sind die erfassten Daten sehr präzise. Denn hier geht es nicht nur um Statistik. Hier geht es um Geld. Wer stirbt, bekommt keine Rente mehr. Und da wird ganz genau hingesehen. Zum Beispiel mithilfe von sogenannten Lebensbescheinigungen. Wer im Ausland wohnt und Rente bezieht, muss dies von amtlicher Stelle beglaubigte Dokument einmal im Jahr bei der DRV einreichen. Nur wenn hierin bestätigt wird, dass der "Rentenempfänger lebt", fließt die Rente weiter regelmäßig auf das Konto.


Viele Melderegister verfälschen Erhebungen

Für die deutsche Bevölkerung sind die Sterbe- und Bevölkerungszahlen der DRV denen der amtlichen Statistik sehr ähnlich. Für die circa 130.000 Migranten ohne deutsche Staatsbürgerschaft, die in den Rentendaten erfasst waren, aber gilt das nicht. Hier sind nicht nur 33 Prozent weniger Ausländer erfasst, es gibt auch 33 Prozent mehr Sterbefälle als in der offiziellen Statistik. Werden diese Daten als Grundlage genommen, liegt die Lebenserwartung von 65-jährigen Ausländern nicht mehr bei weiteren 30 Jahren, sondern gerade mal bei der Hälfte, bei genau 15 Jahren. Damit hätten Ausländer sogar etwas weniger verbleibende Lebenszeit als die deutschen 65-Jährigen (15,6 Jahre).

"Wir tun immer so, als wenn wir alles wüssten, dabei könnte die Statistik sehr viel besser sein", meint Scholz mit Blick auf die sehr unterschiedlichen Ergebnisse. Diese Schwierigkeiten, die man in Deutschland mit der Erfassung von Migranten hat, gebe es zwar auch in anderen Ländern. Die Deutschen seien im Vergleich sogar sehr gründlich, weiß Rembrandt Scholz. Doch die vielen verschiedenen Melderegister in Deutschland hält der Demograf für problematisch - es sind fast 13.000. Viele kommunale Einheiten haben ihr eigenes Melderegister und oft auch eine eigene Software. "Ich möchte nicht wissen, wie viele Fehler da passieren", sagt Scholz, der für ein zentral geführtes Register plädiert.

Zudem hätten gerade die Gemeinden oft kein besonders großes Interesse daran, ihre Melderegister aktuell zu halten. Zumindest wenn es um Abmeldungen geht. Denn Karteileichen bringen den Kommunen Geld. Oft sogar dem Bürgermeister. Seine Gehaltskategorie, so Scholz, steige ebenso mit der Zahl der Einwohner wie die Finanztransfers an die Gemeinde. "Da gibt es Bürgermeister, die eine Anweisung herausgeben, dass keine Abmeldungen von Amts wegen durchgeführt werden." Genau das aber sollte eigentlich passieren, wenn ein Meldeamt feststellt, dass eine in der Statistik geführte Person nicht mehr anwesend ist.


"Wir sind verantwortlich für die, die zu uns kommen"

Nach dem laufenden Zensus könnte es einige Karteileichen weniger geben. Und damit für so manchen Bürgermeister Korrekturen seiner Einwohnerzahlen. "Ich freue mich schon darauf nachzurechnen", sagt Rembrandt Scholz. Ob die Volkszählung in diesem Jahr aber helfen wird, das Mysterium des langlebigen Migranten restlos und endgültig aufzuklären, ist fraglich. Auch der letzte Zensus im Jahr 1987 sorgte zwar für bessere Daten. In der Rückschau und im Vergleich mit den Daten des Ausländerzentralregisters und der Deutschen Rentenversicherung hält Scholz die damals ermittelte Lebenserwartung, die gut fünf Jahre über jener der einheimischen Bevölkerung lag, aber noch immer für zu hoch. "Register neigen immer dazu, zu viele Meldungen anzuhäufen und so Verstorbene und Abgewanderte in den Amtsbüchern lebendig und vor Ort zu behalten", erklärt er.

Zahlen erzählen viele Geschichten. Aber sie können auch täuschen. "Wir haben immer nur das Endergebnis", sagt Scholz. "Und wir denken vom Ergebnis zurück." Dass er dabei über Karteileichen stolpert, Datenfehler und statistische Artefakte, die jenseits aller Realität liegen, aufspüren muss, spornt den Demografen an. "Man muss für diese Arbeit brennen", sagt er. Oder etwas anders formuliert: "Man muss sich konzentrieren und sich so lange durchs Datendickicht schlagen, bis es sich lichtet."

Bei der hohen Lebenserwartung der Migranten liegt einiges im Dunkeln, glaubt Scholz. Er vermutet, dass es zwar so etwas wie den Effekt des gesunden Migranten gibt, dass dieser aber von anderen Aspekten, wie der schlechteren gesellschaftlichen und ökonomischen Stellung, aufgewogen wird. "Ausländer sind in der Lebenserwartung vermutlich eher benachteiligt", fasst der Demograf zusammen, "weil ihr sozioökonomischer Nachteil länger wirkt als der eher kurzfristige Effekt, gesund eingewandert zu sein." Er hofft, dass es in den kommenden Jahren gelingen wird, die Lebenserwartung von Migranten genauer zu bestimmen und auch nach Nationalitäten aufzuschlüsseln. "Schließlich", sagt Scholz, "sind wir verantwortlich für die, die zu uns kommen."


GLOSSAR

Statistisches Bundesamt
Stellt der Politik, der Wirtschaft, aber auch der breiten Öffentlichkeit Statistiken zu so unterschiedlichen Themen wie Bevölkerungsentwicklung, Ein- und Ausfuhren oder Energieversorgung zur Verfügung.

Healthy Migrant Effect
Der Effekt des gesunden Migranten gibt eine mögliche Erklärung, warum die Lebenserwartung von Einwanderern offiziellen Statistiken zufolge höher ist als die der einheimischen Bevölkerung. Demnach liegt das daran, dass nur gesunde Menschen auswandern, weil nur sie in der Lage sind, sich in einem fremden Land eine neue Existenz aufzubauen.

Ausländerzentralregister
Wird vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge geführt und umfasst mehr als 23 Millionen Datensätze aller Ausländer mit einem Aufenthaltstitel, der ihnen den befristeten oder unbefristeten Aufenthalt in Deutschland erlaubt, sowie aller Menschen, die Asyl beantragen, beantragt oder erhalten haben.

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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 32:
Statistische Vergreisung: Einwanderer in Deutschland werden nicht wegen ihrer gesunden Ernährung fast 15 Jahre älter als die Deutschen - sondern wegen falscher Zahlen.

Grafiken S. 34:
Fehler im Datenmaterial: Die Abbildungen zeigen, dass hier etwas nicht stimmen kann. Während die Sterberaten der amtlichen Bevölkerungsstatistik und der DRV-Rentenstatistik bei Deutschen nahezu kongruent verlaufen, gehen die Zahlen bei Ausländern deutlich auseinander. In den Rentendaten sind nicht nur 33 Prozent weniger Ausländer erfasst als in der amtlichen Statistik, es gibt zudem 33 Prozent mehr Sterbefälle.

Abb. S. 35:
Aus vier mach eins: Migranten haben teilweise mehrere Identitäten in Melderegistern. Grund dafür sind die verschiedenen Möglichkeiten, ausländische Namen zu schreiben. Stirbt ein Migrant, der mehrfach im Melderegister eingetragen ist, kann es passieren, dass einige seiner Identitäten weiterleben.

Grafik S. 36:
Verwirrende Zahlen: Während die statistische Lebenserwartung bei Deutschen kontinuierlich steigt, unterliegt sie bei Migranten starken Schwankungen. 1986 geborene, ausländische Frauen etwa durften damit rechnen, 100 Jahre zu leben - deutsche Frauen zu diesem Zeitpunkt 26 Jahre weniger. 1988 geborene Ausländerinnen sollten hingegen nur 80 Jahre auf der Welt bleiben.

Abb. S. 37 oben:
"Wir tun immer so, als wenn wir alles wüssten, dabei könnte die Statistik sehr viel besser sein." Demograf Rembrandt Scholz vermutet, dass Ausländer in der Lebenserwartung - entgegen den Ergebnissen der amtlichen Statistik - sogar eher benachteiligt sind.

Grafiken S. 37 unten:
Laut amtlicher Statistik liegt die durchschnittliche Lebenserwartung für deutsche Männer bei der Geburt bei 76,18 Jahren. Haben sie bereits ein Alter von 65 oder 85 Jahren erreicht, verbleiben ihnen im Schnitt weitere 16,58 oder 5,65 Restlebensjahre; bei ausländischen Männern liegen diese Zahlen deutlich höher (links). Die Daten des Ausländerzentralregisters (AZR) zur Lebenserwartung unterscheiden sich bei Migranten stark von denen der amtlichen Statistik.

Abb. S. 38:
Der Lachs-Effekt: Es ist ein typisches Phänomen, dass es Menschen im Alter in die Heimat zurückzieht. Manche sterben dort, doch in deutschen Registern leben sie weiter und fördern so den Mythos vom gesunden Migranten.

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Quelle:
MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftmagazin
der Max-Planck-Gesellschaft, 3.2011, S. 32-38
Hrsg.: Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der
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Das Heft als PDF: www.magazin-dt.mpg.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Dezember 2011

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