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ASTRO/128: Neutrinos als Boten ferner Welten (Spektrum der Wissenschaft)


Spektrum der Wissenschaft 7/10 - Juli 2010

Astrophysik
Neutrinos als Boten ferner Welten

Von Graciela B. Gelmini, Alexander Kusenko und Thomas J. Weiler


Da Neutrinos Materie fast ungehindert durchdringen, bringen sie uns Nachricht aus dem tiefsten Inneren der Sterne. Allmählich gelingt es, solche Botschaften zu entschlüsseln.


In Kürze
Kein Elementarteilchen reagiert so wenig mit Materie wie die Neutrinos; darum enthüllen sie das Innerste der Sterne und andere sonst unzugängliche Orte im Kosmos.
Dieser Vorzug hat leider den Nachteil, dass sie sich in einem Detektor kaum bemerkbar machen. Erst in aller letzter Zeit gelingt es, kosmische Neutrino quellen eindeutig zu identifizieren.
Neutrinos existieren in mehreren Varianten und können sich im Flug verwandeln. Diese spezielle Eigenschaft liefert zusätzliche Informationen über ihre kosmische Herkunft.

Den Physik-Nobelpreis von 2002 haben sich Raymond Davis und Masatoshi Koshiba gleich mehrfach verdient. Davis gelang der Nachweis der Sonnenneutrinos; damit wurden zum ersten Mal solche extrem flüchtigen Teilchen aufgespürt, die nicht von der Erde stammten. Koshiba entdeckte Neutrinos, die von der großen Supernova-Explosion 1987 ausgingen. Mit diesen Meisterstücken der Experimentierkunst wurde nachgewiesen, dass die vermeintlich masselosen Geisterteilchen tatsächlich eine - wenn auch winzige - Masse haben. Doch vor allem zeichnete das Nobelpreiskomitee Davis und Koshiba dafür aus, dass sie einen neuen Wissenschaftszweig etablierten: die Neutrinoastronomie.

Damit avancierten die Partikel von einer theoretischen Kuriosität zu einem praktischen Werkzeug für die Erforschung des Alls. Ähnlich wie Astronomen vor 100 Jahren immer größere optische Teleskope konstruierten, bauen sie nun riesige Neutrinoteleskope. Diese Observatorien haben bereits Zehntausende der Teilchen eingefangen und damit die Sonne abgebildet. Neutrinos aus anderen kosmischen Quellen lassen sich nur schwer von den in der irdischen Atmosphäre erzeugten unterscheiden, aber schon im Frühjahr 2011 sollte auch das mit neuen Instrumenten gelingen.

Dann werden sich die Schleusen wahrer Datenfluten öffnen, und ein einst als unbeobachtbar missachtetes Partikel könnte unentbehrlich werden. Neutrinos vermögen Dinge zu enthüllen, für die Licht blind ist. Wenn wir die Strahlung der Sonne analysieren, sehen wir nur ihre Oberfläche - ein paar hundert Kilometer der obersten Gasschichten. Obwohl die Energie durch Kernreaktionen tief im Inneren entsteht, wird das Sonnenlicht von den äußeren Gasschichten unzählige Male absorbiert und wieder emittiert. Hingegen offenbaren die Neutrinos unmittelbar den zentralen Fusionsreaktor - das heißeste Volumenprozent im Herzen der Sonne. Die dort erzeugten Exemplare durchqueren die Außenschichten fast wie leeren Raum.

Mit Neutrinos werden wir auch tief in Supernovae und andere Sternexplosionen - etwa Gammastrahlungsausbrüche - hineinschauen sowie in die Scheiben, die um superschwere Schwarze Löcher wirbeln. Die jetzt im Bau befindlichen Observatorien dürften innerhalb der nächsten 50 Galaxien rund eine Supernova pro Jahr aufspüren. Vermutlich sehen sie auch ein paar von den Hunderten Gammastrahlungsausbrüchen, die sich jedes Jahr ereignen, ganz zu schweigen von noch exotischeren und bislang unbemerkten Himmelsobjekten. Doch wie jedes mächtige Werkzeug erfordert auch der Umgang mit Neutrinos eine gewisse Übung. Die Astronomen müssen neue Methoden lernen.


Faszinierende Eigenbrötler

Für den Teilchenphysiker gleicht das Neutrino dem Elektron - bis auf die fehlende elektrische Ladung. Dadurch ist es immun gegen die elektromagnetischen Kräfte, die in der Alltagswelt herrschen. Wenn wir auf einem Stuhl sitzen, bewahrt uns die elektrische Abstoßung davor, hindurchzufallen. Wenn Chemikalien reagieren, tauschen Atome Elektronen oder teilen sie sich. Wenn Materie Licht absorbiert oder reflektiert, reagieren geladene Teilchen auf ein oszillieren des elektromagnetisches Feld. Doch da Neutrinos elektrisch neutral sind, passieren sie Festkörper praktisch ungehindert; sie spielen in der Atomphysik keine Rolle und blieben lange völlig unbemerkt.


EIN BLICK DURCH DIE NEUTRINOBRILLE

Der Neutrinohimmel
Durch diese Brille sieht der Himmel etwa so aus wie auf dem Bild, das mit dem halb fertigen IceCube-Observatorium von April 2008 bis Mai 2009 aufgenommen wurde. Die fast 20.000 Neutrinos (Punkte) stammen aus dem Kosmos sowie aus der oberen Erdatmosphäre. Die Subtraktion der atmosphärischen Produkte lässt ein mögliches kosmisches Signal übrig (farbig). Das Signal ist nur »möglich«, denn erst der komplette IceCube wird astronomische Quellen eindeutig identifizieren. IceCube sieht den gesamten Nord- und Südhimmel auf einmal, denn die Erde ist für die meisten Neutrinos - ausgenommen die mit höchsten Energien - fast transparent.

Ansichten der Sonne
Nachdem Astronomen die Sonne bei jeder Strahlungswellenlänge erforscht haben, sehen sie das Gestirn jetzt mit Neutrinoaugen. Das mit dem Super-Kamiokande-Experiment fabrizierte Bild (ganz rechts) ist sehr unscharf: Seine Auflösung beträgt 26 Grad, während die Sonne nur 0,5 Grad groß ist (schwarzer Kreis); dennoch ist das ein technischer Durchbruch. Während die Strahlung bloß die Oberfläche zeigt, offenbaren Neutrinos das Innerste der Sonne.

(Abbildungen der Originalpublikation im Schattenblick nicht veröffentlicht.)


Die uns bekannten Neutrinotypen unterliegen der schwachen Kernkraft; sie ist für den radioaktiven Betazerfall verantwortlich sowie für die Fusion schwererer Elemente. Doch diese Kraft ist, wie der Name sagt, schwach - außer über extrem kleine Distanzen. Darum treten Neutrinos mit anderen Teilchen kaum in Wechselwirkung. Um sie zu entdecken, müssen Physiker und Astronomen große Materievolumina beobachten und darin nach seltenen Spuren suchen. Falls kosmische Neutrinos wie erwartet insgesamt so viel Energie haben wie die als kosmische Strahlung auf unseren Planeten einstürzenden Protonen und Ionen, braucht man einen Kubikkilometer Materie, um eine nennenswerte Partikelmenge einzufangen. Die größten Observatorien sind fast so riesig (siehe Kasten S. 29).


EIN SELTSAMES RIESENTELESKOP

Ein Neutrino verrät sich, wenn es mit einem Atomkern kollidiert und ein geladenes Teilchen - entweder ein Elektron oder einen von dessen nahen Verwandten, ein Myon oder Tau - freisetzt, das wiederum sichtbares Licht oder Radiowellen emittiert. Da solche Ereignisse selten sind, müssen die Astronomen ein großes Materievolumen überwachen, um wenigstens einige aufzuspüren. Gut eignet sich Wasser, ob flüssig oder gefroren: Es ist ziemlich dicht - was die Kollisionshäufigkeit erhöht - und zugleich transparent, wodurch das erzeugte Licht sichtbar wird.

Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

IceCube aus der Nähe

Das Detektormaterial des IceCube-Observatoriums ist die Eisdecke der Antarktis - rund 1,4 Kilometer unter der Südpolstation.

Basketballgroße Lichtdetektoren werden tief im Eis vergraben und nehmen das von geladenen Teilchen emittierte Licht auf. Aus dem präzisen Zeitverlauf der Lichtsignale (in der Zeichnung durch Farben symbolisiert) rekonstruieren die Forscher Richtung und Energie der ursprünglichen Neutrinos.

Die Arbeit begann im südlichen Sommer 2005/2006 und soll 2010/2011 beendet sein. Die Forscher bohren mit heißem Wasser 2,5 Kilometer tiefe Löcher und versenken die Fotodetektoren an einem Kabel.

Ein Detektorenfeld auf der Oberfläche identifiziert kosmische Strahlen, die den Neutrinonachweis stören.

IceCube: 1000 Meter - Empire State Building: 318 Meter


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OBSERVATORIEN

Super-Kamiokande
Ort: nördlich von Nagoya (Japan)
Detektorvolumen: 50.000 Kubikmeter
Betriebsbeginn: 1996
Winkelauflösung: 26 Grad
Energiebereich: 108-1012eV

Konstruktion
Fotodetektoren säumen einen riesigen Wassertank in einer Zinkmine. Physiker möchten durch 20-fache Erweiterung den Hyper-Kamiokande schaffen.


Pierre-Auger-Observatorium
Ort: südlich von Mendoza (Argentinien)
Detektorvolumen: 30.000 km3 (Teleskopgröße),
20.000 m3 (Bodendetektoren)
Betriebsbeginn: 2004
Winkelauflösung: 0,5-2 Grad
Energiebereich: 1017-1021eV

Konstruktion
Auger ist vor allem ein Detektor für kosmische Strahlen, entdeckt aber mit einem Feld von 1600 kleinen Wassertanks auch energiereiche Neutrinos. Außerdem halten UltraviolettTeleskope nach Teilchenkollisionen in der Atmosphäre Ausschau.


Antarctic Impulse Transient Array (ANITA)
Ort: McMurdo-Station (Antarktis)
Detektorvolumen: 1 Million km3
Flugzeiten: 2006-2007, 2008-2009
Winkelauflösung: 1-2 Grad
Energiebereich: 1017-1021eV

Konstruktion
Ein Ballon schwebt einen Monat lang über der Antarktis, um nach Radiowellen zu suchen, die von energiereichen, mit der Eisdecke kollidierenden Neutrinos stammen.


Astronomy with a Neutrino Telescope and Abyss Environmental Research (ANTARES)
Ort: Mittelmeer bei Marseille (Frankreich)
Detektorvolumen: 0,05 km3
Betriebsbeginn: 2008
Winkelauflösung: 0,3 Grad
Energiebereich: 1013-1016eV

Konstruktion
Zwölf am Meeresboden verankerte Fotodetektorstränge suchen nach Kollisionen im Wasser. ANTARES ist eines von drei Pilotprojekten für das KM3NeT, ein für 2011 bis 2015 geplantes kubikkilometergroßes Neutrinoteleskop.


IceCube
Ort: Südpol
Detektorvolumen: 1 km3
geschätzte Fertigstellung: 2011
Winkelauflösung: 1-2 Grad
Energiebereich: 1011-1021eV

Konstruktion
86 lichtempfindliche Detektorstränge und einige Radioantennen werden durch Bohrlöcher ins Eis versenkt und frieren dort fest. IceCube ist die vergrößerte Version des früheren AMANDA-Experiments (Antarctic Muon and Neutrino Detector Array).


Extreme Universe Space Observatory (EUSO)
Ort: Internationale Raumstation
Detektorvolumen: 1 Million km3 Luft
(entspricht 1000 km3 Eis)
geschätzte Fertigstellung: 2015
Winkelauflösung: 1-2 Grad
Energiebereich: 1019-1021eV

Konstruktion
Ein Ultraviolett-Teleskop des Japanese Experiment Module (JEM) wird die Erdatmosphäre nach Spuren geladener Teilchen durchsuchen.


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RÜCKSCHLUSS AUF DEN NEUTRINO-FLAVOR

Jeder Neutrinotyp oder Flavor setzt sein zugehöriges Teilchen frei - ein Elektronneutrino ein Elektron, ein Myonneutrino ein Myon und ein Tau neutrino ein Tau. Anhand der unterschiedlichen Lichtmuster lässt sich der Flavor auf 25 Prozent genau feststellen.

Elektronneutrino
Das Elektron tritt mit Atomen in Wechselwirkung und gibt seine Energie ab. Ein fast kugelförmiges Volumen leuchtet auf.

Myonneutrino
Da das Myon weniger wechselwirkt, legt es mindestens einen Kilometer zurück und erzeugt dabei eine kegelförmige Lichtspur.

Tauneutrino
Das Tau zerfällt rapide. Seine Entstehung und sein Zerfall bringen zwei Lichtkugeln hervor - den typischen »Doppelknall« (double bang).

(Abbildungen der Originalpublikation im Schattenblick nicht veröffentlicht.)


Physiker haben zusätzlich so genannte sterile Neutrinos postuliert, die so prüde sind, dass sie sogar auf die schwache Kraft kaum reagieren; die Gravitation wäre ihre stärkste Verbindung zum übrigen Universum. Diese Sorte ist noch schwieriger zu entdecken (siehe Kasten S. 31).


STERILE NEUTRINOS

Gelegentlich dachten Kosmologen, die rätselhafte Dunkle Materie könnte aus Neutrinos bestehen; dafür erwiesen sich die Teilchen aber als zu leicht - sie besitzen höchstens ein Millionstel der Elektronmasse. Möglich wäre jedoch, dass es eine noch unbeobachtete Variante gibt, so genannte sterile Neutrinos, die nicht auf die schwache Kernkraft reagieren und die gewünschte Masse mitbringen.

Der Nachweis steriler Neutrinos erscheint zunächst völlig unmöglich, aber dasselbe dachte man früher auch von gewöhnlichen Neutrinos. Vielleicht verraten sie sich bei Supernova-Explosionen. Da solche Sternkatastrophen asymmetrisch ablaufen, würden die Partikel bevorzugt in eine Richtung emittiert, und der Reststern müsste einen Stoß von mehreren hundert Kilometern pro Sekunde in Gegenrichtung erleiden. Tatsächlich beobachten die Astronomen diesen Rückstoß und können ihn bislang nicht erklären.

Außerdem könnten sterile Neutrinos instabil sein und zu Röntgenphotonen zerfallen. Das Chandra-Röntgenobservatorium entdeckte schwache Emissionen, die auf ein steriles Neutrino mit einem Hundertstel der Elektronmasse hinweisen, und die Suzaku-Röntgenmission fand ebenfalls ein schwaches Signal dieser Art. Der Zerfall steriler Neutrinos könnte auch den Wasserstoff im frühen Universum ionisiert haben oder sogar erklären, warum es viel mehr Materie als Antimaterie gibt. Doch vorläufig sind all diese Indizien uneindeutig.


Obgleich Neutrinos Eigenbrötler sind, neh men sie aktiv am kosmischen Geschehen teil. Sie sind stets ein Nebenprodukt des Betazerfalls, der nicht nur die Trümmer explodierter Sterne und das Innere der Planeten erwärmt, sondern auch ein wichtiger Zwischenschritt bei der stellaren Kernfusion ist. Neutrinos spielen eine zentrale Rolle bei einem der zwei Supernova-Typen: Die Implosion eines sterbenden massereichen Sterns komprimiert sein Inneres auf die Dichte von Atomkernen und setzt binnen 10 bis 15 Sekunden 1058 Neutrinos frei. In solchen Unmengen wird sogar das ungeselligste Teilchen zum Mittelpunkt des Geschehens. Neutrinos machen 99 Prozent der bei der Sternexplosion frei werdenden Energie aus. Wenn wir sie beobachten, gewinnen wir also jene 99 Prozent des Bilds, die gewöhnlichen Teleskopen entgehen - inklusive der entscheidenden Frühstadien. Der Nachweis der von der Supernova 1987 ausgehenden Neutrinos bestätigte die Grundzüge der Theorie vom stellaren Kollaps (siehe »Die große Supernova von 1987« von Stan Woosley und Tom Weaver, Spektrum der Wissenschaft 10/1989, S. 86). Die jetzt verfügbaren Detektoren können Kollaps, Rückprall und Explosion in Echtzeit wiedergeben.

Manche kosmischen Strahlen sind geradezu unerklärlich energiereich. Neutrinos können ihre geheimnisvolle Quelle enthüllen

Woher die Neutrinos auch stammen mögen, sie erreichen ohne Schwierigkeit die Erde. Sie durchdringen nicht nur Gas und Staub, sondern können sogar das gesamte Universum durchqueren, gleichgültig, wie hoch ihre Energie ist. Für Licht gilt das nicht. Die besonders energiereichen Gammastrahlen werden durch die kosmische Hintergrundstrahlung - diffuse Mikrowellen, die der Urknall hinterlassen hat - geschwächt. Gammastrahlungsphotonen mit 100 TeV (Teraelektronvolt) Energie kommen kaum einige zehn Millionen Lichtjahre weit. Auch energiereiche kosmische Strahlen werden blockiert.

Somit sind Neutrinos für Astronomen eines der wenigen Mittel, die gewaltigsten Naturphänomene zu erforschen. Sie sind schwer zu fangen, aber der Aufwand lohnt sich.


Drei Typen mit Geschmack

Sie sind nicht nur unnahbar, sondern haben auch die seltsame Gabe, sich zu verwandeln. Wie bei allen fundamentalen Materieteilchen gibt es drei Versionen, so genannte Flavors (englisch für Geschmack). Das Elektron (e) hat zwei schwerere Verwandte, das Myon (µ) das Tau (τ), und jedes besitzt einen Neutrinopartner: das Elektronneutrino ve, das Myonneutrino vµ und das Tauneutrino vτ.

Doch während Elektron, Myon und Tau feste Massen haben, gilt das nicht für die drei Neutrinoflavors. Misst man die Masse eines Neutrinos mit einem bestimmten Flavor, erhält man zufällig eines von drei Resultaten, jeweils mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit. Misst man umgekehrt den Flavor eines Neutrinos mit gegebener Masse, bekommt man eines von drei Ergebnissen. Ein Neutrino kann entweder einen spezifischen Flavor oder eine definierte Masse haben, aber nicht beides auf einmal. Die Massenzustände v1, v2, v3 unterscheiden sich von den Zuständen ve, vµ und vτ.

Damit widersprechen die Neutrinos unserer grundlegenden Erfahrung mit Alltagsobjekten. Ein Basketball wiegt rund 600 Gramm, ein Tennisball knapp 60. Doch wenn Bälle sich wie Neutrinos benähmen, wöge ein Basketball manchmal 600, manchmal 60 Gramm. Insofern ähneln die Teilchen eher Menschen mit ihrer mehrfachen Gruppenidentität. Zum Beispiel können Wissenschaftler zugleich einem Institut und einer Partei angehören. Umfragen zufolge sind amerikanische Forscher zu sechs Prozent Republikaner, aber das heißt nicht, dass sechs Prozent der Forschungsinstitute zu dieser Partei gehören, sondern vielmehr, dass in einem typischen Labor sechs von 100 zufällig ausgewählten Wissenschaftlern Republikaner sind. In gleicher Weise kann sich ein v1-Neutrino in einem Detektor mit berechenbarer Wahrscheinlichkeit als ve, vµ oder vτ manifestieren.

Der Flavor legt fest, wie Neutrinos von der schwachen Kernkraft beeinflusst werden, und die Masse bestimmt, wie sie sich durch den Raum bewegen. Beispielsweise erzeugt der Betazerfall nur Neutrinos des Flavors ve. Für ihre Bahn im Raum ist ihr Flavor unwichtig; ihr Massenzustand diktiert ihr Verhalten. Das ve ist eine Mischung aus v1, v2 und v3 in einem Verhältnis, das Physiker Mischungswinkel nennen. An Stelle eines einzigen Teilchentyps müssen die Physiker nun drei verfolgen. Schließlich reagieren die Neutrinos mit dem Material eines Detektors, und dabei kommt es wiederum auf den Flavor an. Falls die relativen Anteile der Massenzustände unverändert geblieben sind, addieren sie sich wieder zum ursprünglichen Flavor - beim Betazerfall zu ve. Aber das muss nicht sein. Während die Partikel als Massenzustände unterwegs sind, können gewisse Effekte die Mischung und somit ihren Flavor verändern. Durch diesen Vorgang werden sie umgewandelt.

Jeder Massenzustand entspricht nach den Prinzipien der Quantenmechanik einer Welle mit bestimmter Wellenlänge. Die Wellen überlappen sich und interferieren miteinander. Um einen Vergleich mit der Akustik zu bemühen: Ein Neutrino gleicht einer Schallwelle, die aus drei reinen Tönen besteht. Wie jeder weiß, der je ein Musikinstrument gestimmt hat, erzeugen überlagerte Schallwellen mit geringfügig verschiedenen Tonhöhen oder Wellenlängen so genannte Schwebungen - eine Schwankung der Schallstärke. Im Fall der Neutrinos wirkt eine Massendifferenz wie ein Unterschied der Tonhöhe, und die Schwebungen verursachen eine räumliche Oszillation des Flavors (siehe Kasten S. 30).


DIE METAMORPHOSE DER NEUTRINOS

Im Gegensatz zu anderen Teilchensorten mutieren Neutrinos, während sie durch den Raum jagen. Die Astronomen müssen diesen Effekt rechnerisch umkehren, um zu rekonstruieren, wie die Teilchen ursprünglich aussahen und wodurch sie entstanden.

Mehrdeutige Identität
Ein Neutrino hat die einzigartige Fähigkeit, zu mutieren, weil es zwei Identitäten besitzt. Es kann drei unterschiedliche Flavors und unabhängig davon dreierlei Massen haben.

Hingegen hat ein gewöhnliches Objekt eindeutige Eigenschaften. Ein Ball ist entweder ein 600 Gramm schwerer Basketball, ein gut 400 Gramm schwerer Fußball oder ein 60 Gramm schwerer Tennisball. Wenn Bälle sich wie Neutrinos verhielten, müssten Gewicht und Balltyp nicht übereinstimmen, und der Ball könnte im Flug den Typ wechseln.

Der Flavor bestimmt, wie das Teilchen mit Materie wechselwirkt. (ve Elektronneutrino, vµ Myonneutrino, vτ Tauneutrino)

Die Masse bestimmt, wie das Teilchen sich durch den Raum bewegt. (v1, v2, v3)


FLAVOR-OSZILLATIONEN

Wenn ein Neutrino erzeugt oder nachgewiesen wird, hat es einen bestimmten Flavor. Beispielsweise erzeugt der Betazerfall des Neutrons ein Elektronneutrino (1). Dieses Neutrino hat keine bestimmte Masse, sondern ist ein Gemisch aus allen drei Möglichkeiten, dargestellt durch eine Summe aus drei Wellen unterschiedlicher Wellenlänge (2). Während das Neutrino sich fortbewegt, geraten die Wellen aus dem Takt; sie addieren sich nicht mehr zu dem ursprünglichen Flavor, sondern zu einem Gemisch aus allen drei Flavors (3). Das Gemisch variiert, während das Neutrino unterwegs ist (4). Hier beträgt die Mischung im Mittel 5:2:2 - das heißt, im Detektor erscheint mit einer Wahrscheinlichkeit von fünf Neunteln ein Elektronneutrino und mit je zwei Neunteln Wahrscheinlichkeit ein Myon- oder Tauneutrino.

(Abbildungen der Originalpublikation im Schattenblick nicht veröffentlicht.)


FLAVORMISCHUNGEN

Astrophysikalische Prozesse erzeugen unterschiedliche Flavormischungen, die sich durch Zurückrechnen der Metamorphose herleiten lassen. Im Detektor tauchen Myon- und Tauneutrinos auf Grund ihrer Symmetrieeigenschaften stets zu gleichen Teilen auf.

Quelle
 Mischung an der Quelle
 Mischung auf der Erde
Neutronzerfall
Pionzerfall (vollständig)
Pionzerfall (unvollständig)
Zerfall Dunkler Materie (Beispiel)
Raumzeit-Schaum
Neutrinozerfall
(v1 am leichtesten)
Neutrinozerfall
(v3 am leichtesten)
 1ve:0vµ:2vτ
 1:2:0
 0:1:0
 1:1:2
 ­beliebig

 ­beliebig

 ­beliebig
 5ve:2vµ:2vτ
 1:1:1
 4:7:7
 7:8:8
 1:1:1

 4:1:1

 0:1:1

Die Sonne zum Beispiel erzeugt Elektronneutrinos. Bevor sie die Erde erreichen, werden sie zu einer Mischung aus allen drei Flavors. Die bahnbrechenden Experimente von Davis und Koshiba zeichneten nur Elektronneutrinos auf; sie ignorierten die Myon- und Tauneutrinos, in die sich viele Elektronneutrinos unterwegs verwandelt hatten. Erst der Detektor des Sudbury Neutrino Observatory in Kanada konnte 2001 und 2002 alle drei Flavors nachweisen (siehe »Ende einer unendlichen Geschichte« von Georg Wolschin, Spektrum der Wissenschaft 10/2002, S. 21).

Ein weiterer Fall von Neutrino-Metamorphose tritt auf, wenn die Partikel in der oberen Erdatmosphäre entstehen. Kosmische Strahlen kollidieren in der Luft mit Atomkernen und erzeugen instabile Teilchen, so genannte Pionen, die in Elektron- und Myonneutrinos zerfallen. Diese Neutrinos flitzen dann als Massenzustände ungehindert durch Luft und Erde. Je weiter ihr Weg bis zum Detektor ist, desto mehr Myonneutrinos verwandeln sich in Tauneutrinos. Darum sehen die Neutrinoobservatorien halb so viele Myonneutrinos, die von unten - von der anderen Seite des Planeten - kommen, wie von oben, direkt aus der äußeren Atmosphäre.


Kosmische Teilchenbeschleuniger

Für Neutrinoastronomen trägt der Flavor ähnlich bedeutsame Information wie die Polarisation von Licht. Ein Himmelsobjekt kann nicht nur Strahlung einer bestimmten Polarisation aussenden, sondern auch Neutrinos mit gewissen Flavors, und aus deren Messung schließen die Astronomen, welche Prozesse innerhalb der Quelle abgelaufen sind. Der Trick besteht darin, die Metamorphose, welche die Partikel auf ihrer Reise erfahren haben, rechnerisch rückgängig zu machen.

Wenn wir die Energie und die zurückgelegte Wegstrecke eines Neutrinos präzise messen könnten, dann wüssten wir, an welcher Stelle sein Oszillationszyklus aufgehört hat, und wären in der Lage, die relativen Anteile der drei Flavors zu berechnen. Diese Präzision fehlt uns. Über große Distanzen und lange Zeiten oszillieren die Teilchen so oft, dass wir die Flavormischung nicht verfolgen können - sie erscheint uns verschwommen. Stattdessen begnügen wir uns mit einem statistischen Mittelwert, den die so genannte Flavor-Ausbreitungsmatrix beschreibt. Aus dieser Matrix können die Astronomen herleiten, wie das beobachtete Mischungsverhältnis ursprünglich ausgesehen haben muss.

Zum Beispiel stammen viele Neutrinos vermutlich von extrem energiereichen Kollisionen zwischen Photonen und Protonen. Dieser Vorgang findet in gewaltigen kosmischen Teilchenbeschleunigern statt - an den Stoßfronten von Supernova-Resten und in den von Schwarzen Löchern erzeugten Jets - sowie in den Tiefen des Raums, wo kosmische Strahlen mit der Hintergrundstrahlung wechselwirken. Die Kollisionen produzieren geladene Pionen, die zu Myonen und Myonneutrinos zerfallen. Die Myonen wiederum zerfallen unter anderem in Elektronen und Elektronneutrinos. Der resultierende Neutrinostrom besteht aus einem Teil ve, zwei Teilen vµ und keinem vτ - ein Flavorverhältnis von 1:2:0. Aus den entsprechenden Werten in der Ausbreitungsmatrix schließen wir, dass dieses Verhältnis sich zu 1:1:1 entwickelt. Wenn ein irdisches Experiment etwas anderes sieht als 1:1:1, dann kann die Pion-Zerfallskette nicht die Quelle der Neutrinos sein.

Mitunter verlieren die Pionen Energie, weil sie mit anderen Partikeln kollidieren oder weil sie in einem Magnetfeld eine gekrümmte Bahn beschreiben und dabei Strahlung emittieren. Dadurch kommt das Myon, in welches das Pion zerfällt, nicht mehr als energiereiche Neutrinoquelle in Frage, und die ursprüngliche Flavormischung beträgt 0:1:0. Gemäß der Ausbreitungsmatrix wird dann das Verhältnis auf der Erde nicht 1:1:1 ausmachen, sondern 4:7:7. Falls ein Experiment für niederenergetische Neutrinos einen Flavor 1:1:1 feststellt, aber 4:7:7 für hochenergetische, können Astronomen daraus auf die Teilchendichte und magnetische Feldstärke der Quelle schließen.

Neutrinos stammen manchmal auch aus so genannten Betastrahlenquellen. In kosmischen Teilchenbeschleunigern können sehr schnelle Atomkerne Pionen austauschen oder einfach zerfallen; dabei entsteht ein Strahl schneller Neutronen. Die Neutronen gehen durch Betazerfall in einen reinen Strahl aus Elektronen und Elektronneutrinos über, mit einem Flavorverhältnis 1:0:0. Nach Anwendung der Ausbreitungsmatrix ergibt sich als Flavormischung auf der Erde 5:2:2.

Unabhängig von der anfänglichen Mischung kommen die beiden Flavors vµ und vτ auf der Erde stets in gleichen Mengen an. Dieser Umstand deutet auf eine tiefere, noch ungeklärte Symmetrie und ist bemerkenswert, weil demnach Tauneutrinos immer in Teleskopen auftauchen, obwohl keine bekannte astrophysikalische Quelle sie produziert.

Das Flavorverhältnis vermag über die unterschiedlichen Vorgänge in Himmelsobjekten besser Auskunft zu geben als jede andere Informationsquelle. Zusammen mit kosmischen und Gammastrahlen werden Neutrinos den Mechanismus und das Energiebudget der mächtigsten natürlichen Beschleuniger aufklären. Damit lässt sich unterscheiden, ob kosmische Teilchenbeschleuniger rein elektromagnetisch funktionieren - wobei keine Neutrinos entstehen - oder ob schwere Partikel beteiligt sind, denn dann tauchen Neutrinos auf. Vielleicht löst sich auf diese Weise sogar ein Rätsel, das die Astronomen besonders quält: Wie entsteht die kosmische Strahlung höchster Energie? Einige kosmische Strahlen sind so energiereich, dass an ihrer Erklärung die herkömmliche Physik zu scheitern droht; Neutrinos können das Innere des geheimnisvollen Entstehungsorts aufdecken.

Das gilt auch für andere Naturvorgänge. Der Zerfall von Teilchen der Dunklen Materie liefert vermutlich Neutrinos im Verhältnis 1:1:2, das sich zu ungefähr 7:8:8 weiterentwickelt. In bestimmten Quantentheorien der Gravitation vibriert in mikroskopischem Maßstab das Gewebe der Raumzeit selbst. Neutrinos sehr hoher Energie haben so kurze Wellenlängen, dass sie vielleicht für diese Fluktuationen empfindlich sind. Die Raumzeitschwankungen durchmischen dann den Flavor und führen zu dem beobachteten Verhältnis von 1:1:1. Wenn die Physiker künftig eine andere Mischung als 1:1:1 messen, können sie bestimmte Theorien ausschließen und die Energieniveaus bestimmen, bei denen Quantengravitationseffekte ins Spiel kommen.

Ein weiterer exotischer Prozess ist der Zerfall eines schweren Neutrinos in eine leichtere Variante mit veränderter Flavormischung. Aus der Untersuchung der Sonnenneutrinos wissen die Forscher zwar, dass v1 leichter ist als v2, aber sie wissen nicht, ob v1 oder v3 am leichtesten ist. Fänden die Astronomen ein Verhältnis 4:1:1, so würde das bedeuten, dass Neutrinos tatsächlich instabil sind und dass v1 das leichteste ist; eine Mischung 0:1:1 würde für v3 sprechen.

Die Astronomie begann einst als Himmelsbeobachtung mit sichtbarem Licht und erweiterte ihre Wahrnehmung schrittweise über Infrarot, Mikro- und Radiowellen zu Röntgen- und Gammastrahlen. Nun kommen die Neutrinos hinzu. Das kommende Jahrzehnt wird das goldene Zeitalter der Neutrinoastronomie sein.


Graciela B. Gelmini ist Physikprofessorin an der University of California in Los Angeles (U.C.L.A.). Sie studierte in Argentinien Kunst, Philosophie und Astronomie, bevor sie sich für Physik entschied.
Alexander Kusenko schloss sein Physikstudium in der Sowjetunion ab, nutzte dann ein Austauschprogramm, um zur Stony Brook University (US-Bundesstaat New York) zu wechseln, und ging schließlich zur U.C.L.A. Er und Gelmini gehören dem Team des Pierre-Auger-Observatoriums an.
Thomas J. Weiler studierte Quantenmechanik und Relativitätstheorie an der Stanford University und an der University of Wisconsin-Madison. Er ist Physikprofessor an der Vanderbilt University und gehört zum Team des Extreme Space Observatory.


Gelmini, G. B.: High Energy Cosmic Rays. In: Journal of Physics: Conference Series 171(1), Paper Nr. 012012, 2009.

Weblinks zu diesem Thema finden Sie unter
www.spektrum.de/artikel/1034788.


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 25:
Ein unsichtbares Neutrino tritt von links in eine Blasenkammer ein, trifft ein Elektron (gelb markiert) und schickt es auf eine gewundene Reise (verschnörkelte Linie). Dieses legendäre Bild entstand 1972 in der Gargamelle-Blasenkammer am Europäischen Kernforschungszentrum CERN. Es erhärtete das Standardmodell der Teilchenphysik und schuf die Grundlage für die Verwendung von Neutrinos in der Astronomie.

Abb. S. 27:
Die Erde im Neutrinolicht
In dieser schematischen Zeichnung erglüht unser Planet schwach von Neutrinos, die durch natürliche Radioaktivität freigesetzt werden; die Farben geben die Intensität wieder. Neuerdings nutzen Geophysiker deshalb Neutrinoobservatorien, um die Verteilung radioaktiver Isotope zu bestimmen. Weitere Quellen sind Kollisionen kosmischer Strahlen in der äußeren Atmosphäre, die mögliche Vernichtung von Dunkler Materie im Erdkern sowie Kernreaktoren.


© 2010 Graciela B. Gelmini, Alexander Kusenko, Thomas J. Weiler, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
Spektrum der Wissenschaft 7/10 - Juli 2010, Seite 24 - 31
Herausgeber: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Oktober 2010