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ORNITHOLOGIE/263: Von der "nationalen Plage" zum "Naturdenkmal" - Spiegelgänse in Argentinien (Der Falke)


Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 6/2012

Von der "nationalen Plage" zum "Naturdenkmal": Spiegelgänse in Argentinien

Von Petra Quillfeldt, Pablo F. Petracci und Juan F. Masello



In Argentinien sind alle fünf Arten der Spiegelgänse heimisch. Drei von ihnen sind seit dem Jahr 1931 per Gesetz als "Nationale Plage" eingestuft. Dieser Status steht im Zusammenhang mit der Nahrungssuche auf landwirtschaftlichen Flächen, besonders im Winterhalbjahr. Durch diesen Status sind die Vögel praktisch schutzlos - so wurde mit der Erklärung zur Plage die Grundlage für den heute teils kritischen Schutzstatus gelegt.

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Argentinische Magellangänse, Graukopfgänse und Rotkopfgänse brüten in Patagonien und ziehen im Herbst in wärmere Gegenden im Norden, hauptsächlich in den Süden des Bundeslandes Buenos Aires, den Nordosten von Río Negro und den Südosten des Bundeslandes La Pampa. Daneben gibt es auch Populationen, die den Winter in den südlichen Brutgebieten verbringen. Die Magellangans (FALKE 2012, H.ist die größte der drei Arten und weist die deutlichsten Gefiederunterschiede zwischen den Geschlechtern auf (sexueller Dimorphismus). Bei den Graukopfgänsen dagegen haben Männchen wie auch Weibchen graue Köpfe und Hälse, braune Brust, schwarze Schwanzfedern und weiße Unterseiten. Die Rotkopfgans schließlich ist die kleinste der drei Arten, mit zimtfarbenem Kopf-, Brust und Rückengefieder mit feiner schwarzer Bänderung und gelben Beinen. Rotkopfgänse zeigen keinen sexuellen Dimorphismus und sind den Weibchen der Magellangänse sehr ähnlich. Der Bestand der Rotkopfgänse ist biogeographisch in zwei Populationen getrennt. Zum einen bewohnen sie die Falklandinseln (Islas Malvinas), wo sie ganzjährig vorkommen und der Bestand stabil ist. Dagegen besteht die Brutpopulation die auf dem Kontinent und auf Feuerland (Tierra del Fuego) aus Zugvögeln und ist vom Aussterben bedroht.


Größte Gefahr: Jagd

Nach der Brutzeit ziehen die drei Arten mehrere Hundert bis mehrere Tausend Kilometer zu den Überwinterungsgebieten in mittleren Breiten in Argentinien. Dort werden sie geselliger und bilden oft gemischte Gruppen der verschiedenen Arten. Im Überwinterungsgebiet verbringen die Vögel etwa vier Monate. Dabei halten sie sich zuerst vor allem auf Weiden und Feldern mit Stoppeln und Brachen auf, wo sie keinen nennenswerten "Schaden" anrichten. Gegen Ende der Überwinterung wechseln sie jedoch oft in Getreidefelder und werden hier für Schäden an den Saaten und Jungpflanzen verantwortlich gemacht. Im Brutgebiet gelten sie zudem als Nahrungskonkurrent auf Schafweiden. Seit mehr als 70 Jahren werden die Spiegelgänse daher mit verschiedenen Methoden verfolgt, die stellenweise fast zur Ausrottung führten. Dazu gehört massive Jagd zu allen Jahreszeiten, sowohl als Maßnahme zur gezielten Verringerung der Bestände als auch im Rahmen von Freizeitjagd. Letztere ist in Argentinien sehr verbreitet. Jedes Jahr werden so Tausende Spiegelgänse vor allem von ausländischen Jagdtouristen getötet. Die Jagd wird von örtlichen Reiseanbietern betrieben, die mit unbeschränkten Jagdstrecken werben. Dabei erhalten die Anbieter oft das Einverständnis der Landbesitzer, wenn sie im Gegenzug die Ausrottung der Tiere im Gebiet versprechen. Obwohl neuerdings die Jagd auf Spiegelgänse im gesamten argentinischen Gebiet verboten wurde und somit illegal ist, wird sie weiterhin betrieben. Das kann man rasch nachprüfen, indem man bei einer Suche im Internet Stichworte wie "caza de avutarda" (spanisch), oder "Argentinien Jagd Gänse" eingibt.

Die getöteten Vögel werden im Feld liegen gelassen oder vergraben, ohne das Fleisch oder die Federn zu nutzen. Aufgrund der Ähnlichkeit von Rotkopfgänsen mit weiblichen Magellangänsen werden sie leicht bei der Jagd verwechselt, sodass es unzureichend wäre, nur eine Art zu schützen.


Weitere Verlustursachen

Zusätzlich zum Jagddruck vor allem in den Wintergebieten leiden besonders die Rotkopfgänse unter hohen Nestverlusten durch Pampasfüchse (Lycalopex gymnocercus), die 1951 auf der Isla Grande de Tierra del Fuego, der Hauptinsel von Feuerland, ausgesetzt wurden. Vor der Auswilderung der Füchse stellten Rotkopfgänse noch die Hälfte aller Spiegelgänse auf Feuerland.

Weitere negative Faktoren waren der Verlust von geeigneten Nisthabitaten und eine massive Zerstörung von Gelegen durch die Regierung in der Zeit von 1940 bis 1970. So wurden allein von 1972 bis 1974 an die 180 Eier von Spiegelgänsen vernichtet. In neuerer Zeit kommt die Einführung des Amerikanischen Nerzes (Neovison vison) in Patagonien hinzu. Dieser könnte sich zu einem neuen Problem entwickeln, da erste Untersuchungen zeigen, dass ein großer Teil seiner Nahrung aus Eiern, Küken und Altvögeln von Spiegelgänsen besteht.

Der aktuelle Zustand der Spiegelgänse ist besorgniserregend, die Folgen der unverantwortlichen Praktiken treten jetzt massiv zutage. Alle drei Arten erlitten Populationsrückgänge, jedoch in unterschiedlichem Maße. Daher stuft die letzte Erhebung Magellangänse als "gefährdet", Graukopfgänse als "stark gefährdet" und Rotkopfgänse als "vom Aussterben bedroht" ein.

Der Status der Rotkopfgänse ist tatsächlich alarmierend, mit optimistischen Populationsschätzungen von 900 bis 1178 Individuen für Argentinien und Chile, und kein Anzeichen, dass sich die Art in den letzten Jahren erholen könnte.


"Naturdenkmal" statt "Plage"

Obwohl der Schutz dieser Arten stark mit dem Interessenkonflikt zwischen Spiegelgänsen und Bauern zusammenhängt, wurde bisher wenig auf eine Lösung hingearbeitet. Das schlechte Image der Arten ist fest in der Bevölkerung verankert, und ihre Einstufung als Plage durch die Regierung trägt dazu nicht unwesentlich bei. Jedoch wurde die Verfolgung bislang nicht mit wissenschaftlichen Methoden hinterfragt, obwohl die wenigen durchgeführten Untersuchungen den Umfang des durch die Spiegelgänse angerichteten Schadens infrage stellten.

So, wie die Kategorie der "Nationalen Plage" in Argentinien derzeit gehandhabt wird, verdammt sie die betroffenen Arten praktisch zum Aussterben. Diese Situation wird vor allem auch durch das fehlende Naturschutzverständnis in breiten Bevölkerungsschichten verschlimmert. Daher sollte das Plage-Konzept durch eine neue Einstufung ersetzt werden, die die Gesamtsituation besser erfasst. Besonders sollte der Einfluss oder Schaden durch die Art (wenn dieser nachgewiesen werden kann), in Zusammenhang mit Merkmalen wie Endemismus, Zugverhalten und Bedrohungen gestellt werden. Diese Situationseinschätzung sollte auf Basis von Daten vorgenommen werden, die es ermöglichen, Entscheidungen auch unter Berücksichtigung von Naturschutzkriterien zu fällen und ein integratives Managementkonzept für die Spiegelgänse und ihren Lebensraum zu erarbeiten.

Angesichts des kritischen aktuellen Panoramas haben während der letzten Jahre Landes- und Bundesbehörden sowie Naturschutzorganisationen verschiedene Aktionen gestartet, um die Verluste aufzuhalten und den Schutzstatus der Spiegelgänse zu verbessern. Als erste Maßnahme wurden Abkommen erarbeitet, um die Jagd im gesamten Verbreitungsgebiet zu untersagen. Weiterhin wurden die Bestände im Rahmen von Zählungen in einigen Brut- und Überwinterungsgebieten erfasst. Parallel dazu fanden Untersuchungen zur Schadensabschätzung statt, unter anderem zum Fraß in Getreidefeldern, der Bodenverdichtung und Habitatnutzung.

Aufgrund der Ergebnisse dieser neuen Studien ernannte das Bundesland Buenos Aires, das den größten Anteil am Überwinterungsgebiet hat, die Rotkopfgans zum "Naturdenkmal" und verlieh ihr damit einen Schutzstatus, der sie gleichzeitig aus der Liste der "Plagearten" im Bundesland entfernt. Im Jahr 2010 wurde ein Gesetz zum Schutz der drei Arten Spiegelgänse im Bundesland Buenos Aires erlassen und dafür die Stelle eines Naturschutzwartes geschaffen. Die Bundesländer in Patagonien zogen inzwischen mit ähnlichen Maßnahmen nach. Sie organisierten Treffen mit Naturschutzexperten sowie mit Landbesitzern und Aktivitäten für die breitere Öffentlichkeit. Im Bundesland Río Negro gibt es Bemühungen, die Spiegelgänse als attraktive Arten für Vogelbeobachtungs-Tourismus bekannt zu machen.


Aus für die Rotkopfgans?

Der bislang größte Durchbruch war die Interessensbekundung durch die Abgeordnetenkammer von Argentinien, den Schutz der drei Arten langfristig im gesamten Gebiet in Argentinien durchzusetzen.

Die Rotkopfgans als Zugvogelart wurde in den Anhang 1 der Bonner Konvention (CMS) aufgenommen, und Chile und Argentinien organisierten einen binationalen Workshop, um eine gemeinsame Strategie zum Schutz der Art auf Feuerland zu erarbeiten. Inzwischen gibt es auch einen nationalen Aktionsplan zum Management und Schutz der Spiegelgänse, und die Bestände der Magellangans und Graukopfgans werden derzeit als stabil eingeschätzt.

Trotz dieser Anstrengungen gelingt es jedoch bisher nicht, den Verlust bei den Rotkopfgänsen aufzuhalten. Einige Naturschützer befürchten, dass die Art unter eine kritische Populationsdichte gefallen ist, wo sich Individuen nur noch schwer in den weiten Brutgebieten finden und es daher immer seltener zur Fortpflanzung kommt. Brutplätze der Art kennt man nur noch an wenigen Stellen im Süden des argentinischen Bundeslandes Santa Cruz, an der Küste der Magellanstraße, in der XII. Región im Süden von Chile und im Norden der Insel Feuerland. Dort gibt es wenige Brutversuche und nur selten überleben die Küken. Um eine erfolgreiche Brut zu ermöglichen, wurde daher jetzt begonnen, an einigen Brutplätzen Nester zu umzäunen. Weiterhin wird überlegt, ob ein Zuchtprogramm in Gefangenschaft die Auslöschung der Art in Argentinien und Chile verhindern kann.

Ein effektiver Schutz von bedrohten ziehenden Vogelarten wie den Spiegelgänsen hängt von der Koordination der Maßnahmen im gesamten Verbreitungsgebiet ab. In diesem Sinn ist es unerlässlich, unsere Kenntnisse über die Biologie der drei Arten zu erweitern, zum Beispiel die Zugrouten zu untersuchen. Die illegale Jagd in den Überwinterungsgebieten muss wirksam unterbunden und der Bruterfolg verbessert werden, besonders bei der Rotkopfgans, deren einst große Populationen auf einen so kritisch geringen Bestand geschrumpft sind.


Prof. Dr. Petra Quillfeldt arbeitet an der Universität Gießen mit Fokus auf Verhaltensökologie und Ökophysiologie an Seevögeln sowie Wasservögeln und Sittichen.

Pablo F. Petracci ist Zoologe und Dozent am Lehrstuhl für Wirbeltierzoologie des Naturkundemuseums La Plata, Argentinien. Er beschäftigt sich mit Naturschutzbiologie, mit Fokus auf bedrohte Zugvogelarten in Südamerika.

Dr. Juan F. Masello ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Gießen. Er leitet das Burrowing Parrot Project und die Parrot Group in der IOU und ist an Artenschutz- und Seevogel-Projekten beteiligt.

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Quelle:
Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 6/2012
59. Jahrgang, Juni 2012, S. 220-223
mit freundlicher Genehmigung der Autorin, der beiden Autoren
und des AULA-Verlags
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Erscheinungsweise: monatlich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Oktober 2012