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GEWALT/209: Hilfe nach sexueller Gewalt - Interview mit dem Gynäkologen Prof. Dietrich Berg (idw)


Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e.V. - 07.10.2010

Einfühlsame und professionelle Hilfe nach sexueller Gewalt

Interview mit dem Gynäkologen Professor Dietrich Berg aus Amberg am 7. Oktober 2010 auf dem 58. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) in München


Frage:
Etwa jede siebte Frau ist bereits mindestens einmal Opfer sexueller Gewalt geworden(1). Viele Frauen erzählen jedoch aus Scham niemandem von so einem Erlebnis. Wie hoch schätzen Sie die Dunkelziffer ein?

Antwort:
Die Dunkelziffer dürfte beträchtlich sein. Die Frauen haben oftmals große Hemmungen, über ihre Erlebnisse zu sprechen, weil sie sich schämen, weil sie befürchten, dass ihnen niemand glauben schenkt und weil sie Angst vor mangelndem Verständnis haben.

Frage:
Was kann Frauen diese Ängste nehmen und sie veranlassen, Hilfe zu suchen?

Antwort:
Alle Frauen müssen wissen, dass ihre Gynäkologin bzw. ihr Gynäkologe ihnen helfen kann. Diese Ärzte sind den Betroffenen meistens seit Jahren vertraut und zudem praktisch die "Hausärzte der Frauen". Die Ärzte müssen intuitiv spüren, ob einer Patientin vielleicht Gewalt angetan wurde. Sie müssen im Verdachtsfall sensibel nachfragen und den Frauen mit Einfühlungsvermögen begegnen. Gynäkologen sind fachlich prädestiniert, traumatisierte Frauen zu betreuen, helfen dabei aber nicht nur bei rein medizinischen Fragestellungen, sondern bieten auch Beistand und Beratung nach traumatischen Erlebnissen. Frauenärzte wissen zudem, welche Hilfsangebote es gibt und kennen die Adressen von Frauenhäusern, Frauennotrufen und Beratungsstellen.

Frage:
Immer wieder hört man von Tätern, die Frauen mit Hilfe so genannter K.O.-Tropfen betäuben. Wann sollte eine Frau zum Arzt gehen?

Antwort:
Nach sexueller Gewalt unter dem Einfluss von K.O.-Tropfen treten Gedächtnislücken auf. Die Frauen trauen dann ihren eigenen Erinnerungen nicht. Es fehlen aufgrund des Betäubungszustandes meistens auch Abwehrverletzungen oder genitale Verletzungen. Wenn aber die Kleidung der Frau in Unordnung ist, beispielsweise ein Kleidungsteil falsch herum angezogen, sollten sofort die Warnglocken läuten: Da könnte etwas passiert sein. Im Zweifelsfalle sollte die Frau möglichst schnell ihren Frauenarzt aufsuchen. Dieser kann betäubende Substanzen noch bis zu 12 Stunden nach der Verabreichung nachweisen und DNA-Spuren analysieren.

Frage:
Welche medizinischen Folgen kann sexuelle Gewalt haben?

Antwort:
Vergewaltigungen, auch versuchte Vergewaltigungen, können genitale Verletzungen verursachen. Weitere Folgen sind eine Schwangerschaft oder sexuell übertragbare Erkrankungen. Es ist wirklich wichtig, dass eine Frau, der Gewalt angetan wurde, möglichst schnell zu ihrem Gynäkologen geht, um einer ungewollten Schwangerschaft und Infektionen vorzubeugen. Es sind anschließend auch Kontrolluntersuchungen notwendig, da einige Infektionen längere Zeit bis zu ihrem Ausbruch benötigen.

Frage:
Möglicherweise gehen sie nicht zum Arzt, weil sie gar keine Anzeige erstatten wollen, zumal ja viele Täter Partner oder Ex-Partner sind...

Antwort:
Zunächst einmal behandeln Gynäkologen Frauen nach sexueller Gewalt ganz unabhängig davon, ob eine Anzeige erstattet werden soll, oder nicht. Ärzte unterliegen der Schweigepflicht. Es ist ihnen nicht erlaubt, nicht einmal bei wirklich ernsten Gewaltanwendungen, rechtliche Schritte zu unternehmen. Es besteht keine Anzeigepflicht. Ob Anzeige erstattet werden soll, liegt allein im Ermessen der Frau. Auf Wunsch der Frau heben Gynäkologen aber Untersuchungsbefunde und Proben auf, so dass Beweise vorliegen, sollte sie später doch Anzeige erstatten wollen.

Frage:
Geht die betroffene Frau sofort zur Polizei, wird sie von dieser zum Gynäkologen begleitet. Hat das einen Einfluss auf die Schweigepflicht des Arztes?

Antwort:
Bei einer von der Polizei beauftragten ärztlichen Untersuchung besteht tatsächlich keine ärztliche Schweigepflicht. Der Arzt muss alle Informationen zum Geschehen an die Polizei weitergeben. Eine Schweigepflicht bei von der Polizei beauftragten Untersuchungen besteht nur, wenn die Patientin zur Aussageverweigerung berechtigt ist, weil sie mit dem mutmaßlichen Täter verwandt oder verschwägert ist.

Frage:
2009 hat die DGGG eine Leitlinie(2) erarbeitet, die Gynäkologen die Gesprächsführung und Nachbetreuung von Frauen nach sexueller Gewaltanwendung erleichtert. Was ist das Besondere an Ihren Empfehlungen?

Antwort:
Die Arbeitsgruppe Medizinrecht der DGGG hat bei der Erstellung dieser Leitlinie ärztliche, psychologische, rechtliche und polizeiliche Aspekte berücksichtigt. Wir haben dabei ein großes Augenmerk auf die juristischen Fragestellungen gelegt. Das ist für Gynäkologen eine große Hilfe, die sich als Hausärzte für die Frau eben nicht nur um rein medizinische Belange kümmern.

Mit der Leitlinie haben wir unseren Kolleginnen und Kollegen ein nützliches Werkzeug gegeben, professionell und dabei dennoch in hohem Maße einfühlsam mit traumatisierten Frauen umzugehen.



Quellen:

(1) Schröttle, Monika/Müller, Ursula (2004):
Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland.
Im Auftrag des Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
www.bmfsfj.de

(2) Ärztliche Gesprächsführung, Untersuchung und Nachbetreuung von Frauen nach mutmaßlicher sexueller Gewaltanwendung.
Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) (2009).
www.dggg.de

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung:
http://idw-online.de/pages/de/institution660


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e.V.
Petra von der Lage, 07.10.2010
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Oktober 2010