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ZOOLOGIE/1257: Wie kam das tierische Leben in den Strand? (idw)


Stiftung Zoologisches Forschungsmuseum Alexander Koenig, Leibniz-Institut für Biodiversität der Tiere - 23.07.2015

Wie kam das tierische Leben in den Strand?


Torsten H. Struck, Mitarbeiter am Zoologischen Forschungsmuseum Alexander Koenig - Leibniz Institut für Biodiversität der Tiere in Bonn, weist am Beispiel der Ringelwürmer nach, dass die Fauna des Sandlückensystems zwei evolutionäre Wege aufweist. Damit wird jetzt in einer Veröffentlichung der renommierten Zeitschrift Current Biology die derzeit wissenschaftlich favorisierte These widerlegt, die Tierarten im Sand seien vor allem durch progenetische Evolution (evolutionäre Vorverlegung der Geschlechtsreife) entstanden.


Vielmehr spielte Miniaturisierung, also eine Verkleinerung von erwachsenen Individuen einer Art im Laufe der Zeit, ebenfalls eine wesentliche Rolle. Der Nachweis gelang anhand der Untersuchung von 679 Genen mittels moderner molekularbiologischer Methoden.

Bis Anfang des 20. Jahrhunderts ging man davon aus, dass es im Strand oder anderen marinen Sedimenten kein tierisches Leben geben würde. Der bekannte Kieler Zoologe Adolf Remane konnte jedoch zeigen, dass es sehr wohl eine umfangreiche Lebensgemeinschaft im Sandlückensystem gibt. Diese so genannten interstitiellen Arten besiedeln den Raum zwischen den Sandkörnern; sie sind dementsprechend einfach gebaut und mit maximal wenigen Millimetern Länge sehr klein.

Solche Tiere des Sandlückensystems sind von fast allen Gruppen der Wirbellosen bekannt, allerdings ist ihr evolutionärer Ursprung oft unbekannt. Für viele Arten wird angenommen, dass sie die ursprüngliche Organisation früher Organismen zeigen könnten, die von vorneherein immer klein waren und auch blieben. Alternativ wird jedoch heute eher vermutet, dass die Arten im Interstitium mit einer höheren Wahrscheinlichkeit von größeren Tieren abstammen.

In diesem derzeit präferierten Falle wird vor allem die sogenannte progenetische Evolution favorisiert. Bei diesem Szenario wird angenommen, dass die Arten von larvalen oder juvenilen Stadien größerer Vorfahren abstammen, die zunächst nur temporär den Sand besiedelten. Im Laufe der Evolution wurden die neuen Arten "frühzeitig" geschlechtsreif und die weitere körperliche Entwicklung stoppte. Dadurch kam es zu einer dauerhaften Besiedlung des Sandes. Eine dritte, derzeit in der Wissenschaft weniger beachtete Alternative ist die Evolution durch eine schrittweise Reduzierung und Vereinfachung erwachsenere Stadien größerer Arten, welche auch als Miniaturisierung bekannt ist.

Unter der Federführung von Forschern des Zoologischen Forschungsmuseums Alexander Koenig - Leibniz-Institut für Biodiversität der Tiere (ZFMK) wurde die Evolution solcher interstitiellen Arten beispielhaft an der Gruppe der Ringelwürmer untersucht. Die Ringelwürmer oder Annelida sind eine sehr diverse Tiergruppe mit mehr als 15000 beschriebenen Arten.

"Ringelwürmer sind vor allem im marinen Lebensraum eine der dominanten bodenlebenden Tiergruppen, im Besonderen in der Tiefsee. Man kann sie aber auch im eignen Garten oder beim Heilpraktiker finden, da auch der Regenwurm und der Egel zu den Ringelwürmern gehören«, erklärt Struck.

In der neuen Studie, die diese Woche im hochangesehenen Wissenschaftsjournal Current Biology veröffentlicht wurde, untersuchen Struck und Ko-Autoren die verwandtschaftlichen Verhältnisse solcher interstitiellen Arten innerhalb der Annelida mit Hilfe von Transkriptom-Datenbanken, also Datenbanken, die alle zu einem bestimmten Zeitpunkt aktiven Gene erfasst. In den Datenbanken werden die mRNA's erfasst, welche die Zwischenprodukte in der Umsetzung der Gen-Information in Proteine sind. Durch diese Analyse war es den Wissenschaftlern möglich die Stammesgeschichte und Evolution der interstitiellen Anneliden anhand von 679 Genen nachzuvollziehen.

»Unsere Studie zeigt nun, dass die interstitiellen Arten nicht nur durch progenetische Evolution entstanden wie es in den letzten Dekaden angenommen wurde« erläutert Struck. Viel mehr zeigt sich, dass die Miniaturisierung von größeren Arten eine ebenso wichtige Rolle in der dauerhaften Besiedlung des Sandlückensystems spielt. Die Miniaturisierung wird oft aufgrund der vermuteten längeren evolutiven Zeiträume auch in anderen Tiergruppen nicht berücksichtigt. Diese Ergebnisse zeigen, dass neben einer ursprünglichen Besiedlung der Sandlückensystems und der progenetischen Evolution auch in diesen Tiergruppen die Miniaturisierung stärker in Betracht gezogen werden sollte.


Quelle:
Torsten H. Struck, Anja Golombek, Anne Weigert, Franziska A. Franke, Wilfried Westheide, Günter Purschke, Christoph Bleidorn, Kenneth M. Halanych:
The evolution of annelids reveals two adaptive routes to the interstitial realm.
Current Biology.
Url: http://dx.doi.org/10.1016/j.cub.2015.06.007


Das Zoologische Forschungsmuseum Alexander Koenig - Leibniz-Institut für Biodiversität der Tiere hat einen Forschungsanteil von mehr als 75 %. Das ZFMK betreibt sammlungsbasierte Biodiversitätsforschung zur Systematik und Phylogenie, Biogeographie und Taxonomie der terrestrischen Fauna. Die Ausstellung "Unser blauer Planet" trägt zum Verständnis von Biodiversität unter globalen Aspekten bei.

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http://idw-online.de/de/institution150

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Stiftung Zoologisches Forschungsmuseum Alexander Koenig,
Leibniz-Institut für Biodiversität der Tiere, Sabine Heine, 23.07.2015
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Juli 2015

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