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FORSCHUNG/936: Der lange Weg zum Higgs (Spektrum der Wissenschaft)


Spektrum der Wissenschaft 11/12 - November 2012

TEILCHENPHYSIK
Der lange Weg zum Higgs

Von Guido Tonelli, Sau Lan Wu und Michael Riordan



Nach Jahrzehnten der Suche scheint das flüchtige Teilchen endlich gefunden zu sein, dessen besondere Eigenschaften eine neue Ära der Physik andeuten. Beteiligte Forscher lassen die entscheidenden Wochen und Monate bis zur offiziellen Verkündung der Entdeckung am 4. Juli 2012 Revue passieren - und riskieren einen Blick in die Zukunft.


AUF EINEN BLICK

Schlussstein oder Grundstein?

1. Jahrzehntelang suchten Physiker nach dem Higgs-Boson, dem letzten fehlenden Bestandteil im Standardmodell der Teilchenphysik. Zwei gigantische Experimente am Large Hadron Collider des CERN stießen bereits 2011 auf erste Hinweise darauf.

2. Die Forscher verbargen die Ergebnisse der Versuchsdurchläufe vom Frühjahr 2012 in einer »Blindstudie« zunächst sogar vor sich selbst, um jede Verfälschung der Daten zu vermeiden. Erst Mitte Juni untersuchten sie die Resultate direkt.

3. Sie deuten klar auf ein »higgsartiges« Teilchen mit etlichen der Eigenschaften, wie sie die Theoretiker erwarteten. Zudem erlebten die Forscher bereits einige Überraschungen, die Anzeichen für eine künftige Physik liefern.


Am späten Abend des 14. Juni dieses Jahres machten sich einige Gruppen von Studenten und Postdocs am Large Hadron Collider (LHC) daran, ein bislang verschlossen gehaltenes Datenpaket zu untersuchen. Die gigantische Maschine am CERN, Europas Labor für Teilchenphysik bei Genf, hatte in den Monaten davor gewaltige Datenmengen produziert.

Die mehr als 6000 Physiker, die an den Großexperimenten des LHC arbeiten, gingen jedoch extrem vorsichtig vor, um ihre Auswertung nicht versehentlich zu verfälschen. So hatten sie beschlossen, zunächst bis Mitte Juni überhaupt nicht auf die Ergebnisse zu achten, also eine Art Blindstudie durchzuführen. Erst dann sollten alle Informationen zusammengebracht und untersucht werden. In jener Nacht schufteten die Jungforscher hektisch, um neue Indizien herauszufiltern. Zwar ist der LHC eine riesige Kollisionsmaschine mit zahlreichen Experimenten, doch nur die beiden größten davon - ATLAS und CMS - hatten die Aufgabe, das so genannte Higgs-Boson aufzuspüren. Dies ist das lange gesuchte Teilchen, welches das Standardmodell der Teilchenphysik komplettieren soll: die theoretische Beschreibung der subatomaren Welt.

Jeder der Detektoren registriert laufend in seinem Inneren die subatomaren Produkte aus unzähligen Protonenkollisionen, darunter vielleicht auch das flüchtige Higgs-Boson. Jedoch müssen die Messgeräte Unmengen von Teilchenspuren durchforsten, während der unaufhörliche Strom von Hintergrundteilchen mit niedriger Energie permanent droht, möglicherweise interessante Signale zu überdecken. Es ist, als wollte man aus einem Feuerwehrschlauch trinken und dabei versuchen, mit den Zähnen einige winzige Goldkörnchen herauszufischen.

Glücklicherweise wussten die Forscher ziemlich genau, wonach sie suchten. Nach dem katastrophalen Start des LHCs 2008 - nur neun Tage nach Beginn der Experimente schmolz eine Verbindungsnaht zwischen zwei Magneten, bildete sich ein gewaltiger Funkenüberschlag, der wiederum ein nahes Gefäß durchbohrte, setzte Tonnen von Helium frei und riss teure supraleitende Magnete aus ihrer Verankerung - konnten die Forscher seit 2011 große Datenmengen sammeln; genügend, um darin bereits auf erste Anzeichen von Higgs-Teilchen zu suchen.

Nachdem die Herbstrunde der Kollisionsläufe abgeschlossen war und der LHC für seine winterliche Wartungspause präpariert wurde, hielten ATLAS-Sprecherin Fabiola Gianotti und einer von uns (Tonelli), seinerzeit Sprecher des CMS, im überfüllten CERN-Auditorium ein Sonderseminar. Beide Detektoren hatten inzwischen unabhängig voneinander interessante Hinweise auf das Higgs-Teilchen in ihren Daten entdeckt. Zudem bestätigten sich die Datensätze gegenseitig. Sowohl ATLAS als auch CMS berichteten von mehreren Dutzend Ereignissen über dem erwarteten Hintergrund von Kollisionen, bei denen zwei Photonen mit einer Gesamtenergie von 125 Milliarden Elektronvolt oder 125 GeV herausschossen (1 GeV ist in der Teilchenphysik die Standardeinheit von Masse und Energie; sie entspricht einer Protonenmasse).


Häufung ungeklärter Signale

Solche Photonenpaare könnten der Theorie nach Zerfallsprodukte der kurzlebigen Higgs-Bosonen sein. Jedes der beiden Experimente entdeckte außerdem einige zusätzliche Ereignisse, bei denen vier geladene Leptonen (Elektronen oder Myonen) ähnlicher Energie entstanden waren. Auch diese könnten von Higgs-Bosonen stammen (siehe Kasten unten). Eine solche Häufung unabhängiger Signale, die zur gleichen Erklärung passten, hatte es bis dahin noch nicht gegeben. Sie legte nahe, dass es sich dabei nicht nur um Zufall oder Messfehler handelte. Doch nach den strengen Regeln der Teilchenphysiker genügte noch keines dieser Signale aus dem Jahr 2011, um schon als »Entdeckung« zu gelten.

KASTEN
 
Der subtile Fingerabdruck des Higgs

Das Higgs-Boson ist ein äußerst instabiles Teilchen, das in unterschiedlichen Prozessen, auch Kanäle genannt, rasch zerfällt. Leider lassen sich viele dieser Zerfallskanäle nicht leicht von Hintergrundereignissen unterscheiden, die von den rund 500 Millionen Proton-Proton-Kollisionen pro Sekunde stammen. Die Detektoren ATLAS und CMS sind konstruiert, um seltene Vorgänge aufzuspüren, die von einem Higgs-Zerfall stammen könnten, und alle anderen zu ignorieren. Die Grafiken zeigen vier der wichtigsten Zerfallskanäle, nach denen die Experimente Ausschau halten, zusammen mit Bildern von higgsartigen Signalen, wie sie CMS 2011 und 2012 beobachtet hat. Da die Entdeckung nur statistisch möglich ist, kann kein Einzelereignis als definitiver Nachweis gelten.

Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:
Photonen
Jeder Detektor enthält zahlreiche Kalorimeter: Geräte, die die Teilchenenergie messen. Das innerste Kalorimeter reagiert bevorzugt auf Photonen und absorbiert sie, wobei sie ein winziges elektrisches Signal erzeugen. Wenn ein Higgs in zwei Photonen zerfällt, dann kann der Detektor deren Energie äußerst präzise messen, was den Rückschluss auf die Masse des neu gefundenen Teilchens ermöglicht.
Z-Bosonen
Das Higgs kann auch in Paare von Z-Bosonen zerfallen, aus denen wiederum jeweils ein Elektron und ein Antielektron oder zwei Myonen entstehen. Ein innerer Spurenverfolger und das Kalorimeter registrieren Elektronen, während die Myonen ungebremst wegfliegen und lediglich Spuren hinterlassen. Starke Magnetfelder krümmen die Bahn von Elektronen und Myonen, was reicht, um ihre Energie und damit die Higgs-Masse zu bestimmen.
bottom-Quarks
Ein weiteres mögliches Schicksal des Higgs ist der Zerfall in ein bottom-Quark und sein Antiteilchen. Jedes dieser Gebilde zerlegt sich in eng gebündelte »Jets« (Strahlen) von Hadronen, also Partikeln, die wie das Proton aus Quarks aufgebaut sind. Diese dringen durch die Innenschichten des Detektors und geben ihre Energie in den äußeren Kalorimetern ab. Leider erzeugen auch normale Kollisionen Hadronenjets aus bottom-Quarks, was die Entdeckung der Higgs-Ereignisse erschwert.
W-Bosonen
Schließlich kann das Higgs auch in zwei W-Bosonen zerfallen, aus denen jeweils ein Elektron, Antielektron oder Myon sowie ein Neutrino oder Antineutrino entsteht. Neutrinos sind schwer nachzuweisen - sie entschwinden spurlos, wobei sie aus der Kollision etwas Energie mitnehmen. Das erlaubt Forschern, auf ihre Präsenz bei einer Kollision zu schließen, behindert aber auch eine exakte Rekonstruktion der Higgs-Masse.
 
KASTEN ENDE


Nur allzu oft hatten sich Spitzen oder kleine Hügel in den Messkurven als Scheineffekte oder statistische Fluktuationen herausgestellt. Die folgenden Kollisionsexperimente vom Frühjahr 2012, die in elf Wochen mehr Daten produzierten als die im gesamten Jahr 2011, hätten diese zarten Datenspitzen jederzeit auch wieder beseitigen und ins Hintergrundrauschen schieben können.

Konnten sich die kleinen Datenberge tatsächlich auf ein Higgs-Boson zurückführen lassen und nicht nur ein statistisches Artefakt bleiben, dann stieg die Chance, mit den neuen Messsignalen eine offizielle Entdeckung verkünden zu können - zugleich das Ende einer jahrzehntelangen Suchaktion und der Beginn einer neuen Ära im Verständnis von Materie und Kosmos.

Denn das Higgs-Boson ist nicht nur irgendein weiteres Partikel im Teilchenzoo, sondern vielmehr Eckstein eines geistigen Gebäudes, bekannt als das Standardmodell, das mehrere Theorien miteinander vereint, die die moderne Teilchenphysik beschreiben. Die Existenz dieses Teilchens hatte Peter W. Higgs von der University of Edinburgh bereits 1964 postuliert, unabhängig von ihm auch François Englert und Robert Brout in Brüssel sowie drei weitere Theoretiker in London. Das neue Partikel sollte alle Elementarteilchen durch einen raffinierten Mechanismus sozusagen mit Masse versorgen.

Das Gebilde ist der physikalische Ausdruck eines Felds, des Higgsfelds, das den gesamten Kosmos erfüllt und jedem Partikel seine individuelle Masse verleiht. Mit der Entdeckung der Quarks und Gluonen in den 1970er Jahren sowie der W- und Z-Bosonen der schwachen Wechselwirkung in den 1980er Jahren, waren fast alle Elemente des Standardmodells bereits bekannt.

Doch obwohl die Theoretiker behaupteten, dass das Higgs-Boson - oder etwas Ähnliches - existieren müsse, konnten sie seine Masse nicht vorhersagen. Daher und aus anderen Gründen wussten sie nicht wirklich, in welcher Ecke des Teilchenzoos sie das unbekannte Gebilde suchen sollten. Ein früher Kandidat mit dem Neunfachen der Protonenmasse tauchte 1984 am Teilchenbeschleuniger DESY in Hamburg auf, verschwand aber bald wieder von der Bildfläche.

Die meisten Forscher waren sich schon damals einig, dass seine Masse mindestens 10- bis 100-fach größer sein musste. Falls dem so war, ließ sich das Higgs nur mit einer viel größeren Maschine entdecken als etwa dem Tevatron des Fermi National Laboratory bei Chicago. Der sechs Kilometer lange Protonen-Antiprotonen-Beschleuniger ging 1983 in Betrieb. Im gleichen Jahr begann CERN mit dem Bau des Milliarden Euro teuren Large-Electron-Positron(LEP)-Beschleuniger und bohrte dafür in 50 bis 175 Meter Tiefe einen 27 Kilometer langen Ringtunnel, der die französisch-schweizerische Grenze bei Genf viermal kreuzte. Neben anderen Forschungszielen stand das Higgs-Boson auf der LEP-Wunschliste schon damals weit oben. Auch die US-Physiker machten sich seinerzeit in der Reagan-Ära daran, in Texas eine große Maschine zu entwerfen und zu bauen, den Superconducting Super Collider (SSC).

Mit seinen geplanten 40 TeV (40.000 GeV) sollte der SSC das Higgs aufspüren, selbst wenn es eine Masse von bis zu 1000 GeV haben sollte. Doch nachdem sich die Kosten bald auf mehr als zehn Milliarden Dollar verdoppelten, stoppte der amerikanische Kongress das Vorhaben.


Auffällige Resultate kurz vor Abschalten des Tevatrons erbrachten keine Entdeckung

Um weiterforschen zu können, zogen sich die enttäuschten amerikanischen Higgs-Jäger ans Fermilab und ans CERN zurück. Weitere Entdeckungen und Präzisionsmessungen am LEP und Tevatron konnten inzwischen immerhin ausschließen, dass die Higgs-Masse mehr als 200 GeV beträgt. Damit lag das Teilchen aber durchaus noch in der Reichweite dieser Maschinen. Doch ein ganzes Jahrzehnt weiterer Experimente erbrachte keinerlei direkte Hinweise auf »das Higgs«.

Während der letzten Monate der LEP-Laufzeit im Sommer 2000 beschlossen die Physiker, die Energie der Teilchenkollisionen weit über die Konstruktionsgrenzen der Maschine hinauszutreiben. In diesen Wochen tauchten bei den Experimenten plötzlich erste Hinweise auf das Higgs auf. Im September meldeten zwei der vier LEP-Detektoren von Ereignissen, bei denen ein Z-Boson plus ein weiteres mysteriöses Teilchen gemessen wurden, das weiter in zwei bottom-Quarks zerfiel - ein Teilchen, das verdächtig nach einem Higgs-Boson mit einer Masse von 115 GeV aussah. Der damalige CERN-Direktor Luciano Maiani genehmigte der Maschine eine Verlängerung von sechs Wochen.

Aber in der Zeitspanne registrierten die Experimentatoren lediglich ein einziges weiteres potenzielles Ereignis dieses Typs. Das reichte natürlich nicht. Nach hitziger Debatte beschloss Maiani, den LEP abzuschalten und mit der geplanten Konversion zum LHC zu beginnen - also jener Maschine, die zu dem Zeitpunkt bereits für die Entdeckung des Higgs-Bosons entworfen war.

Der LHC enthält die fortschrittlichsten Technologien, die jemals in einer Anlage vereint wurden. Unter Leitung des Projektmanagers Lyndon Evans bauten Beschleunigerphysiker und Ingenieure die Anlage in den vorhandenen LEP-Tunnel ein. Die wichtigsten LHC-Komponenten bestehen aus 1200 supraleitenden Dipolmagneten - glänzende, jeweils 15 Meter lange Zylinder, von denen jeder rund eine Million Dollar kostete. Hergestellt von deutschen, französischen und italienischen Firmen, enthalten sie zwei Röhren, umgeben von magnetischen Niob-Titan-Spulen, die bei 1,9 Kelvin oder -271 Grad Celsius in flüssiges Helium getaucht sind. In den beiden Röhren kreisen die Protonenstrahlen gegenläufig fast mit Lichtgeschwindigkeit und mit Energien bis zu 7 TeV.

Diese Strahlen ähneln eher Sequenzen von Laserlichtpulsen als einem einzelnen Blitzlicht. Jeder besteht aus fast 1400 »Paketen« mit jeweils bis zu 150 Milliarden Protonen - zum Vergleich: Das ist etwa die Zahl der Sterne in der Milchstraße. Wenn sich zwei dieser Teilchenpakete an ausgewählten Messpunkten begegnen, stoßen im Normalbetrieb 10 bis 30 Protonen miteinander zusammen. In jeder Sekunde produzieren die Paketströme damit insgesamt eine halbe Milliarde Kollisionen.

»Wenn zwei Protonen miteinander kollidieren, dann gleicht das zwei Mülleimern, die aufeinanderkrachen - es fliegt Müll heraus.«

Wenn Protonen miteinander kollidieren, dann ist das viel »schmutziger« als bei Leptonen wie Elektronen und Positronen. Der Theoretiker Richard Feynman verglich einmal den Vorgang mit zwei Mülleimern, die aufeinanderkrachen, wobei eben auch eine Menge Müll herausfliegt. Das liegt an den Protonen: Sie sind nicht strukturlos wie die Elektronen, sondern aus Quarks und Gluonen zusammengesetzt. Bei den interessantesten Ereignissen kollidieren zwei Gluonen bei Energien von rund 100 GeV miteinander und gelegentlich sogar bei einem TeV. Mit Hilfe von raffinierten Detektoren, Spezialelektronik und Supercomputern versuchen die Physiker dann, aus Milliarden langweiligen Vorfällen die wenigen interessanten herauszufiltern.

Die Detektoren ATLAS und CMS können beide das Higgs nicht direkt beobachten - dafür ist es einfach zu instabil. Vielmehr halten sie Ausschau nach indirekten Hinweisen darauf, dass es im Zentrum der Kollisionspunkte entstand und sogleich wieder in leichtere Teilchen zerfiel. Je nach Masse des Higgs-Bosons kann das auf vielfältige Weise geschehen (siehe Grafiken S. 56/57 der Druckausgabe). 2011 konzentrierten sich die Forscher auf seltene Zerfälle in zwei Photonen und vier geladene Leptonen. Der Grund: Diese Reaktionen lassen sich besonders einfach vom schmutzigen Hintergrund unterscheiden, der sonst das gesuchte Signal verdecken könnte.

Die unfallbedingte Verzögerung am LHC gab den Physikern am Fermilab die letzte Gelegenheit, das Higgs als Erste zu entdecken. Kurz vor dem geplanten Abschalten des Tevatron im September 2011 produzierten die Experimente CDF und D-Zero wenige Ereignisse, bei denen Paare von bottom-Quarks mit Energien von 125 und 155 GeV auftraten. Aber ähnlich wie beim Abschalten des LEP konnten die Forscher ihren Direktor nicht davon überzeugen, die Laufzeit zu verlängern, und so wurde der Tevatron kurz danach eingemottet (siehe »Abschied vom Tevatron« von Tim Folger, SdW 1/2012, S. 46). Diesen März reichten die Fermilab-Forscher übrigens eine genauere Analyse nach, in der sie einen Datenpeak bei 125 GeV gefunden hatten, was mit den Resultaten am CERN übereinstimmt.

Bis zum Mai 2012 produzierte der LHC 15-mal mehr Messdaten als der Tevatron insgesamt - eine Leistung der Physiker unter der Leitung von Stephen Myers. Bei diesen Versuchsläufen gelangte die Arbeit von Tausenden von Physikern am ATLAS und CMS an ihr Ziel, die die Detektoren entwarfen und betrieben, die Computerprogramme schrieben, um neuartige Ereignisse zu erkennen und aus dem Datenwust herauszufiltern. Jeder arbeitete jetzt fieberhaft in Erwartung einer großen Entdeckung. Als dann die Forscher Mitte Juni die Datenpakete öffneten, mussten sie zuerst Unmengen von Messwerten durchforsten.

Nachdem die Studenten und Postdocs die Nacht durchgeschuftet hatten, waren alle auf die Ergebnisse gespannt. Es war ein heißer Nachmittag am 15. Juni, als die CMS-Physiker in Raum 222 des Filtergebäudes strömten, um sich die Berichte der jungen Forscher anzuhören. Bald war der Saal mit hunderten Mitgliedern der Arbeitsgruppen gefüllt, viele mussten am Boden sitzen oder stehen. Die Spannung im Raum ergriff alle Anwesenden.

Der erste Sprecher diskutierte eine mögliche Zerfallsmöglichkeit für das Higgs, einen so genannten »Kanal«, und zwar den in Paare von W-Bosonen. Ein kleiner Überschuss an Ereignissen war bei niedrigen Massen in den Daten aufgetaucht, aber das schwache Signal erregte kein weiteres Aufsehen. Es folgten zwei Präsentationen über den seltenen Vier-Leptonen- sowie den Zwei-Photonen-Zerfall. Jetzt endlich begann es so auszusehen, als würde sich in den Messwerten das Higgs-Boson zeigen.


Hektische Tage, schlaflose Nächte

Die Signale von 2012 häuften sich abermals in der gleichen Gegend der Massenskala - bei 125 GeV -, die die Forscher schon sechs Monate zuvor beschäftigt hatte. Sie bemerkten sogleich, dass sie die neuen Daten eigentlich nur mit den älteren von 2011 kombinieren mussten, um für CMS die Entdeckung des Higgs verkünden zu können. Nach den beiden Kurzvorträgen brandete erstmals Beifall auf.

Ähnliche Enthüllungen gab es beim Vortrag über das ATLAS-Experiment. Spontan wurde in mehreren Gruppen gefeiert, nachdem sie die Auswertungen der neuen Versuchsdurchgänge gesehen hatten. Dennoch sollte es noch eine ganze Woche hektischer Arbeit mit schlaflosen Nächten dauern, bis sich die Physiker so weit sicher waren, dass die Wahrscheinlichkeit für eine zufällige Häufung der Ereignisse kleiner war als eins zu drei Millionen. Das entspricht dem harten »Fünf-Sigma-Standard« der Teilchenphysiker, ab dem erst sie von einer »Entdeckung« sprechen (Sigma ist ein statistisches Maß für die Signifikanz von Daten).

Zu diesem Zeitpunkt war die Nachricht von der Entdeckung schon durchgesickert. Das weltweite Interesse wuchs jetzt so stark, dass zunächst strenge Geheimhaltung vereinbart wurde. Vor der offiziellen Präsentation der Ergebnisse sollten keine bruchstückhaften Informationen mehr an die Öffentlichkeit dringen, vor allem weil sich der genaue Inhalt der Aussagen während der Vorbereitung noch ändern konnte. Außerdem sollten ATLAS-Mitglieder nicht mit ihren CMS-Kollegen über ihre neuen Resultate sprechen und umgekehrt. Einzelne Physiker ließen sich dennoch nicht davon abhalten, die Neuigkeiten zu diskutieren, auf die alle so lange gewartet hatten. Gedämpfte Diskussionen waren auf den Fluren und in der CERN-Cafeteria zu hören. Die Erwartung stieg, und der Druck wuchs, die Sache öffentlich anzukündigen.

Dem Direktor des CERN, Rolf-Dieter Heuer, wurde die Präsentation am 22. Juni kurz in einem Treffen mit Gianotti und Joseph Incandela von der University of California, Santa Barbara, Tonellis Nachfolger als CMS-Sprecher, gezeigt. Heuer entschied, dass die Daten ausreichten, um sie zu veröffentlichen. Umgehend informierte er den CERN-Rat, der die Forschungseinrichtung überwacht, um sie über die schnelle Entwicklung auf dem Laufenden zu halten. Dann beschloss Heuer, am 4. Juli, dem Eröffnungstag der 36. Internationalen Konferenz für Hochenergiephysik in Melbourne, ein CERN-Seminar abzuhalten - und im Anschluss daran eine CERN-Pressekonferenz.

In der Nacht davor warteten bereits hunderte Physiker in den Fluren und Gängen vor dem abgeschlossenen großen Vortragssaal, um einen der wenigen nicht reservierten Sitzplätze zu ergattern. Stephen Myers, Lyndon Evans sowie vier frühere CERN-Direktoren, die am LHC von Anfang an direkt beteiligt waren, saßen in der ersten Reihe. Frisch vom Flugzeug aus Genf betrat Peter Higgs unter Willkommensapplaus den Saal und setzte sich neben den ebenfalls anwesenden François Englert.

Incandela und danach Gianotti bombardierten ihre Zuhörer mit Bildern von ihren neuen Daten und Analysen, die meisten von den Messungen von 2012. Wie schon im Dezember 2011 wiesen die Messkurven der Zwei-Photonen-Kanäle deutliche Peaks bei 125 und 126 GeV auf. Bis zu der Präsentation hatten die Detektoren noch mehrere Dutzend weiterer Ereignisse eingefangen, in denen ein schweres Teilchen bei 125 GeV in vier geladene Leptonen explodiert war. Auch in diesem Kanal ließen sich in den Kurven deutlich kleine Datenhügel ausmachen.

»Ich glaube, wir haben es!«
Rolf-Dieter Heuer, Direktor des CERN am 4. Juli 2012

Das überzeugte die Forscher. Kombinierte man das Ergebnis mit den Zwei-Photonen-Zerfällen, folgerten die Teams von CMS und ATLAS unabhängig voneinander, dass die Wahrscheinlichkeit für eine Zufallsfluktuation in den Messungen bei weniger als eins zu drei Millionen lag. Das Phänomen war demnach real. Als die Fernsehkamera auf Peter Higgs schwenkte, sah man, dass er ein Taschentuch zog, um sich die Augen zu trocknen. »Ich glaube, wir haben es!«, rief Rolf-Dieter Heuer in den Saal. »Wir haben ein neues Teilchen beobachtet, das konsistent mit einem Higgs-Boson ist.«

Nur wenige Physiker bezweifeln zwar, dass ein neues schweres Partikel entdeckt worden war. Aber um was genau handelte es sich eigentlich? Physiker am CERN diskutierten diese Frage nur zögerlich und sprachen lieber von einem »higgsartigen Boson«. Sie bestanden darauf, dass erst noch mehr Messungen nötig wären, um seine Eigenschaften bestimmen zu können. Beispielsweise hat CERN noch nicht zweifelsfrei geklärt, ob das neue Teilchen einen Spin von null hat, wie es das Standardmodell für das Higgs-Boson verlangt. Gleichwohl legt ein Vergleich mit Daten des Tevatron (publiziert am 2. Juli in einem offensichtlichen Versuch, auch ins Rampenlicht zu gelangen) dies ebenfalls nahe. Weiterhin wurden am ATLAS und am CMS mehr Zwei-Photonen-Zerfälle entdeckt, als nach der Theorie zu erwarten war. Fehlte da vielleicht etwas? Oder deutete das auf eine neue Physik?

Theoretiker wie Experimentatoren konzentrieren sich auf die Frage, ob es sich bei dem neuen Teilchen tatsächlich um »das« Higgs-Boson handelt, wie es das Standardmodell vorhergesagt hat. Dies kann durch weitere Präzisionsmessungen geklärt werden, die zeigen, wie es in andere Sekundärpartikel zerfällt. Die offizielle Publikation, die Ende Juli eingereicht wurde, betrachtet auch andere Zerfallskanäle, die dem Standardmodell nicht widersprechen. CMS bleibt bei einer Fünf-Sigma-Entdeckung, während die ATLAS-Ergebnisse an Signifikanz sogar noch zugenommen haben.


Beginn einer aufregenden Phase der Teilchenphysik

John Ellis und Tevong You analysierten die kombinierten Beobachtungen von LHC und Tevatron. Ergebnis der CERN-Theoretiker: Das neue Teilchen verhält sich in der Tat wie ein Higgs-Boson. Der überraschend starke Zusammenhang des Partikels mit hochenergetischen Photonenpaaren hat bereits heiße Debatten ausgelöst. Weil das Higgs anderen Elementarteilchen Masse verleiht, sollte es mit schwereren Teilchen stärker in Wechselwirkung treten. Photonen selbst haben aber keine Ruhemasse. Daher wechselwirkt das Higgs-Boson mit ihnen indirekt über andere, massehaltige Zwischenteilchen. Zusätzliche überschwere Partikel, wie sie vereinheitlichte Feldtheorien wie die Supersymmetrie fordern, würden den Zerfallsprozess noch verstärken - was laut den ersten Daten offenbar auch passiert. Bestätigt sich diese Entwicklung, würde das starke Hinweise auf eine Physik jenseits des Standardmodells liefern.

Die epochale Entdeckung des Higgs-Bosons markiert das Ende einer langen Ära der Teilchenphysik sowie den Beginn einer aufregenden neuen Phase, in der Prozesse auf der TeVSkala untersucht werden können. Nach Jahrzehnten der Flaute hat diese Forschungsrichtung neues Leben erhalten, dank erfolgreicher Zusammenarbeit von Theorie und Experiment. Natürlich tauchen jetzt neue Fragen auf, die sich hoffentlich mit weiterer Forschung zum neuen Teilchen und zu seinen potenziellen Partnern beantworten lassen. Spielt es vielleicht eine Rolle bei der kosmischen Inflation, die als jene Kraft angesehen wird, die das Universum an seinem Beginn exponentiell vergrößert hat? Tritt es mit der Dunklen Materie in Wechselwirkung, die nach Meinung vieler Astronomen das Universum ausfüllt? Und schließlich: Welche Hochenergieprozesse schützen das fragile Vakuum vor Instabilitäten, die vielleicht sogar unsere Existenz gefährden könnten?

Während wir jetzt den Triumph des Standardmodells erleben, könnte uns das Higgs-Boson bereits auf die Fährte einer neuen Physik bringen. Das Teilchen eröffnet uns ein großartiges Labor für weitere Experimente. Hat es wirklich alle Eigenschaften, wie die Theorie sie vorhersagt? Die bislang vorliegenden Diskrepanzen in den Daten könnten statistische Fluktuationen sein, die mit weiteren Messreihen in den kommenden Monaten wieder verschwinden. Oder sie deuten auf spannende neue Physik hin.

*

50 Jahre Higgs-Teilchen

Die Entdeckung eines higgsartigen Teilchens in diesem Sommer markierte den Höhepunkt einer Jahrzehnte währenden Suchaktion. Schon Jahre bevor das Standardmodell theoretisch vollständig war, hatten Forscher bemerkt, dass sie nicht erklären konnten, warum Teilchen überhaupt eine Masse haben. Sie postulierten daher ein neues Feld - heute Higgs-Feld genannt -, das die zunächst masselosen Partikel verlangsamt und ihnen so ihre träge Masse verleiht. Diesem Feld ließ sich auch ein besonderes Teilchen zuordnen - und so begann die Jagd auf das Higgs.

August 1964
Die Artikel
François Englert und Robert Brout publizieren den ersten Beitrag, und schlagen ein Teilchen vor, das später nach Peter W. Higgs (links) benannt wird, dem Autor des zweiten Beitrags, der etwas später erscheint. G. Kuralnik, C. Hagen und T. Kibble veröffentlichten die dritte Arbeit im November.

August 1979
Gluonen entdeckt
Am Beschleuniger DESY in Hamburg gelingt den Physikern der Nachweis des Gluons, des Trägerteilchens der starken Kernkraft. Theoretiker berechnen, dass aus der Vereinigung von Gluonen mehr Higgs-Bosonen entstehen sollten als bei jedem anderen Prozess.

Januar 1983
Entdeckung des W-Bosons
Einer der letzten fehlenden Bausteine im Standardmodell wird im SPS nachgewiesen, dem Super-Proton-Synchrotron-Beschleuniger im CERN.

Juli 1999
Neuer Beschleuniger in Betrieb
Im 27 Kilometer langen Ringtunnel des CERN wird eine neue Teilchenmaschine, der Large-Electron-Positron-Beschleuniger, fertig gestellt.

September 2000
Letzter Schuss auf das Higgs
Kurz bevor der LEP abgeschaltet werden soll, stoßen die Physiker auf Anzeichen des Higgs. Sechs Wochen später und ohne Ergebnis wird die Maschine trotzdem abgeschaltet. Heute ist bekannt: Die Spur war falsch, die vermutete Masse zu niedrig.

2. November 2000
Ende einer Ära
Der LEP-Beschleuniger wird abgeschaltet. Zeitgleich beginnt der Bau des Large Hadron Collider (LHC), mit dem 2012 das Higgs entdeckt wird.

10. September 2008
Der LHC startet
Am fertig gestellten LHC werden die ersten Protonenstrahlen in die Röhren geschossen.

19. September 2008
Folgenreicher Zwischenfall
Eine Verbindungsstelle zwischen zwei Magneten schmilzt und setzt einen Funken frei, der ein Magnetgefäß durchschlägt und Tonnen von Helium freisetzt. Über 50 Magnete werden aus ihrer Verankerung gerissen oder anders beschädigt.

4. Juli 2012
Higgsartiges Teilchen entdeckt
CERN-Forscher verkünden, dass sie ein higgsartiges Partikel mit einer Masse von 125 GeV gefunden haben.


DIE AUTOREN

Guido Tonelli(links) arbeitet seit 1993 am CMS-Experiment des CERN, 2010 und 2011 auch als sein Sprecher. Er ist Professor der Università degli Studi di Pisa. Sau Lan Wu ist Mitglied des ATLAS-Experiments am CERN, außerdem Enrico Fermi Distinguished Professor für Physik an der University of Wisconsin-Madison. Michael Riordan ist Wissenschaftshistoriker und Autor zahlreicher Sachbücher, darunter »The Hunting of the Quark« (1987).


QUELLEN

Aczel, A. D.: Der Welterklärer. Interview mit Steven Weinberg. In: Spektrum der Wissenschaft 12/2010, S. 34-37
Collins, G. P.: Entdeckungsmaschine der Superlative. In: Spektrum der Wissenschaft 9/2008, S. 32-39
Folger, T.: Abschied vom Tevatron. In: Spektrum der Wissenschaft 1/2012, S. 46-53
Kane, G.: Das Geheimnis der Masse. In: Spektrum der Wissenschaft 2/2006, S. 36-43
Körkel, T.: Der LHC nach Higgs. Interview mit Siegfried Bethke. In: Spektrum der Wissenschaft 10/2012, S. 60-66
Samulat, G.: Ring der Erkenntnis. In: Spektrum der Wissenschaft 9/2006, S. 80-87


WEBLINKS

http://atlas.ch
http://cms.cern.ch
Webseiten des ATLAS-Experiments und des CMS-Experiments am CERN

Diesen Artikel sowie weiterführende Informationen finden Sie im Internet: www.spektrum.de/artikel/1165735


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

- Abb. S. 55:
Kollision zweier Protonen im CMS-Detektor des CERN: Das Ereignis zeigt typische Spuren vom Zerfall eines Higgs-Bosons, wie sie das Standardmodell vorhersagt - hier in ein Elektronenpaar (grüne Linien) sowie ein Myonenpaar (rote Linien).

© 2012 Guido Tonelli, Sau Lan Wu, Michael Riordan, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg

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Quelle:
Spektrum der Wissenschaft 11/12 - November 2012, Seite 54 - 61
Herausgeber: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Januar 2013