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ORNITHOLOGIE/351: Von der Küste ins Gebirge - Neue Brutstrategien der Weißwangengans (Der Falke)


Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 2/2016

Von der Küste ins Gebirge: Neue Brutstrategien der Weißwangengans

von Hans-Heiner Bergmann


So kennen wir die Nonnen- oder Weißwangengänse im Winter: Sie kommen aus den russisch-sibirischen Brutgebieten zu uns, um in den großen Flusslandschaften Norddeutschlands und dem küstennahen Grünland die kühle Jahreszeit als Vögel des Flachlands zu verbringen. Ganz anders stellen sie sich in ihren Brutgebieten in der Arktis Spitzbergens dar. Hier scheinen sie in jüngerer Zeit mehr und mehr zu Gebirgsvögeln zu werden.

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Wenn die Weißwangengänse im Laufe des Mai in ihren Brutgebieten auf Spitzbergen ankommen, herrscht dort noch der Winter. Dann sind sie auf die ersten schneefreien Stellen an den Küsten, in den Flusstälern und am Fuß der Berge angewiesen, um hier die alte und die zögerlich sprießende frische Tundrenvegetation zu nutzen. Sobald möglich, wandern sie danach auf die Felsinseln vor der Küste ab, um hier Nistplätze zu suchen. Das war bisher die erfolgreiche Strategie: Denn der Eisfuchs, der Hauptfeind der Weißwangengänse, meidet das eiskalte Wasser, die Inseln und Inselchen sind vor ihm sicher. Eisfüchse erbeuten Eier, Küken und werden auch mit eineinhalb bis zwei Kilogramm schweren Altvögeln fertig. Zudem können sie von Vorratswirtschaft zehren. Was an Beute im kurzen arktischen Sommer erübrigt werden kann, wird im Boden vergraben, um im Winter darauf zurückzugreifen. Anders als die Gänse, die von Spitzbergen aus zum Überwintern nach Schottland fliegen, ist der Fuchs gezwungen, in Schnee und Eis zu bleiben.

Neuer Feind: Eisbär

Die Schutz bietenden Inseln vor der Küste sind jedoch felsig und bieten den Gänsen nicht viel Nahrung, sodass die Altvögel kilometerweite Ausflüge auf das Festland unternehmen müssen, um dort zu weiden. Sobald nach knapp vier Wochen Brutzeit die Küken geschlüpft sind, schwimmt die ganze Familie an die Küste, um sich dort an Lagunen und kleinen Seen niederzulassen. Die Eltern wechseln nun ihr Fluggefieder und sind einige Wochen lang flugunfähig. Für Alt- wie Jungvögel ist es zu dieser Zeit notwendig, in der Nähe des Wassers zu bleiben. Sobald der Fuchs auftaucht, flüchten sie alle auf das Wasser. Die Inseln benötigen sie nicht mehr.

Ein anderes arktisches Raubtier, der Eisbär, lebt ursprünglich im Packeis. Hier findet er seine Beute, vor allem die verschiedenen Arten von Robben. Ebenso wie sich in den Fjorden die Gletscher zurückziehen, erreicht heute auch das Packeis nicht mehr den Süden Spitzbergens und bleibt im Sommer weit nördlich, alles eine Folge der Klimaerwärmung. Den Eisbären fehlen deswegen Lebensraum und Beute. Sie kommen auf die Inseln und an die Fjordküsten, von wo sie manchmal sogar in die Berge hinaufsteigen, auf der Suche nach toten Rentieren und sonstiger Nahrung. Eisbären ist auch eine Brutkolonie der Gänse auf einer Felsinsel willkommen. Sie gehen von Nest zu Nest und fressen die Eier. Die Weißwangengänse sind dem hilflos ausgeliefert, denn die fuchssicheren Inseln sind zur ökologischen Falle geworden, da sie für Eisbären jederzeit schwimmend erreichbar sind.

Zuflucht in den Bergen

Spitzbergen, auf halbem Weg zwischen dem norwegischen Nordkap und dem Nordpol gelegen, besteht zu großen Teilen aus einer riesigen Kalkplatte, die durch Flüsse und Gletscher aufgeteilt ist. Wie der Name der Inselgruppe sagt, sind dabei spitze und steile Berge und scharf eingeschnittene Täler entstanden. Die senkrechten Hänge mit ihren Felsbändern werden besonders an der Küste von Dickschnabellummen und Dreizehenmöwen sowie Eissturmvögeln besiedelt, die Hänge aus groben Schutthalden von dem Millionenheer der Krabbentaucher. Doch oben von Felskanzeln im Steilhang hört man im Juni zu Beginn der Brutzeit tags und nachts die bellenden Rufe der Weißwangengänse. Mit dem Fernglas kann man sie auch im Steilhang stehen sehen, wo es ein wenig Vegetation gibt. Atemberaubend ist das Bild, wenn ein Paar oder eine kleine Gruppe der Vögel fliegend um die Felskanten schwenkt und die Vögel sich himmelhoch im Fels niederlassen. Sie wirken dann eher wie Turmfalken oder Dohlen und nicht wie Gänse, wie man sie aus den Salzwiesen an der Küste kennt. Hier ist seit etwa einem Dutzend Jahren der neue Brutlebensraum der Weißwangengänse entstanden. Menschliche Wanderer auf dem oberhalb gelegenen Plateau haben beobachtet, wie die frisch geschlüpften Gössel unter Aufsicht der Eltern in die Tiefe purzeln, um dann in der Familie die nächste Wasserfläche zu erreichen - sicher die gefährlichste Situation für Eltern und Küken. Hier sind sie buchstäblich gefundenes Fressen für alle: Füchse, Raubmöwen, Eismöwen, wer immer zu den "professionellen" Beutegreifern gehört. Je mehr junge Gänse jedoch zugleich auftauchen, desto weniger kann das Angebot von den Feinden erschöpfend genutzt werden.

Spitzbergens Weißwangengänse im Aufwind

Ähnlich wie die Dunkelbäuchigen Ringelgänse in der sibirischen Arktis waren auch die Weißwangengänse im 20. Jahrhundert dem Aussterben nahe. Die Weißwangengänse Spitzbergens, erst spät von Grönland aus auf der Inselgruppe zugewandert, waren vor allem durch menschliche Verfolgung um das Jahr 1948 auf ein Minimum von etwa 300 Vögeln zusammengeschmolzen. Das ließ sich am besten am Solway Firth im Süden Schottlands beobachten, wo sich die gesamte Spitzbergen-Population noch heute zum Überwintern einfindet. In den 1950er Jahren stellte man dann die Überwinterungspopulation in Schottland unter Schutz, 1955 folgten das Jagdverbot und das Verbot des Eiersammelns in den Brutkolonien Spitzbergens. Seit etwa 1970 werden die durchziehenden Vögel auch in Norwegen von der Jagd verschont. Allmählich erholte sich die Population und hat heute eine Größe von etwa 35 Individuen erreicht. In einigen auf Inseln gelegenen Vogelschutzgebieten Spitzbergens ist nach den heute gültigen Naturschutzbestimmungen das Betreten zur Brutzeit völlig untersagt. Davon wissen allerdings die Eisbären nichts.

Die Weißwangengänse ihrerseits bremsen schon ihr Populationswachstum. Durch Nahrungskonkurrenz im Brutgebiet wird das weitere Wachstum der Population gehemmt. Weißwangengänse erweisen sich als höchst anpassungsfähige Vögel mit wandelbaren Traditionen. Das zeigen sie auch in jüngerer Vergangenheit als neue Brutvögel an den Küsten Mitteleuropas. Möglicherweise sind sie bei uns Vögel der Zukunft und werden künftig auch an vielen binnenländischen Gewässern brüten.


Prof. Dr. Hans-Heiner Bergmann hat nach früheren Erfahrungen in der sibirischen Arktis kürzlich eine Reise nach Spitzbergen unternommen.


Literatur zum Thema:

Bangjord G, Haugskott T, Hammer S 2013: Svalbard birds - a basic field guide. Longyearbyen feldbiologiske forening. Longyearbyen

Black JM, Prop J, Larsson K 2014: The Barnacle Goose. T & AD Poyser, London

Stange R 2013: Spitzbergen - Svalbard. Wissenswertes rund um die Inselgruppe. Spitzbergen-Verlag, Dresden

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Seevögel düngen ihre Umwelt

An manchen Flecken in den Felsen der Inseln grünt und blüht es schon im Frühjahr und den ganzen Sommer über mehr als anderswo in der Tundra. Hier liegt ein Eldorado für weidende Gänse und Schneehühner. Kot, der auf schräg unterhalb von Brutkolonien gelegene, mit Erde bedeckte Hänge fällt, wirkt dort als Dünger. Guano ist das Stichwort. Vor allem bei den Felskolonien der Dickschnabellummen und Dreizehenmöwen sind die Brutplätze weiß von Kot. Auch bei den Krabbentauchern sieht man auf ihren Ruhesteinen schon im Frühjahr zahlreiche weiße Kotspritzer. Wenn der Jungvogel dann in der Bruthöhle aufwächst, gibt er seinen Kot am Eingang ab. Das geht so lange, bis er schließlich flügge wird und von der Brutkolonie zum Meer fliegt. Für eine gemischte Großkolonie auf Spitzbergen hat man die Menge an Hinterlassenschaften berechnet: 70 Vögel produzieren während der Brutsaison 60 Tonnen Guano pro Quadratkilometer. In den Guano gehen außer dem Kot noch Speiballen von Möwen, Eischalen, tote Vögel, Knochen, Federn und auch das Salzdrüsenexkret der Vögel ein. Dieses Gemisch führt unterhalb der Kolonie mithilfe der Vegetation zu einer Produktion von 0,29 mm Boden pro Jahr. Wenn die torfartige Bodenauflage 30 cm dick ist, kann man sie auf 1000 Jahre Kolonieleben der Seevögel zurückführen.

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Quelle:
Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 2/2016
63. Jahrgang, Februar 2016, S. 22-24
mit freundlicher Genehmigung des Autors und des AULA-Verlags
AULA-Verlag GmbH, Industriepark 3, 56291 Wiebelsheim
Tel.: 06766/903 141, Fax: 06766/903 320
E-Mail: falke@aula-verlag.de
Internet: www.falke-journal.de
 
Erscheinungsweise: monatlich
Einzelheftpreis: 4,95 Euro
Das Jahresabonnement für 12 Hefte ist im In-
und Ausland für 56,- Euro zzgl. Porto erhältlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Februar 2016

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