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FORSCHUNG/206: Moderne Mathematik hilft bei Vorhersage von Risiken (Leibniz)


Leibniz - Journal der Leibniz-Gemeinschaft 2/2008

KLIMA UND MATHEMATIK
Monsun und Herzinfarkt
Moderne Mathematik hilft bei der Mustererkennung und Vorhersage von Risiken

Von Josef Zens


Wer Klima sagt, meint eigentlich Mathematik - genauer gesagt: bestimmte Teilbereiche der Mathematik. Traditionell ist das die Statistik, denn schließlich ist Klima nichts anderes als das durchschnittliche Wetter an einem bestimmten Ort. Die strenge Definition berücksichtigt auch noch Extremereignisse und ist etwas anspruchsvoller formuliert, aber selbst Meteorologen können mit dieser kurzen Charakterisierung gut leben. In den Bereich der Statistik fallen zum Beispiel auch Bauern- oder Seefahrerregeln; im Juni ganz aktuell: "Regnet es am Siebenschläfertag, es noch sieben Wochen regnen mag."

Ebenfalls mit Klima, aber mit einem ganz anderen Teilbereich der Mathematik beschäftigt sich Prof. Jürgen Kurths von der Humboldt-Universität Berlin, der seit Juni Forschungsbereichsleiter am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) ist. Bei Kurths geht es um nichtlineare Differentialgleichungen, um "Small-World-Networks" und um komplexe Systeme. Das ist zwar genauso kompliziert wie es sich anhört, aber Kurths kann sein Fachgebiet sehr anschaulich erklären. Das Spannende an dieser Art der Mathematik: Sie lässt sich auf Klimaberechnungen ebenso anwenden wie auf Knochendichtemessungen oder die Abschätzung von Herztod-Risiken.

"Wir suchen zum Beispiel nach bestimmten Mustern in den EKG-Kurven", erläutert Kurths. "Mit unseren Methoden können wir bestimmte Risikopatienten eher identifizieren als selbst erfahrene Kardiologen es können." Mit den mathematischen Verfahren lassen sich gleichsam versteckte Signale erkennen. Und was hat das nun mit Klima zu tun? Im Klimasystem gibt es ebenfalls Muster, wie die Siebenschläfer-Witterung, und wiederkehrende Phänomene, den Monsun in Indien etwa. Der tritt zwar regelmäßig auf, aber wann genau er einsetzt, wie stark er ist und ob die damit verbundenen Regenfälle gefährlich für die Ernte sind - all das ist nur schwer vorherzusagen. Doch hängt vom Monsun die Ernährung eines ganzen Subkontinents mit mehr als einer Milliarde Menschen ab. Die Reis-Krise der letzten Monate hat gezeigt, wie empfindlich die asiatischen Volkswirtschaften auf Ernteeinbußen reagieren.

"Bei uns geht es aber nicht um eine 'Monsun-Wettervorhersage'", sagt Kurths, "sondern um das Erkennen von Risiken oder kritischen Punkten". Der Monsun ist ein Phänomen, das einerseits über sogenannte Telekonnektionen mit weit entfernten Klimabedingungen zusammenhängt und andererseits von der regionalen Landnutzung mitbestimmt wird. Anbaufläche und Bewässerung etwa können den örtlichen Wärmehaushalt und die Wolkenbildung beeinflussen. Umgekehrt rufen ein Ausbleiben des Monsuns oder besonders heftige Regenfälle wirtschaftliche Schäden hervor. Es handelt sich also um ein komplexes System mit vielen wechselseitigen Abhängigkeiten, das noch dazu ganz unterschiedliche Skalen umfasst. Um hier Ordnung in das Chaos zu bringen, bedarf es ausgefeilter mathematischer Methoden. Im Ergebnis könnte das auch heißen, dass die Mathematiker gar keine Vorhersagen treffen können.

Ist das dann eine Kapitulation? "Im Gegenteil, ein wichtiger Teil meiner Arbeit befasst sich mit der Vorhersagbarkeit als solches", sagt Kurths. Es sei sehr wichtig zu wissen, mit welcher Sicherheit Prognosen abgegeben werden könnten. Schließlich wolle niemand von seinem Kardiologen hören, er werde bald einen Herzinfarkt erleiden, wenn das gar nicht stimmt. Auch eine falsche Monsunprognose wäre gefährlich und könnte die wirtschaftliche ebenso wie die politische Lage destabilisieren.

Was für den Monsun jedes Jahr aufs Neue zutrifft, lässt sich auf langfristige Klimaprognosen weltweit übertragen: Die Vorhersagen der Klimaforscher führen zu politischen Weichenstellungen mit großer Tragweite. Hinzu kommt noch, dass die Natur zu Sprüngen neigt. Eine stetige Klimaerwärmung könnte also zu einem plötzlichen Umschlagen von bestimmten Teilsystemen führen. Eines der meist zitierten Beispiele ist der Nordatlantikstrom, ein Ausläufer des Golfstroms, der insbesondere Nordeuropa mit Wärme versorgt. "Dieses globale Förderband im Ozean kann zum Stillstand kommen", sagt Kurths. In der geologischen Vergangenheit lassen sich Perioden identifizieren, in denen das der Fall war - und zwar über Jahrhunderte stabil. Kurths: "Eine zentrale Frage ist, ob wir in der Nähe von so einem kritischen Punkt sind."

Nur ein paar Türen weiter forscht dazu sein PIK-Kollege Stefan Rahmstorf, Professor an der Universität Potsdam. Rahmstorf, PIKDirektor Hans Joachim Schellnhuber und weitere Wissenschaftler zählen zu den Autoren eines viel beachteten Fachartikels aus dem Frühjahr 2008 über "tipping points", also Punkte, an denen Systeme kippen können. Besonders gefährdet sind demnach der grönländische Eisschild und das arktische Meereis. Aber auch der Regenwald im Amazonas-Gebiet oder der afrikanische Monsun und das Klimaphänomen El Niño gehören zu den Kippelementen.

Zur klassischen Berechnung der künftigen Klimaentwicklung mit Modellen - bereits das ist höchst anspruchsvolle Mathematik - kommen noch viele weitere Aufgaben für Mathematiker. Dazu gehören die Kopplung von Modellen für Ozeane, Vegetation und Atmosphäre ebenso wie das Einbeziehen von politischen und wirtschaftlichen Modellen. Aber: "Es gibt kein perfektes Modell", sagt Kurths. Die Fachwelt habe sich längst von der Vorstellung verabschiedet, man müsse nur genügend Daten und ausreichend schnelle Rechner haben, dann könne man die Zukunft selbst langfristig vorhersagen. Daher fasst der Mathematiker und Physiker seine Arbeit so zusammen: "Wir entwickeln Werkzeuge, um komplexe Systeme zu beschreiben." Im Ergebnis kommen er und seine Kollegen dann zur Bestimmung von "Korridoren", innerhalb derer sich das künftige Geschehen abspielen wird. Damit können sie die Politik beraten, die dann wiederum nach ihren eigenen Kriterien entscheidet - und damit den Korridor beeinflusst und so neue Rückkopplungen in dieses komplexe System einbringt. Die Arbeit wird den Modellierern also nie ausgehen.


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Wie funktioniert ein Klimamodell?

Klimamodelle arbeiten nach dem gleichen Prinzip wie Wettervorhersagen. Die Lufthülle der Erde wird dazu in einzelne Quader aufgeteilt, so als ob man einen Raum mit lauter Schuhkartons vollstellt.

Jeder der "Atmosphärenkartons" hat sechs Seiten, an denen Wärme, Luft oder Wasser hinein und heraus können. Scheint die Sonne also oben in den "Karton", erhitzt sich die Luft darin, dehnt sich aus und muss deshalb in einen benachbarten Karton. Ein Teil des einfallenden Sonnenlichts und damit der Wärme geht zum darunterliegenden Karton (oder in den Boden bzw. ins Wasser) und so weiter.

Mithilfe von Strömungs- und Wärmegleichungen lassen sich jetzt Temperatur, Druck und Luftfeuchte für jeden Karton berechnen, daraus wiederum leiten sich Wind, Wolkenbildung und Niederschläge ab.

Am Ende hat man einen immensen Datensatz mit Werten für Temperatur, Niederschlag, Wolken und Luftdruck bzw. Windstärke und -richtung für Zigtausende von Punkten (für jede Kartonseite einen) zu bestimmten Zeiten. Diese Punkte bilden ein Gitternetz, das dreidimensional über dem Globus liegt. Der Boden und die Ozeane sind als Grenzen mit bestimmten Eigenschaften im Modell festgelegt, zum Beispiel unterschiedliche Rauheiten oder Wärmeleitfähigkeiten.

Je nach Fragestellung lassen sich nun das Wetter für eine bestimmte Region in den nächsten drei Tagen oder das Klima weltweit in den kommenden hundert Jahren berechnen. Dafür werden die Gitterpunkte mal engmaschiger oder weiter gesetzt, die Zeitschritte kürzer oder länger gemacht und andere Parameter gröber oder feiner justiert.

Grundsätzlich gilt jedoch immer: Je weiter der Blick in die Zukunft geht, desto ungenauer wird die Prognose. Um dennoch zu brauchbaren Aussagen zu kommen, werden Ergebnisse verschiedener Modelle miteinander verglichen oder viele Modellläufe mit minimal veränderten Parametern nacheinander gerechnet. (jz)

Mögliche Kipp-Prozesse im Erdsystem

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Quelle:
Leibniz - Journal der Leibniz-Gemeinschaft, Nr. 2/2008, Seite 8-9
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. August 2008