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ORNITHOLOGIE/146: Vogelbeobachtung im eigenen Garten (Der Falke)


Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 6/2009

Immer wieder faszinierend: Vogelbeobachtung im eigenen Garten

Von Hans-Heiner Bergmann


Die Stunde der Gartenvögel ist als Erfindung von den Britischen Inseln zu uns gekommen, wo das Projekt schon seit 1979 als "Big Garden Bird Watch" besteht. In England ist Naturkunde eine große Bewegung, die längst die Bürger in Mengen erfasst hat. Vogelbeobachten als Volkshobby wird bei uns in Deutschland vielfach eher noch als eine etwas abseitige Beschäftigung für Sonderlinge betrachtet. Aber die Mitmachaktion Stunde der Gartenvögel, erstmals im Jahr 2005 bundesweit vom Naturschutzbund Deutschland (NABU) und dem Landesbund für Vogelschutz (LBV) in Bayern ausgerufen, scheint auch bei uns die Situation zu ändern.


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Mit ihrem zugkräftigen Titel und der zugehörigen Öffentlichkeitsarbeit (Schäffer & Schäffer 2006, Hoffmann 2007) hat die Stunde der Gartenvögel schon vielen Menschen die Natur um sie herum näher gebracht: 45000 Teilnehmer haben im Jahr 2008 allein den Haussperling 135000 Mal gemeldet.

Stunde der Gartenvögel ganz individuell

Selbstverständlich habe auch ich im Mai an der Stunde der Gartenvögel teilgenommen. Schon vorher habe ich an einem schönen warmen Frühlingstag Ende April 2007 versuchsweise eine Stunde lang von 9 bis 10 Uhr die Vögel im eigenen Garten mit hochgewachsenen Koniferen, einigen Obstbäumen und einer Hecke, die zum Teil mit Efeu überwachsen ist, zwei Ebereschen und einer großen Wiese registriert. In der Nachbarschaft liegt ein Teich, ringsum lockeres Siedlungsgebiet einer Kleinstadt, mit Grün durchflochten. Anfangs komme ich schnell zu einer Reihe von Arten:

1 Amseln streiten sich auf der Wiese.
2 Haussperlinge tschilpen ständig aus Baum und Hecke.
3 Kohlmeisen füttern an einer Nisthöhle aus Holzbeton.
4 Am Himmel fliegen einige Rauchschwalben,
5 auch die ersten Mauersegler; sie sind erst wenige Tage anwesend.
6 Stare fliegen ständig vorbei, leer zu einem Nahrungsplatz,
    mit Beute im Schnabel zu ihren Nestern in der Ortschaft.
7 Ein Grünfink ruft vor sich hin.
8 Drei Stockerpel landen auf dem benachbarten Teich.
9, 10 Dohlen und Rabenkrähen fliegen ständig vorüber und holen sich
    Brotstücke vom Teich, wo Enten und Höckerschwäne gefüttert werden.

Etwas langsamer kommen mehr Arten dazu:

11 Eine Blaumeise fliegt vorbei.
12 Eine kleine Sensation: Ein Alpenbirkenzeisig klaubt die Samen
      aus den offenen Zapfen im Wipfel einer Sitkafichte.
13 Regenrufe des Buchfinken und
14 der Gesang des Sommergoldhähnchens sind zu hören.
15 Zum Schluss meldet sich noch die Mönchsgrasmücke.

Fünfzehn Vogelarten haben sich im Garten oder vom Garten aus feststellen lassen, in einer Stunde am Vormittag. Das ist sicher allerhand. Ich weiß jedoch, dass es hier noch mehr Arten als diese, innerhalb der einen Stunde festgestellten gibt.

Tag der Gartenvögel

Die frühe Vormittagsstunde konnte natürlich nur eine Stichprobe der möglichen Arten bringen. Ich bleibe weiter im Garten und spähe und horche. Bald tauchen neue Arten auf:

16 Ein Sperberweibchen kreist am Himmel, verfolgt von
17 Rauch- und Mehlschwalben.
18 Zwei Heckenbraunellen verfolgen einander, kurzer Gesang ertönt.
19 Zwei Türkentauben fliegen umher, später sind Nestrufe zu hören.
20 Je ein Paar Bluthänflinge und
21 Stieglitze sind anwesend, Gesang erklingt.
22 Eine Sumpfmeise badet in der Vogeltränke, beteiligt sich später bei
      der Ernte der Samen aus den Fichtenzapfen.
23 Ein Zaunkönig ist aus dem Nachbargrundstück zu hören.
24 Zwei Mäusebussarde segeln in der Thermik über der Ortschaft.
25 Ein Rotmilan kommt mittags zu einer kurzen Visite vorbei.
26 Eine Klappergrasmücke singt.
27 Ein Kleiber lässt sich für kurze Zeit im Garten sehen.
28 Gegen Abend singt ein Hausrotschwanz im Wipfel einer Weide.
      Tagsüber war er nicht zu hören, auch nicht auf den nächsten Dächern,
      wo er eigentlich hingehört.

Also ließen sich über den Tag hin weitere dreizehn Arten im Garten oder am Himmel nachweisen. Manche davon hätten durchaus auch während der Stunde der Gartenvögel auftauchen können. Das war aber nicht geschehen. Am nächsten Morgen kamen am gleichen Ort noch Ringeltaube, Zilpzalp, Elster und Wacholderdrossel hinzu. Summa summarum 32 Arten, statt der 15 während der einen Beobachtungsstunde am Vortag.

Über die Zeit hinaus

Schon die bisherigen Feststellungen haben sich in meinen Aufzeichnungen nicht auf die Namen beschränkt, sondern immer schon Verhalten und Umwelt mit einbezogen. Die Amsel war nicht nur Turdus merula, sondern zwei von ihnen zeigten während der Nahrungssuche auf der Wiese aggressives Verhalten.

Auch mit dem Sommergoldhähnchen ging es weiter. Die eine Stunde der Gartenvögel erbrachte nur: "Sommergoldhähnchen singend". Der Gesang ließ sich später in einer der Fichten lokalisieren. Dort tauchten plötzlich zwei der Vögel auf. Einer singt, der andere aber fliegt zum nächsten Apfelbaum, hängt sich an den Stamm und rupft Moos aus. Damit fliegt er zurück zur Fichte, zu einem dichten Ast in etwa fünf Metern Höhe, kommt kurz danach wieder heraus. Danach fliegt er zu einer Weide außerhalb des Gartens, sammelt dort Flechten oder Moos von der Borke und kehrt zu dem beschriebenen Ast in der Fichte zurück. Während das Weibchen ein Nest baut, singt das Männchen und bewacht seine Partnerin von einem trockenen Zweig der Weide am benachbarten Teich aus, wo es auch manchmal sein Gefieder pflegt. Dort ist es nur etwa fünf Meter vom Nistplatz entfernt und hat eine gute Übersicht. Zeitweise singt es in kurzem Zeitabstand seine sehr hochtonigen Strophen: ein schnelles Crescendo, das am Schluss abbricht. Später im Jahr hat das Paar eine erfolgreiche Brut hochgebracht.

Ähnlich ist die Situation bei den Grünfinken. Beide - Männchen und Weibchen - halten fast ständig zusammen. Das Weibchen nimmt einen kleinen Zweig aus der Lärche und fliegt zum Wipfel der nächsten Fichte hinüber. Über zwei Zwischenstationen verschwindet es etwa 2,5 Meter unterhalb des Wipfels im Gezweig. Kurz danach kommt es wieder heraus und sucht neues Nistbaumaterial. Offenbar ist das Nest noch im Außenbau, nach dem Format des Baumaterials zu urteilen. Das Männchen arbeitet nicht mit, hält sich aber ständig in der Nähe auf und begleitet das Weibchen, wenn es weiter fort fliegt. Gesang hört man erst am Nachmittag - dafür ist allein das Männchen zuständig.

Anders verhält es sich bei den Alpenbirkenzeisigen. Wie sich bald herausstellt, sind mindestens zwei, vielleicht sogar drei (oder mehr?) Individuen anwesend. Das Männchen ist deutlich durch Rot an der Stirn gekennzeichnet, bei dem Weibchen ist davon nichts zu sehen. Das Männchen ist ständig bemüht, nahen Kontakt zur Partnerin zu halten, es verfolgt sie geradezu, sie weicht aus. Wenn sie ein Stück davonfliegen, sind beide zusammen. Dann sind Flugrufe und das eingeschobene typische Schnarren zu hören. In der Weide hüpft das Weibchen auf einem großen Ast entlang und pickt nach unten, das Männchen sitzt ein Stückchen abseits und beobachtet das Geschehen. Sucht das Weibchen Nestbaumaterial oder Nahrung? Im Schnabel ist nichts zu erkennen. Die Vögel sind jedenfalls ortsfest. Näheres wird sich erst an den kommenden Tagen beobachten lassen. Es wird Abend. Die Dämmerung schreitet fort. Nur eine Amsel singt noch von einem benachbarten Dachfirst, räumt aber ihren Platz, als die ersten Fledermäuse fliegen.

Mehr beobachten - mehr verstehen

Mein Tag der Gartenvögel bringt nicht nur eine erweiterte Artenliste, sondern auch Erkenntnisse und Bestätigungen zur Biologie. Bei einer Reihe von Arten erweist sich, dass sie wirklich hier wohnen. Mönchsgrasmücke, Stieglitz, Buchfink und andere sind immer wieder tagsüber zu sehen oder zu hören. Amseln singen fast ständig aus den Baumkronen, und zwar mehrere. Der Kleiber und der Hausrotschwanz treten nur einmal auf, sind offenbar Besucher aus der Nachbarschaft. Der lokale Status der Arten wird im Lauf des Tages klarer. Bei anderen Arten lassen sich Brutnachweise erbringen. Sommergoldhähnchen und Grünfink sind mit dem Nestbau beschäftigt. Dabei lassen sich Verhaltenszusammenhänge beobachten. Bei beiden Arten baut das Weibchen, das Männchen hält sich in der Nähe der Partnerin auf. Um den Bruterfolg festzustellen, muss man noch länger beobachten - dazu benötigt man den Sommer der Gartenvögel oder mehr.

Die Stunde der Gartenvögel beschert eine kurze Begegnung mit Arten. Der Tag der Gartenvögel bringt viel mehr Arten, aber auch eine Menge biologischer Einsichten. Was wird erst die Woche, der Monat, das Jahr der Gartenvögel bringen? Die Stunde der Gartenvögel ist ein sehr guter Einstieg. Wer Lust hat, sollte länger beobachten und wird mit Freude sehen, wie einzelne Beobachtungen sich zu Bildern zusammenfügen. Wer mehr vom Leben der Vögel in seinem Garten versteht, wird vielleicht auch eher zum Schutz "seiner" Vögel und "seiner" Natur insgesamt beitragen.

Die Mitmachaktion Stunde der Gartenvögel von NABU und LBV ergibt einen bundesweit einzigartigen Überblick über unser Gartenvögel. Hierbei gilt die Regel: Die höchste Anzahl während einer Beobachtungsstunde gleichzeitig gesehener Individuen einer Vogelart melden und so zu Erkenntnissen über unsere Gartenvögel in Deutschland beitragen.



Literatur zum Thema:

Nipkow, M. & A. v. Lindeiner (2008):
Rückblick: "Stunde der Gartenvögel" 2008. Falke 55: 249-253.

Schäffer, N. (2006):
Die Stunde der Gartenvögel schlägt im Mai. Falke 53: 108-112.

Schäffer, A. & N. Schäffer (2006):
Gartenvögel - Naturbeobachtungen vor der eigenen Haustür.
Aula-Verlag, Wiebelsheim.

Hoffmann, H. (2007):
Gartenvögel beobachten, bestimmen, schützen.
Gräfe & Unzer, München.

Links zum Thema:
www.stunde-der-gartenvoegel.de
www.nabu.de - www.lbv.de

Hans-Heiner Bergmann war Hochschullehrer an der Universität Osnabrück und lebt jetzt im aktiven Ruhestand in Nordhessen. Seine Interessen gelten vor allem den Vogelstimmen, aber auch dem Schutz der Vögel.


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Quelle:
Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 6/2009
56. Jahrgang, Juni 2009, S. 220-223
mit freundlicher Genehmigung des AULA-Verlags
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Juni 2009