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NACHLESE/013: 50 Jahre später ... The Band - Music From Big Pink (SB)



This wheel's on fire
Rolling down the road,
Best notify my next of kin
This wheel shall explode!


The Band - This Wheel's On Fire

Als sich die fünf Musiker aus Kanada und den USA im Frühjahr 1968 entschlossen, ein eigenes Album einzuspielen, hatten sie zwar keinen festen Namen für ihre Gruppe, aber ungleich mehr Erfahrung als viele Musiker ihrer Zeit. Gitarrist Robbie Robertson, Bassist Rick Danko, der für Tasteninstrumente und Saxophon zuständige Garth Hudson, der ebenfalls an den Keyboards aktive Richard Manuel sowie Drummer Levon Helm waren seit Anfang der 1960er Jahre als Backing Band für den aus Arkansas stammenden und in Toronto lebenden Rockabilly-Sänger Ronnie Hawkins tätig. Während der ebenfalls in Arkansas gebürtige Helm dort schon 1958 von Hawkins angeheuert wurde, stießen die übrigen vier Musiker, die später die Urbesetzung von The Band bilden sollten, in Kanada zu der Gruppe. Als The Hawks waren sie bis 1964 ausgiebig auf Tournee und sammelten Erfahrungen, die ihren Ruf begründete, quasi im Schlaf perfekt miteinander aufspielen zu können.

1965 von Bob Dylan als Tourband angeheuert, wurden die Konzerte des damals schon sehr berühmten Folksängers einfach als Bob Dylan and the Band angekündigt. Als im Rock 'n' Roll großgewordene Musiker waren sie bestens dazu geeignet, Dylans erste US-Tour zu begleiten, auf der er zur E-Gitarre griff. Mitte 1966 zog sich Dylan nach einem Motorradunfall in sein Haus im ländlichen Woodstock im Staat New York zurück, wohin er die fünf Musiker ein halbes Jahr später einlud, um mit ihnen in aller Ruhe Aufnahmen zu machen. Sie bezogen ein Haus im nahegelegenen Ort West Saugerties, das aufgrund seiner auffälligen Farbe "Big Pink" genannt wurde. Dort spielten sie mit Dylan zwischen Juni und Oktober 1967 in gemütlicher Wohnzimmeratmosphäre, in der der unverstärkte Gesang das Lautstärkeniveau der Sessions bestimmte, rund 100 Stücke ein, teils aus eigener Feder, teils als Cover zeitgenössischer und traditioneller US-amerikanischer Musik.

Diese Aufnahmen wurden 1975 als The Basement Tapes veröffentlicht. Ihr urtümlicher und bodenständiger, heute mit dem Begriff des Roots Rocks gut umschriebener Sound konnte fast schon als Gegenentwurf zu den damals angesagten, alle Register neuer Aufnahmetechnik ausreizenden Produktionen wie Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band von den Beatles gelten. 2014 erschien unter großem Jubel der globalen Dylan-Gemeinde eine sechs CDs umfassende Box mit dem gesamten Werk, das in diesem ländlichen Setting entstanden war. In diesen Sessions, denen zwei Jahre ausverkaufte Konzerte in aller Welt vorausgegangen waren und deren ruhige Atmosphäre kaum weiter entfernt sein konnte von dem zeitgleich erfolgenden jugendlichen Aufbruch in den Metropolen Westeuropas und Nordamerikas, wurde auch der Grundstein für das Debut-Album von The Band gelegt.

Es entsprach dem hochentwickelten Stand musikalischer Zusammenarbeit, daß Music From Big Pink im Frühjahr 1968 in nur zwei Wochen ohne Overdubs, also das separate Aufnehmen einzelner Tonspuren, wie in einer Live-Session eingespielt wurde. The Band, wie sich die fünf Musiker, die sich gerne auch mit altmodisch wirkenden Krawatten, Hüten und Anzügen präsentierten, nun der Einfachheit halber nannten, hatten nach rund acht Jahren gemeinsamen Schaffens ein Werk vorgelegt, das von einer Reife und Ausdrucksstärke war, die andere Bands auch nach vielen Jahren niemals erreichen sollten. Das Album hatte mit der organischen Verschmelzung von Folk-, Rock-, Country und R&B-Elementen eine eigenständige musikalische Ausdrucksform erlangt, die als Americana zu bezeichnen die Zeit noch nicht reif war, aber diesem Obertitel für die Melange aus populären nordamerikanischen Musikkulturen allemal entsprach.

Auf der Hülle des Albums prangte ein von Bob Dylan gemaltes Bild, das von der entspannten und lockeren Atmosphäre kündet, in der die Sessions mit The Band abgelaufen waren. Dylan hatte angeboten, beim Einspielen des Albums den Gesangspart zu übernehmen, von diesem Vorhaben aber, so wird berichtet, aus der Einsicht, daß seine fünf Kollegen etwas eigenes auf die Beine stellen wollten, wieder Abstand genommen. Dennoch sind sechs Musiker und ein Elefant auf dem Bild zu sehen, was nahelegt, daß es dem berühmten Soloartisten schon wichtig war, mit einem eigenen Beitrag an der Entstehung des Albums beteiligt zu sein. Dabei steuerte er mit Tears of Rage und This Wheel's on Fire zwei Titel, die in Zusammenarbeit mit einzelnen Bandmitgliedern entstanden, sowie mit I Shall Be Released einen eigenen Song zu dem Album bei.

Diese Songs sowie das Stück The Weight, in dem Eindrücke aus dem Süden der Vereinigten Staaten wie aus Filmen des mexikanischen Avantgarderegisseurs Luis Bunuel verarbeitet wurden, wurden so oft von anderen MusikerInnen und Bands gecovert, daß ihr originärer Ursprung vielen nicht bekannt ist. Dabei gilt Music From Big Pink heute als eines der wichtigsten Alben dieser Ära, und das nicht erst im Rückblick auf diese Zeit. So soll Eric Clapton von dem bodenständigen Charakter der Musik veranlaßt worden sein, Cream zu verlassen und eigene, musikalisch traditionellere Wege einzuschlagen. Auch Roger Waters hält große Stücke auf das Album, das seiner Ansicht nach die nach Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band einflußreichste LP der Rockgeschichte ist und damals für Pink Floyd sehr wichtig gewesen sei.

Der britische Musikproduzent Joy Boyd berichtet in seinen literarischen Reminiszenzen an diese bewegte Zeit, daß die Folkrockband Fairport Convention, deren Mitglieder sich nach einer unfallbedingten Zäsur künstlerisch neu orientieren wollten, im Frühjahr 1969 immer wieder Music From Big Pink gehört hätten. Auch für sie war das Album in seiner Schönheit und Authentizität eine Wegmarke in der damals rasant verlaufenden Entwicklung zeitgenössischer US-amerikanischer Musik. Heute regelmäßig auf den vorderen Plätzen der Ranglisten der größten und wichtigsten Rockalben aller Zeiten plaziert, vermittelt Music From Big Pink einen Eindruck von der Vielfalt und Lebendigkeit einer Popkultur, die es sich erlauben konnte, keinem Trend zu folgen, weil sie selber Trends setzte. Der 80jährige Garth Hudson und der 76jährige Robbie Robertson sind die beiden letzten Überlebenden der Urbesetzung einer Band, deren Musiker so unprätentiös spielten und anrührend sangen, daß das Ergebnis einer späteren Kollaboration mit Bob Dylan, die zehn Konzerte im Januar und Februar 1974 in den USA umfaßte und im Album Before The Flood verewigt wurde, für viele Kritiker zum Besten gehört, was der Altmeister des Folkrocks und Literarturnobelpreisträger auf die Bühne gebracht hat.

11. Juli 2018


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