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HINTERGRUND/230: Vor 150 Jahren starb Gioacchino Rossini (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2018

Der missverstandene Meister
Vor 150 Jahren starb Gioacchino Rossini

von Hanjo Kesting


Im Frühjahr 1822, als Wien von einem heftigen Rossini-Fieber erfasst war, besuchte der gerade 30-jährige Komponist den alten und fast tauben Ludwig van Beethoven, der damals sein Werk Missa solemnis komponierte. Robert Schumann hat über die denkwürdige Begegnung später bemerkt: "Der Schmetterling kreuzte den Weg des Adlers, aber dieser wich zur Seite aus, um ihn nicht durch das Schlagen seiner Schwingen zu zerdrücken."

Schumanns Bild vom Schmetterling war symptomatisch für die schon damals aufkeimende Geringschätzung Gioacchino Rossinis in Deutschland, zumindest bei seinen führenden Komponisten, wenn sie auch nicht frei war von neidvollem Ressentiment gegen den vom Erfolg verwöhnten Italiener. Neben Beethoven, dem Titanen der absoluten Musik, konnte der Theatermusiker Rossini nur wie ein virtuoses Talent erscheinen, das seine musikalische Kunst mit dem gleichen Geschmack und Genuss ausübte wie seine legendäre Kochkunst. Dabei soll Beethoven den italienischen Gast mit den Worten begrüßt haben: "Ah, Sie sind Rossini, der Komponist des Barbier von Sevilla. Ich beglückwünsche Sie dazu, es ist eine ausgezeichnete opera buffa. Ich habe sie mit Vergnügen gelesen und mich darüber gefreut." Die Äußerung ist nicht gesichert, sie wurde fast ein halbes Jahrhundert später zu Papier gebracht, anlässlich einer Begegnung Rossinis mit Richard Wagner in Paris. Plausibler ist, was der Komponist Ferdinand Hiller als Erinnerung Rossinis an die Begegnung überliefert hat: "Während meines Aufenthaltes in Wien habe ich mich (...) Beethoven vorstellen lassen; aber bei seiner Taubheit und meiner Unkenntnis der deutschen Sprache war kein Gespräch möglich. Ich freue mich, ihn wenigstens gesehen zu haben."

Rossini war ein Verehrer Beethovens, aber die deutsche Musikpublizistik neigte in der Nachfolge Schumanns dazu, ihn allenfalls als Meister des leichten Genres anzuerkennen, als Genie der Leichtigkeit und des Leichtsinns. Dieses Rossini-Bild ist bis heute bestimmend geblieben. Der englische Rossini-Biograf Richard Osborne schrieb im Vorwort seines 1986 erschienenen Buches über den italienischen Komponisten: "Trotz der enormen Popularität einer Handvoll seiner Werke kann Rossini für sich in Anspruch nehmen, der am meisten vernachlässigte und von Grund auf missverstandene der großen Komponisten des neunzehnten Jahrhunderts zu sein." Das könnte die stereotype Floskel eines Biografen sein, der dem Gegenstand seiner Arbeit Bedeutung und Beachtung sichern möchte. Aber auch der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus nannte Rossini eine der beiden musikalischen Portalfiguren des 19. Jahrhunderts und stellte ihn in seiner musikhistorischen Wirkung gleichberechtigt neben Beethoven. Wäre das Rossini-Bild demnach zu revidieren? War er doch mehr als ein verwöhntes Weltkind und routinierter Verfertiger extravaganter Opernkulinarik? Richard Osborne nannte ihn "eine absonderliche Mischung aus Leutseligkeit und Reserviertheit, Geschäftigkeit und Indolenz, Witz und Melancholie, um nur einige Widersprüchlichkeiten zu nennen".

Wer sich für Rossini interessiert, kann unmöglich an einem Buch vorbeigehen, das bereits 1824, zu Lebzeiten des Komponisten, erschien und so lebendig wie kein anderes Buch die Welt aufreißt, in der Rossini während seiner italienischen Jahre lebte. Sein Verfasser war kein Geringerer als Marie-Henri Beyle aus Grenoble, der sich als Schriftsteller Stendhal nannte, heute ein berühmter Name, zu Lebzeiten ein weitgehend unbekannter. Es ist das Buch eines Enthusiasten, der die italienische Oper, aber auch Wolfgang Amadeus Mozart von Grund auf kannte und als Lebenselixier genoss. Angesteckt vom Rossini-Fieber, das in ganz Europa grassierte, ließ er kaum eine Pilgerfahrt zu den Stätten von Rossinis italienischen Triumphen aus: nach Neapel und Venedig, Mailand und Bologna, auch nach Paris. Rossini war erst 32 Jahre alt als Stendhals Buch erschien, er stand, nach der Uraufführung seiner 34. Oper, der Semiramis von 1823, auf der Höhe seines Ruhmes, aber eine Chronik seines Lebens und ein Abriss seiner Werke war nur zu schreiben auf der Grundlage persönlicher Erfahrungen und aktueller Zeitungsberichte. Methodische Skrupel plagten Stendhal nicht, er vermischte gern Tatsachen und Erfundenes und hielt sich überhaupt an Moliéres Maxime: "Ich nehme mir mein Gut, wo ich es finde". Sein Buch über Rossini offenbart indes ungewöhnliche Sorgfalt und genaue Werkkenntnis, die in genauen Analysen von etwa zwei Dutzend Opern zum Ausdruck kommt. Zum Glück war Stendhal kein pedantischer Autor; sein literarisches Temperament, seine Sprunghaftigkeit verleiteten ihn immer wieder zu Abschweifungen, anekdotischen Exkursen, kulturgeschichtlichen Vergleichen, ästhetischen und philosophischen Betrachtungen etwa über den Unterschied der deutschen und italienischen Musik, über Mozart, die Ästhetik der Oper, über Gesangskunst oder die Mentalität des Publikums. Mehr Liebhaber als Fachmann neigte er zu eigenwilligen Urteilen, war aber nie langweilig - ein kritischer Enthusiast der Restaurationsepoche, der seinen ästhetischen Eskapismus gleichzeitig kultivierte und durchschaute.

Stendhals Vie de Rossini wurde zwar schon früh ins Deutsche übersetzt, ist aber für die Rezeption des Komponisten in Deutschland weitgehend folgenlos geblieben. 1892, zu Rossinis 100. Geburtstag, wurde es noch einmal aufgelegt. Nicht zuletzt durch die Hinweise Friedrich Nietzsches besaß Stendhal inzwischen eine deutsche Leserschaft, aber im Gegenzug hatte die Geringschätzung Rossinis Fortschritte gemacht und war zu unverhohlener Geringschätzung angewachsen. Sie kam etwa in den Worten des Wagner-Bewunderers George Bernard Shaw zum Ausdruck, der in eben diesem Jubiläumsjahr 1892 erklärte, Rossini sei einer der größten Meister der Effekthascherei gewesen, die je gelebt hätten. Effekt ist, nach Wagners berüchtigter Definition, Wirkung ohne Ursache. Seither war Stendhals Rossini-Buch mehr oder weniger verschollen, und auch eine Neuauflage im Jahre 1988 hat daran nichts geändert. 30 Jahre später, im Rossini-Jubiläumsjahr, hat sich kein Verlag gefunden, der Stendhals reizvolles Buch wieder zugänglich gemacht hat.

Mehr Dunkel als Licht

Ohnehin ist die deutsche Rossini-Literatur dürftig, sieht man von der rororo-Monografie von Volker Scherliess aus dem Jahr 1991 ab. So hätte das im Theiss-Verlag erschienene Buch Rossini. Die hellen und die dunklen Jahre von Joachim Campe eine Lücke füllen können. Aber von dem Ehrgeiz beflügelt, "Rossinis Leben neu erzählen zu wollen", liefert der Autor hauptsächlich eine Sammlung von äußerlichen Fakten und Anekdoten, ohne die Biografie des Opernmeisters tiefer in seiner Epoche und deren Mentalitätsgeschichte zu verankern. Heinrich Heine deutete Rossinis Musik als Triumph der Restauration, aber Campe ist weit davon entfernt, diesem Gedanken nachzuspüren. Die Werkbeschreibungen bleiben merkwürdig oberflächlich und sprunghaft, sie versuchen gar nicht erst zu erklären, warum so viele Opern Rossinis neben dem motorischen Barbier von Sevilla im zurückliegenden Halbjahrhundert aufgeführt wurden oder sogar ins Repertoire zurückgekehrt sind. Rossinis musikalische und musikhistorische Innovationen bleiben unerörtert, obwohl Werke wie Tancredi und Mosè im ernsten und halbernsten Fach oder Die Italienerin in Algier im komischen Fach reiches Material dafür liefern. Und das gilt auch für Rossinis letzte Opern, die man durchaus Zukunftsmusik nennen kann: Il viaggio a Reims und Le comte ory sind Vorklänge der Offenbachschen Bouffes. Mit Wilhelm Tell schuf Rossini schließlich die Grundlage einer romantisch inspirierten Musikdramatik, die nicht nur die Grand Opéra Giacomo Meyerbeers initiierte, sondern auch Ausblicke eröffnet auf die großen Werke Guiseppe Verdis und Richard Wagners.

Die Legende, dass Rossini flüchtig und oberflächlich komponiert und dabei überwiegend Texte und Stoffe von mittelmäßiger Qualität verwendet habe, wird von Campe zwar nicht weitergeschrieben, aber auch nicht widerlegt. Rossinis Rückzug von der Opernbühne im Alter von nur 37 Jahren erklärt Campe hauptsächlich mit gesundheitlichen Rücksichten, obwohl der Komponist noch weitere 38 Jahre lebte und auch das Komponieren nicht völlig aufgab. Auch hier greift der Autor des Buches zu kurz. Nach der Uraufführung des Guillaume Tell 1829 an der Pariser Oper stand Rossini auf der Höhe seines europäischen Ruhms, der "Jupiter der Musik", wie Meyerbeer ihn genannt hat. Dass er danach keine weiteren Opern komponierte, drückt eher die Einsicht des Komponisten aus, dass die Epoche seiner historischen "Notwendigkeit" abgelaufen war. Die neue Epoche, schrieb er rückblickend in einem Brief, stehe im Zeichen von "Dampf, Ausbeutung und Barrikaden". Rossini fügte hinzu: "Ein solches Vorausahnen ist nicht jedem gegeben; Gott schenkte es mir und ich ehre ihn dafür jede Stunde."


Joachim Campe: Rossini. Die hellen und die dunklen Jahre.
wbg Theiss, Darmstadt 2018, 224 S., 29,95 EUR.


Hanjo Kesting ist Kulturredakteur der Zeitschrift Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. 2017 erschien bei Wallstein: Bis der reitende Bote des Königs erscheint. Über Oper und Literatur.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2018, S. 52 - 54
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Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Dezember 2018

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