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HINTERGRUND/168: Komponist unter wechselnden Vorzeichen (idw)


Julius-Maximilians-Universität Würzburg - 10.05.2011

Komponist unter wechselnden Vorzeichen


Wie reagiert ein Komponist, wenn sein bevorzugter Stil plötzlich nicht mehr erwünscht ist? Spiegeln sich die Entstehungsbedingungen in der Musik wider? Diese Fragen hat der Musikwissenschaftler Christian Lemmerich in seiner Doktorarbeit untersucht. Den geeigneten Kandidat dafür hat er in Würzburg gefunden.

Als Winfried Zillig 23 Jahre alt war, stand er am Beginn einer vielversprechenden Karriere als Komponist und Kapellmeister. Der gebürtige Würzburger hatte in seiner Heimatstadt Rechtswissenschaften und Musik studiert - unter anderem bei Hermann Zilcher. Im Anschluss daran wurde er Schüler von Arnold Schönberg in dessen Meisterklasse an der Berliner Akademie der Künste. 1927 ging er als Assistent des berühmten Dirigenten Erich Kleiber an die Berliner Staatsoper und wechselte von dort über eine Zwischenstation in Oldenburg an das Düsseldorfer Opernhaus.

Als Winfried Zillig 27 Jahre alt war, übernahmen die Nationalsozialsten in Deutschland die Macht, und plötzlich war Zilligs Musik - die maßgeblich von Arnold Schönberg entwickelte Zwölftonmusik - wenn auch nicht verboten, so doch verpönt.


Ein neuer Forschungsansatz

Wie reagiert ein Komponist auf solch gravierende Einflüsse von außen? Welche Spuren hat die NS-Herrschaft in Zilligs Kompositionen hinterlassen? Lassen sich überhaupt solche Spuren finden? Oder, allgemeiner formuliert: In welchem Verhältnis steht Musik zu den Entstehungsbedingungen?

Diesen Fragen ist der Würzburger Musikwissenschaftler Christian Lemmerich in seiner Doktorarbeit nachgegangen. Vor Kurzem hat er das Werk der Öffentlichkeit präsentiert - und gleich zwei Preise dafür ausgesprochen bekommen: den Förderpreis 2011 der Erich-Schulze-Stiftung an der Universität Marburg und den Preis der unterfränkischen Gedenkjahrstiftung, den die Regierung von Unterfranken am 11. Mai verleihen wird.

Keine Frage: Die Geschichte des "Dritten Reichs" ist intensiv erforscht. Auch über die Musik aus dieser Zeit gibt es jede Menge Arbeiten. Nur: "Die musikhistorische und die werkbezogene Forschung waren bisher ganz weitgehend getrennt", sagt Christian Lemmerich. Soll heißen: Untersuchungen darüber, welche Spuren der Nationalsozialismus in den Werken damals lebender Komponisten hinterlassen hat, gebe es so gut wie keine.

Winfried Zillig sei für eine Arbeit, die diese beiden Aspekte in sich vereint, ein geeigneter Kandidat gewesen, so Lemmerich. Der Komponist, 1905 geboren, war als Schüler Schönbergs musikalisch "auf der Höhe der Zeit"; am Beginn seiner Karriere stehend, wurde er über Nacht mit drastischen Veränderungen konfrontiert, auf die er reagieren musste. Von daher eigne er sich als "gutes Exempel", stellvertretend auch für andere Komponisten.


Konträre Reaktionen in einer Person vereint

Zillig musste nicht das Land verlassen, um sein Leben zu retten - so wie Arnold Schönberg und viele andere Musiker in dieser Zeit. Er ging auch nicht freiwillig ins Exil, um dort ungestört "seine" Musik komponieren zu können.

Zillig wählte einen anderen Weg, den Lemmerich mit dem Stichwort von der "Gleichzeitigkeit der Phänomene" beschreibt.

"Anpassen" heißt das erste dieser Phänomene: "Zillig orientierte sich in seinen Kompositionen am Geschmack der Mächtigen", sagt der Musikwissenschaftler. Er schrieb beispielsweise Filmmusik und Schauspielmusiken; er komponierte Opern und hatte damit auch große Erfolge.

Überraschenderweise zeigt Lemmerichs Analyse dieser Werke, dass es Zillig dabei häufig gelang, seine bevorzugte Kompositionstechnik weiter zu verwenden und trotzdem keinen Anstoß zu erregen: "Er hat zwar die Zw ölfton-Technik verwendet, diese aber so kaschiert, dass man es nicht hört." Auf diese Weise konnte er sich und seinem Lehrer Schönberg treu bleiben und gleichzeitig dem Publikum und den Machthabern gefallen.

"Andienen ans Regime": So nennt Lemmerich das zweite Phänomen, das Zilligs Verhalten während des "Dritten Reichs" charakterisiert. Beispielsweise bewarb er sich mit einer Komposition für die Feierstunde am (wegen des Kriegsbeginns später abgesagten) Reichsparteitag 1939; in einem Fahnenlied von ihm heißt es "Tausend Jahre dumpfes Sehnen wettert aus dem roten Tuch, Blut und Untergang und Tränen, Rauch und Trümmer, Leid und Haß und Fluch"; im Auftrag der Nationalsozialistischen Kulturgemeinde schuf er mehrere Werke.

Und dann das glatte Gegenteil - das dritte Phänomen: Schreiben für die Schublade. So komponierte Zillig intime, introvertierte und keineswegs dem Zeitgeist der frühen 1940er-Jahre entsprechende Lieder, die Theodor W. Adorno sogar mit Werken von Mahler und Schönberg verglich, die aber in dieser Zeit nicht zur Aufführung gelangen konnten.


Ein Opfer der Umstände

Wie geht das: Drei so unterschiedliche Seiten in einer Person zu vereinen? Und wie war es Zillig möglich, nach 1945 quasi ohne Unterbrechung seine Karriere sowohl als Komponist als auch als Dirigent fortzusetzen? "Zillig sah sich als ein Opfer der Umstände", sagt Christian Lemmerich. Seinen Briefen, die er auch während der NS-Zeit regelmäßig an den im Exil lebenden Arnold Schönberg schrieb, sei glaubhaft sein Leiden an diesen Umständen zu entnehmen. Auch der genaue Blick in die Kompostionen legt nach Ansicht des Musikwissenschaftlers offen, dass Zillig aus seiner eigenen Perspektive immer authentisch gehandelt habe und sich deshalb keiner Schuld bewusst geworden sei.

In dieser Ansicht sieht sich der Komponist auch bestätigt, als er schon wenige Monate nach Kriegsende erfolgreich den Prozess der Entnazifizierung durchläuft. Und so kann Zillig bereits im Herbst 1945 im Radio Salzburg wieder ein Konzert geben; auf seinen Programmen dieser Zeit stehen Werke von noch vor Kurzem verfemten Komponisten wie Gustav Mahler, Arnold Schönberg und Alban Berg.

"Für Zillig hat sich letztlich alles bestens gefügt", lautet denn auch das Resümee des Musikwissenschaftlers. Es bleibe die Erkenntnis, dass der Komponist in der NS-Zeit in einer Art vorauseilendem Gehorsam jeglichen Anschein einer Provokation strikt vermieden und nach 1945 sein Handeln nie kritisch hinterfragt habe - insofern ein durchaus typisches Fallbeispiel, dessen Vielschichtigkeit nun aber dank der Untersuchung der Kompositionen viel differenzierter ausfallen müsse.


In Vergessenheit geraten

Viele Wochen hat Christian Lemmerich in der Münchner Staatsbibliothek verbracht, wo der Nachlass Winfried Zilligs lagert. Viele tausend Seiten Notenmanuskripte hat er einer musikalischen Analyse unterzogen und dabei deutliche Spuren eines Anpassungsprozesses gefunden: "In Zilligs Kompositionen findet sich alles - von der beinahe vollständigen Verleugnung der Zwölfton-Musik in der Nazi-Zeit bis zu reinster Zwölftontechnik", sagt er.

Etwa 350 Kompositionen umfasst Zilligs Werk, darunter viel Musik für Hörspiele und Filme. Das "künstlerisch relevante Werk" ist nach Lemmerichs Worten bedeutend kleiner. Bis zu Zilligs Tod im Jahr 1963 seien seine Stücke häufig aufgeführt worden, danach sei er jedoch in Vergessenheit geraten.

Zilligs Verhalten während des "Dritten Reichs" ist vermutlich der Grund dafür, dass heute kaum eines seiner Werke im Radio oder Konzertsaal zu hören ist. "Man scheint die Auseinandersetzung mit einem solchen uneindeutigen Fall zu scheuen", vermutet Lemmerich. Eine Aufführung ohne begleitende Beschäftigung mit dem historischen Hintergrund hält er jedenfalls für kaum denkbar. Gut möglich, dass seine Doktorarbeit dafür nun die Grundlage gelegt hat.


Zur Person

Christian Lemmerich hat von 1991 bis 1999 die Fächer "Schulmusik" und "Klavier" an den Musikhochschulen in Würzburg und Freiburg sowie Musikwissenschaft, Germanistik und Erziehungswissenschaft an den Universitäten Würzburg, Freiburg und Basel studiert.

Von 2002 bis 2010 hatte er einen Lehrauftrag für Musikalische Analyse und Musikgeschichte an der Musikhochschule Würzburg inne. Von 2005 bis 2009 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter in dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsprojekt "'Komponieren' in Deutschland während der 1930er und 1940er Jahren, dargestellt am Werk Winfried Zilligs". 2010 wurde er mit der Dissertation "Winfried Zillig. Komponist unter wechselnden Vorzeichen" promoviert.

Seit 2010 ist er als Akademischer Rat am Institut für Musikforschung der Universität Würzburg (Lehrstuhl für Musikwissenschaft I, Professor Ulrich Konrad) tätig.

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution99


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Gunnar Bartsch, 10.05.2011
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Mai 2011