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MELDUNG/386: Neandertaler - Zu 20 Prozent Vegetarier (idw)


Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen - 11.03.2016

Neandertaler: Zu 20 Prozent Vegetarier


Tübingen, den 11.03.2016. Wissenschaftler des Senckenberg Center for Human Evolution and Palaeoenvironment (HEP) in Tübingen haben die Ernährung von Neandertalern untersucht. Anhand von Isotopenzusammensetzungen im Kollagen der Urmenschenknochen zeigen sie, dass die Neandertaler sich überwiegend von großen Pflanzenfressern wie Mammute und Nashörnern ernährten, jedoch auch pflanzliche Kost zu ihrem Speiseplans gehörte. Die zugehörigen Studien sind kürzlich in den Fachjournalen Journal of Human Evolution und Quaternary International erschienen.


Abbildung: © Bocherens

Die verschiedenen Jäger und ihre Beutetiere.
Abbildung: © Bocherens


Die Paleo-Diät ist einer der neuen Trends ernährungsbewusster Menschen - doch was genau stand bei unseren ausgestorbenen Verwandten eigentlich auf dem Speiseplan? "Wir haben uns die Ernährung von Neandertalern im Detail angeschaut", erklärt Prof. Dr. Hervé Bocherens vom Senckenberg Center for Human Evolution and Palaeoenvironment an der Universität Tübingen und fährt fort: "Dabei konnten wir feststellen, dass die ausgestorbenen Verwandten des heutigen Menschens sich überwiegend von pflanzenfressenden Großsäugern wie Mammut und Wollnashorn ernährten."

Die zwei untersuchten Fundstellen in Belgien boten dem internationalen Wissenschaftlerteam rund um den Tübinger Biogeologen zahlreiche zwischen 45.000 und 40.000 Jahre alte Knochen von Mammuten, Wollnashörnern, Wildpferden, Rentieren, Wisenten, Höhlenhyänen, -bären und -löwen sowie Überreste von Wölfen. In unmittelbarer Nähe wurden auch Knochen mehrerer Neandertaler-Individuen entdeckt. Die Forschenden zeigen in ihren Studien anhand von Isotopenuntersuchungen am Knochen-Kollagen, dass sich die Nahrung der Neandertaler deutlich von der anderer Raubtiere unterschied. Kollagen ist ein wesentlicher organischer Bestandteil des Bindegewebes in Knochen, Zähnen, Knorpeln, Sehnen, Bändern und der Haut.

"Früher ist man davon ausgegangen, dass die Neandertaler die selben Nahrungsquellen wie ihre tierischen Nachbarn nutzten", erläutert Bocherens und ergänzt: "Unsere Ergebnisse zeigen aber, dass alle Raubtiere eine sehr spezifische ökologische Nische besetzten, wobei in der Regel kleinere Beutetiere wie Rentiere, Wildpferde oder Wisente bevorzugt wurden, während sich die Neandertaler auf die großen Pflanzenfresser wie Mammut und Wollnashorn festlegten."

Doch nicht nur Fleisch nahmen unsere ausgestorbenen Verwandten zu sich: Untersuchungen der Isotopenzusammensetzung einzelner Aminosäuren des Kollagens belegen, dass etwa 20 Prozent ihrer Nahrung pflanzliche Kost ausgemacht hat. In Fachkreisen wurde diese evolutionsbiologische relevante Frage seit Jahrzenten sehr intensiv diskutiert, ohne jedoch konkrete Ergebnisse zu liefern.

"In dieser Studie konnte erstmalig quantitativ ermittelt werden, wie groß der Anteil pflanzlicher Nahrung der späten Neandertaler ist. Eine ähnliche Ernährung wird auch für steinzeitliche moderne Menschen angenommen", fügt Bocherens hinzu.

Die Tübinger Wissenschaftler möchten mit ihren Untersuchungen unter anderem die Gründe für das Aussterben der Neandertaler vor 40.000 Jahren besser verstehen. "Es verdichten sich die Belege, dass die Ernährung kein entscheidender Grund war, warum die Neandertaler Platz für die modernen Menschen machen mussten", fasst Bocherens zusammen.

Publikationen

Naito, Y.I., Chikaraishi, Y., Drucker, D.G., Ohkouchi, N., Semal, P., Wißing, C., Bocherens, H., in press. Ecological niche of Neanderthals from Spy Cave revealed by nitrogen isotopes of individual amino acids in collagen. Journal of Human Evolution

Wißing, C., Rougier, H., Crevecoeur, I., Germonpré, M., Naito Y.I., Semal, P., Bocherens, H., in press. Isotopic evidence for dietary ecology of Neandertals in North-Western Europe. Quaternary International 10.1016/j.quaint.2015.09.091


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseen, Judith Jördens, 11.03.2016
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. März 2016

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