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ASTRO/098: Der Ur-Sprung des Alls (Spektrum der Wissenschaft)


Spektrum der Wissenschaft 5/09 - Mai 2009

Der Ur-Sprung des Alls

Von Martin Bojowald


Unser Universum hat vielleicht mit einem »Big Bounce« begonnen - mit einem großen Sprung oder Rückprall. Der Urknall wäre demnach die explosive Folge einer noch früheren Implosion, verursacht durch exotische Quanteneffekte.



IN KÜRZE

Gemäß Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie begann das Universum mit der Urknall-Singularität: Die gesamte Materie konzentrierte sich in einem Punkt unendlicher Dichte. Doch diese Theorie ignoriert, dass die Konzentration der Materie und die Stärke der Gravitation durch die feine Quantenstruktur der Raumzeit begrenzt werden. Darum suchen Physiker nach einer Quantentheorie der Gravitation.
Ein Kandidat für eine solche Theorie ist die Schleifen-Quantengravitation. Ihr zufolge ist der Raum in »Atome« des Volumens unterteilt und vermag nur endlich viel Materie und Energie zu speichern. Das verhindert die Existenz echter Singularitäten.
Wenn dem so ist, kann es eine Zeit vor dem Urknall gegeben haben. Vielleicht hat das Universum einst durch einen katastrophalen Kollaps einen Zustand maximaler Dichte erreicht und expandierte danach. Ein großes Zermalmen könnte zunächst zu einem großen Rückprall geführt haben und erst dann zum Urknall.

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Dass es Atome gibt, ist heute so selbstverständlich, dass wir uns kaum vorstellen können, wie radikal diese Idee einst war. Als die Naturforscher vor zwei Jahrhunderten den antiken Atombegriff wieder aufnahmen, dachten sie nicht im Traum daran, etwas so Kleines je beobachten zu können - und viele bezweifelten seinen wissenschaftlichen Charakter. Doch allmählich mehrten sich die Indizien für den atomaren Aufbau der Materie, bis Albert Einstein schließlich 1905 damit die brownsche Bewegung - das zufällige Zittern von Stäubchen in einer Flüssigkeit - erklären konnte. Dennoch dauerte es noch 20 Jahre, bis die Physiker mit der Quantenmechanik eine Theorie der Atomstruktur entwickelten, und nochmals 30 Jahre, bis der deutsch-amerikanische Physiker Erwin Wilhelm Müller einzelne Atome abzubilden vermochte. Heute beruhen ganze Industriezweige auf den charakteristischen Eigenschaften atomarer Materie.

Einen ähnlichen Weg verfolgen Physiker neuerdings, wenn sie die Zusammensetzung von Raum und Zeit verstehen wollen. Das Verhalten der Raumzeit legt nahe, dass ihr eine körnige Struktur zu Grunde liegt - entweder ein Mosaik aus raumzeitlichen »Atomen« oder eine andere filigrane Struktur. Materielle Atome sind die kleinsten unteilbaren Einheiten der chemischen Verbindungen, und ebenso bilden die hypothetischen Raumatome die kleinsten Entfernungseinheiten. Vermutlich sind sie nur 10-35 Meter groß - viel zu klein für die Auflösung der stärksten Instrumente, die heute bei 10-18 Meter Halt machen. Darum zweifeln viele Forscher, ob die Idee einer atomar strukturierten Raumzeit überhaupt wissenschaftlich genannt werden darf. Doch andere suchen hartnäckig nach Möglichkeiten, solche Atome indirekt nachzuweisen.

Am meisten verspricht dabei das Beobachten des Kosmos. Wenn wir die kosmische Expansion in Gedanken zeitlich verkehrt abspielen, schnurrt die Gesamtheit aller sichtbaren Galaxien auf einen einzigen Punkt zusammen: die Urknall-Singularität. An diesem Punkt hat unser Universum gemäß der gängigen Gravitationstheorie - der allgemeinen Relativitätstheorie Einsteins - unendliche Dichte und Temperatur. Dieser Moment wird manchmal als Anbeginn des Universums ausgegeben, als Geburt von Materie, Raum und Zeit. Doch diese Deutung geht zu weit, denn die unendlichen Werte zeigen an, dass hier die allgemeine Relativitätstheorie selbst zusammenbricht. Um zu erklären, was beim Urknall wirklich geschah, müssen die Theoretiker über die Relativitätstheorie hinausgehen. Es gilt, eine Theorie der Quantengravitation zu entwickeln, welche die Feinstruktur der Raumzeit erfasst; die Relativitätstheorie ist blind dafür.

Die Details dieser Struktur kamen unter den extremen Bedingungen des urtümlichen Universums ins Spiel, und Spuren davon machen sich vielleicht in der gegenwärtigen Anordnung von Materie und Strahlung bemerkbar. Kurz gesagt: Wenn Raumzeitatome existieren, wird es nicht wie bei den materiellen Atomen Jahrhunderte dauern, Indizien dafür zu finden. Mit etwas Glück sollten wir innerhalb des nächsten Jahrzehnts Gewissheit haben.


Die Schleifen des Raums

Physiker haben mehrere Kandidaten für Theorien der Quantengravitation ersonnen, die auf jeweils unterschiedliche Art Quantenprinzipien auf die allgemeine Relativitätstheorie anwenden. Meine Arbeit konzentriert sich auf die Loop- oder Schleifen-Quantengravitation; sie wurde in den 1990er Jahren entwickelt, und zwar in zwei Schritten. Zuerst formulierten Forscher die allgemeine Relativitätstheorie so um, dass sie der klassischen Theorie des Elektromagnetismus ähnelte; die »Schleifen« der späteren Theorie sind Analogien elektrischer und magnetischer Feldlinien. Im zweiten Schritt wandten Theoretiker neuartige, teilweise mit der mathematischen Knotentheorie verwandte Quantenregeln auf die Schleifen an. Die daraus entstehende Schleifen-Quantengravitation - oder kurz Schleifengravitation - sagt die Existenz von Raumzeitatomen voraus (siehe »Quanten der Raumzeit« von Lee Smolin, Spektrum der Wissenschaft 3/2004, S. 54).

Zwei andere Ansätze, die Stringtheorie und die so genannte kausale dynamische Triangulation, führen zwar nicht direkt zu Raumzeitatomen, liefern aber gleichfalls Gründe für die Unteilbarkeit kürzester Distanzen (siehe »Universen auf der kosmischen Achterbahn« von Cliff Burgess und Fernando Quevedo, Spektrum der Wissenschaft 2/2008, S. 26, und »Das fraktale Quantenuniversum« von Jan Ambjørn et al., Spektrum der Wissenschaft 2/2009, S. 24). Die Unterschiede dieser Theorien haben Kontroversen ausgelöst, aber in meinen Augen sind sie nicht Gegensätze, sondern ergänzen einander eher. Beispielsweise erweist sich die Stringtheorie als sehr nützlich für die Vereinigung der Teilchenwechselwirkungen - inklusive der Gravitation, sofern sie schwach ist. Um herauszufinden, was an der Singularität geschieht, das heißt bei starker Schwerkraft, sind wiederum die atomaren Konstruktionen der Schleifengravitation nützlicher.

Die Stärke der Theorie besteht darin, dass sie die Veränderlichkeit der Raumzeit zu erfassen vermag. Wie Einstein erkannte, liefert die Raumzeit nicht bloß die Bühne, auf der das Drama des Universums abläuft. Sie spielt selbst aktiv mit; sie bestimmt nicht nur die Bewegungen der Himmelskörper im Universum, sondern entwickelt sich. Ein kompliziertes Wechselspiel zwischen Materie und Raumzeit entsteht. Der Raum kann wachsen und schrumpfen.

Die Schleifengravitation erweitert diese Erkenntnis bis in den Quantenbereich. Indem sie unsere gewohnten Kenntnisse über Materieteilchen auf die Atome von Raum und Zeit anwendet, liefert sie eine einheitliche Sicht unserer grundlegendsten Begriffe. Zum Beispiel beschreibt die Quantentheorie des Elektromagnetismus ein Vakuum als etwas, in dem es keine Photonen oder andere Teilchen gibt, und jede Energiezufuhr erzeugt darin ein neues Teilchen. In der Quantentheorie der Gravitation ist ein Vakuum die Abwesenheit von Raumzeit - eine so gründliche Leere, dass wir sie uns kaum vorstellen können. Die Schleifengravitation beschreibt, wie jeder Energiezuwachs in diesem Vakuum ein neues Atom der Raumzeit erzeugt.

Die Raumzeitatome bilden ein dichtes, sich immerfort wandelndes Gewebe. Neue Atome tauchen auf, während bereits vorhandene angeregt werden und ein größeres Raumstück beisteuern. Im Großen und Ganzen ergibt ihre Dynamik das sich entwickelnde Universum der klassischen allgemeinen Relativitätstheorie. Unter normalen Bedingungen bemerken wir die Existenz der Raumzeitatome überhaupt nicht; das Gewebe ist so dicht, dass es wie ein Kontinuum wirkt. Doch wenn die Raumzeit derart mit Energie vollgepackt wird, wie das beim Urknall der Fall war, macht sich die Feinstruktur der Raumzeit bemerkbar, und die Vorhersagen der Schleifengravitation weichen von jenen der allgemeinen Relativitätstheorie ab.

Da die Anwendung der Theorie extrem schwierig ist, verwenden meine Kollegen und ich vereinfachte Versionen, die nur die wirklich wichtigen Eigenschaften des Universums - etwa seine Größe - berücksichtigen und weniger interessante Details ignorieren. Wir mussten auch viele mathematische Standardwerkzeuge vereinfachen. Beispielsweise beschreiben theoretische Physiker die Welt normalerweise mit Differenzialgleichungen, welche die Veränderungsrate der Dichte und anderer physikalischer Variablen an jedem Punkt des Raumzeitkontinuums angeben. Doch da die Raumzeit körnig ist, verwenden wir stattdessen Differenzengleichungen, die das Kontinuum in diskrete Intervalle aufspalten. Diese Gleichungen beschreiben, wie ein Universum, während es wächst, die Leiter der zulässigen Größen hinaufklettert. Als ich 1999 die kosmologischen Konsequenzen der Schleifengravitation zu analysieren begann, erwarteten die meisten Forscher, diese Differenzengleichungen würden einfach alte Resultate in neuem Gewand ergeben. Aber bald tauchten unerwartete Eigenschaften auf.


Abstoßende Schwerkraft

Die Gravitation ist eine typische Anziehungskraft. Ein kugelförmiges Stück Materie neigt dazu, unter seinem eigenen Gewicht zu kollabieren, und wenn seine Masse groß genug ist, überwindet die Gravitation alle anderen Kräfte und komprimiert die Kugel zu einer Singularität wie im Zentrum eines Schwarzen Lochs. Doch aus der Schleifengravitation folgt, dass die atomare Struktur der Raumzeit bei sehr hohen Energiedichten das Wesen der Schwerkraft verändert: Sie wird abstoßend. Stellen wir uns den Raum als einen Schwamm vor, und Masse und Energie als Wasser. Der porenreiche Schwamm vermag Wasser aufzunehmen, aber nur bis zu einer bestimmten Menge. Wenn er vollgesogen ist, kann er nichts mehr absorbieren, sondern stößt Wasser ab. Genauso ist ein atomarer Quantenraum porös und hat nur endlich viel Stauraum für Energie. Werden die Energiedichten allzu groß, kommen Abstoßungskräfte ins Spiel. Hingegen vermag der kontinuierliche Raum der allgemeinen Relativitätstheorie unbegrenzt viel Energie zu speichern.

Da sich gemäß der Quantengravitation das Kräftegleichgewicht ändert, kann niemals eine Singularität - ein Zustand unendlicher Dichte - entstehen. In diesem Modell hatte die Materie im frühen Universum eine sehr hohe, aber endliche Dichte, die einer Billion Sonnenmassen in jedem Gebiet von der Größe eines Protons entsprach (die so genannte Planck-Dichte). Unter derart extremen Bedingungen wirkte die Gravitation als abstoßende Kraft und verursachte eine Expansion des Raums; als die Dichten moderatere Werte erreichten, wurde die Gravitation zu der Anziehungskraft, die wir alle kennen. Auf Grund der Trägheit ging die Expansion bis zum heutigen Tag weiter.

Die abstoßende Schwerkraft ließ den Raum sogar beschleunigt expandieren. Kosmologische Beobachtungen sprechen für eine derartige anfängliche Beschleunigungsphase, die so genannte kosmische Inflation. Während das Universum expandiert, erlahmt die treibende Kraft der Inflation allmählich. Wenn die Beschleunigung aufhört, wird die überschüssige Energie durch einen Prozess namens Wiederaufheizen (reheating) in gewöhnliche Materie umgewandelt, die nun das Universum zu erfüllen beginnt. Die Inflation wird den üblichen Modellen eher ad hoc hinzugefügt, um diese den Beobachtungen anzupassen, doch in der Schleifen-Quantenkosmologie folgt sie ganz natürlich aus der atomaren Beschaffenheit der Raumzeit. Die Beschleunigung tritt automatisch auf, solange das Universum klein ist und seine Körnigkeit eine Rolle spielt.

Wenn es keine Singularität gibt, die den Beginn der Zeit markiert, könnte die Geschichte des Universums früher begonnen haben, als die Kosmologen bisher dachten. Andere Physiker sind zwar zu demselben Schluss gekommen (siehe »Die Zeit vor dem Urknall« von Gabriele Veneziano, Spektrum der Wissenschaft 8/2004, S. 30), aber ihre - meist stringtheoretischen - Modelle lösen die Singularität selten ganz auf; in der Regel brauchen sie zusätzliche Annahmen über die Vorgänge an diesem heiklen Punkt. Hingegen vermag die Schleifengravitation zu verfolgen, was an Stelle der Singularität stattfand; diese Szenarien sind zwar vereinfacht, kommen aber ohne neue Ad-hoc-Annahmen aus.

Mit Hilfe der Differenzengleichungen können wir versuchen, die tiefe Vergangenheit zu rekonstruieren. Ein mögliches Szenario besagt, dass der anfängliche Zustand hoher Dichte entstand, als ein zuvor existierendes Universum unter der Anziehungskraft der Gravitation kollabierte. Die Dichte wuchs so stark, dass die Schwerkraft abstoßend wurde und das Universum wieder zu expandieren begann. Diesen Vorgang nennen die Kosmologen bounce (Rückprall).

Das erste mit Schleifenmethoden gründlich untersuchte Rückprallmodell war ein idealisierter Fall: ein hochsymmetrisches Universum, das nur eine Sorte Materie enthielt. Die Teilchen waren masselos und traten nicht in Wechselwirkung miteinander. Dieses Modell war zwar vereinfacht, ließ sich aber zunächst nur durch numerische Simulationen verstehen, die Abhay Ashtekar, Tomasz Pawlowski und Parampreet Singh - alle an der Pennsylvania State University - erst 2006 vollendeten. Sie betrachteten die Ausbreitung von Wellen, die das Universum vor und nach dem Urknall darstellten. Wie das Modell deutlich zeigte, folgt eine Welle nicht blind der klassischen Bahn in den Abgrund einer Singularität, sondern hält an und kehrt um, sobald die Abstoßung der Quantengravitation einsetzt (siehe »Ein Kosmos ohne Anfang?« von Thomas Thiemann und Markus Pössel, Spektrum der Wissenschaft 6/2007, S. 32).


Winzige Gedächtnisspuren

Ein interessantes Resultat dieser Simulationen war, dass die notorische Unbestimmtheit der Quantenmechanik sich anscheinend während des Rückpralls ziemlich in Grenzen hielt. Eine Welle blieb während des Rückpralls lokalisiert, statt nach Art üblicher Quantenwellen zu verschmieren. Sofern man das Ergebnis für bare Münze nahm, glich das Universum vor dem Rückprall unserem heutigen aufs Haar: Es gehorchte der allgemeinen Relativitätstheorie und war vermutlich von Sternen und Galaxien erfüllt. Vermeintlich könnten wir demnach von unserem Universum auf Zustände vor dem Rückprall schließen - so wie wir die Wege von zwei Billardkugeln vor einem Zusammenstoß aus ihren Bahnen nach dem Stoß rekonstruieren können.

Leider zerstörte meine spätere Analyse diese Hoffnung. Sowohl das Modell als auch die in den numerischen Simulationen verwendeten Quantenwellen erwiesen sich als Sonderfälle. Wie ich herausfand, verschmieren die Wellen, und zusätzliche Quanteneffekte müssen berücksichtigt werden. Darum ist der Rückprall nicht ein kurzer Stoß durch eine abstoßende Kraft wie bei der Kollision von Billardkugeln. Vielmehr dürfte unser Universum aus einem fast unergründlichen Quantenzustand aufgetaucht sein - aus einer chaotischen, heftig fluktuierenden Welt. Selbst wenn das zuvor existierende Universum einst dem unsrigen noch so sehr glich, machte es eine längere Phase durch, in der die Dichte von Materie und Energie so stark und zufällig schwankte, dass alles durcheinandergeriet.

Die Fluktuationen vor und nach dem Urknall hatten wenig Ähnlichkeit miteinander. Das Universum vor dem Urknall könnte ganz anders fluktuiert haben als das danach, und diese Details wurden im Rückprall ausgelöscht. Kurz, das Universum leidet an tragischer Vergesslichkeit. Die Quanteneffekte während des Rückpralls vernichteten fast alle Spuren seiner Vorgeschichte.

Dieses Bild des Urknalls ist subtiler als das der klassischen Singularität. Während die allgemeine Relativitätstheorie an der Singularität einfach versagt, vermag die Schleifen-Quantengravitation die dort herrschenden Extrembedingungen zu kontrollieren. Der Urknall ist nicht mehr ein physikalischer Beginn oder eine mathematische Singularität, sondern setzt unserem Wissen eine praktische Grenze. Was nach ihm übrig bleibt, kann kein vollständiges Bild dessen liefern, was vorher war.

Das wirkt vielleicht frustrierend, könnte aber ein grundlegendes Problem lösen. In physikalischen Systemen wie im täglichen Leben nimmt die Unordnung tendenziell zu. Dieses Prinzip, der so genannte zweite Hauptsatz der Thermodynamik, spricht gegen ein ewiges Universum. Hätte die Ordnung seit ewigen Zeiten abgenommen, dann müsste das Universum heute längst so desorganisiert sein, dass Strukturen, wie wir sie in Galaxien und auf der Erde sehen, ein Ding der Unmöglichkeit wären. Das rechte Ausmaß an kosmischer Vergesslichkeit kommt da sehr gelegen: Es schenkt dem jungen, wachsenden Universum einen Start als unbeschriebenes Blatt - unbeschwert von all dem Durcheinander, das sich vorher angesammelt hat.

Gemäß der herkömmlichen Thermodynamik gibt es kein wirklich unbeschriebenes Blatt; jedes System behält in der Anordnung seiner Atome stets ein Gedächtnis seiner Vergangenheit (siehe »Der kosmische Ursprung des Zeitpfeils« von Sean M. Carroll, Spektrum der Wissenschaft 8/2008, S. 26). Doch indem die Schleifengravitation eine variable Anzahl von Raumzeitatomen zulässt, gewährt sie dem Universum mehr Freiheit zum Aufräumen als die klassische Physik.

Das soll nicht heißen, es wäre ein hoffnungsloses Unterfangen, die Periode der Quantengravitation zu erforschen. Gravitationswellen und Neutrinos sind besonders viel versprechende Werkzeuge, denn sie interagieren kaum mit Materie und durchdrangen darum das uranfängliche Plasma nahezu ohne Verlust. Diese Boten könnten uns durchaus Nachrichten aus einer Zeit kurz nach oder sogar vor dem Urknall bringen.

Gravitationswellen lassen sich anhand des Abdrucks aufspüren, den sie im kosmischen Strahlungshintergrund hinterlassen (siehe »Der Nachhall des Urknalls« von Robert R. Caldwell und Marc Kamionkowski, Spektrum der Wissenschaft 4/2001, S. 50). Falls eine abstoßende Quantengravitation die Inflation angetrieben hat, sollten diese Beobachtungen Indizien dafür liefern. Die Theoretiker müssen auch herausfinden, ob diese neuartige Quelle der Inflation andere kosmologische Messungen zu reproduzieren vermag - insbesondere die in der kosmischen Hintergrundstrahlung erkennbare frühe Dichteverteilung der Materie.

Zugleich können Astronomen nach raumzeitlichen Analogien zur brownschen Zufallsbewegung suchen. Zum Beispiel könnten Quantenfluktuationen der Raumzeit die Ausbreitung des Lichts über große Distanzen beeinflussen. Gemäß der Schleifengravitation kann eine Lichtwelle nicht kontinuierlich sein; sie muss auf das Raumgitter passen. Je kleiner die Wellenlänge, desto stärker verzerrt das Gitter die Welle. In gewissem Sinn schubsen die Raumzeitatome sie hin und her. Infolgedessen pflanzt sich Licht unterschiedlicher Wellenlänge verschieden schnell fort. Diese Unterschiede sind zwar winzig, können sich aber über große Distanzen summieren. An fernen Quellen wie den Gammastrahlenausbrüchen (gamma ray bursts) ließe sich dieser Effekt am besten nachweisen (siehe »Ein Fenster zum heißen Universum« von William B. Atwood et al., Spektrum der Wissenschaft 4/2008, S. 34).

Im Fall der materiellen Atome vergingen mehr als 2500 Jahre, bis die Spekulation antiker Atomisten durch Einsteins Analyse der brownschen Bewegung zum festen Gegenstand experimenteller Forschung wurde. Bei den Atomen der Raumzeit dürfte es nicht so lange dauern.


Martin Bojowald ist führend an der Erforschung der Folgen der Schleifen-Quantengravitation für die Kosmologie beteiligt. Er gehörte bis 2005 dem Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik in Potsdam an. Seitdem lehrt und forscht er am Institute for Gravitation and the Cosmos an der Pennsylvania State University (USA). 2003 und 2007 erhielt er Preise für seine Beiträge zur Gravitationstheorie.


Literatur:

Bojowald, M.: Zurück vor den Urknall. Fischer, Frankfurt 2009.

Bojowald, M.: Loop Quantum Cosmology. In: Living Reviews in Relativity 11(4), 2008.

Rovelli, C.: Quantum Gravity. Cambridge University Press, Cambridge 2004.

Thiemann T., Pössel, M.: Ein Kosmos ohne Anfang? In: SdW 6/2008, S. 23 - 41.

Weblinks zu diesem Thema finden Sie unter www.spektrum.de/ artikel/987527.

Hören Sie dazu auch unseren Podcast Spektrum Talk unter
www.spektrum.de/talk


ZUSATZINFORMATIONEN:

Die klassische Theorie des Urknalls

Die Idee des Urknalls beruht auf einer simplen Beobachtung: Die Galaxien im Universum bewegen sich voneinander weg. Wenn man diesen Trend zeitlich umkehrt, müssen sich alle Galaxien - oder ihre Vorläufer - vor 13,7 Milliarden Jahren eng zusammengeballt haben. Nach Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie bildeten sie sogar einen einzigen Punkt unendlicher Dichte - die Urknall-Singularität. Doch unendliche Dichte gibt es nicht; dass die Relativitätstheorie so etwas vorhersagt, zeigt an, dass die Theorie unvollständig ist.


Atome des Raums

Die Relativitätstheorie gerät in Schwierigkeiten, weil sie annimmt, der Raum sei ein Kontinuum. Eine raffiniertere Theorie wie die Schleifen-Quantengravitation besagt, dass der Raum eigentlich ein Gewebe winziger »Atome« ist. Deren Durchmesser (rote Linien) entspricht der so genannten Plancklänge; bei dieser Distanz werden Gravitations- und Quanteneffekte vergleichbar groß.


Alternativen zum Urknall

Indem die Schleifen-Quantengravitation eine Grenze für die Energiemenge definiert, die sich in den Raum packen lässt, ersetzt sie die Urknall-Singularität durch einen »großen Rückprall« (big bounce). Dieser Vorgang sieht wie ein Anfang aus, folgt aber eigentlich aus einem vorhergehenden Zustand. Der Rückprall setzt die Expansion des Universums in Gang (siehe Bildunterschriften 2 und 3).


Wenn die Schwerkraft abstoßend wirkt

Je mehr Energie man in ein Raumvolumen packt, desto mehr schrumpft die Wellenlänge der diese Energie tragenden Teilchen; schließlich erreicht sie die Größe der Raumzeit-»Atome«.

Im Raum ist buchstäblich kein Platz mehr. Versucht man noch mehr Energie hineinzupacken, stößt der Raum sie wieder aus. Es scheint, als hätte die örtlich erzeugte Gravitation sich von einer anziehenden Kraft in eine abstoßende verwandelt.


Ein Blick ins Spiegeluniversum

Trotz der Effekte, die das Universum während des großen Zermalmens durcheinanderbrachten, können die Physiker einige fundierte Vermutungen über die Zeit davor riskieren. Manche sind wirklich gewagt. Beispielsweise folgt aus den Differenzengleichungen der Schleifen-Quantengravitation, dass die Raumzeitregion, die dem Rückprall vorausging, ein Spiegelbild des Raums in unserem Universum war. Das heißt, was nach dem Urknall rechtshändig wurde, war vorher linkshändig, und umgekehrt.

Um diesen Effekt zu veranschaulichen, stelle man sich einen Ballon vor, dem die Luft ausgeht, wobei er sich aber nicht in ein schlaffes Gummihäutchen verwandelt, sondern Energie und Impuls behält. Darum kollabiert der Ballon zwar auf minimale Größe, kehrt dann aber sein Inneres nach außen und beginnt wieder zu wachsen. Was zuvor seine Außenseite war, wird zur Innenseite, und umgekehrt. Ebenso stülpt sich auch das Universum um, wenn die Raumzeitatome sich beim großen Rückprall überkreuzen.

Diese Umkehrung ist interessant, weil die Elementarteilchen nicht perfekt spiegelsymmetrisch sind; gewisse Prozesse ändern sich bei Spiegelung. Diese Asymmetrie muss berücksichtigt werden, wenn man verstehen will, was mit der Materie beim Rückprall geschah.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation

Bildunterschrift 1:
Mit dem Gamma-ray Large Area Space Telescope (Glast) können Astronomen nach Indizien für Atome der Raumzeit suchen - etwa nach winzigen Abweichungen von der Lichtgeschwindigkeit bei verschiedenen Wellenlängen.

Bildunterschrift 2:
In diesem Szenario existiert das Universum ewig. Es implodierte, erreichte die maximal zulässige Dichte beim Rückprall und explodierte wieder.

Bildunterschrift 3:
In diesem Alternativszenario war das Universum vor dem Urknall in einem fast unvorstellbaren, noch nicht raumartigen Quantenzustand, als irgendetwas den großen Rückprall und die Bildung von Atomen der Raumzeit auslöste. Welche dieser beiden Alternativen zutrifft, hängt von weiteren Details ab - und von einem besseren Verständnis für das wahre Wesen der Zeit. Daran arbeiten Physiker noch.


© 2009 Martin Bojowald, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
Spektrum der Wissenschaft 05/09 - Mai 2009, Seite 26 - 32
Herausgeber: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Mai 2009

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