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BUNDESTAG/9564: Heute im Bundestag Nr. 255 - 06.03.2020


Deutscher Bundestag
hib - heute im bundestag Nr. 255
Neues aus Ausschüssen und aktuelle parlamentarische Initiativen

Freitag, 6. März 2020, Redaktionsschluss: 10.25 Uhr

1. Maut: Europarechtliches Risiko im Fokus
2. Polizisten berichten über Einsatz
3. Zeuge berichtet über Attentats-Schauplatz
4. Kriminalist schildert Spurensicherung


1. Maut: Europarechtliches Risiko im Fokus

2. Untersuchungsausschuss/Ausschuss

Berlin: (hib/CHB) Vor dem 2. Untersuchungsausschuss ("PKW-Maut") hat ein Zeuge die Zustände im Bundesverkehrsministerium kritisiert. "Ich habe im Bundesverkehrsministerium Entscheidungsstrukturen kennengelernt, in denen ich nicht weiterarbeiten wollte", sagte Joachim Leitner in der Sitzung von Donnerstag, 5. März 2020. "Unsere fachliche Arbeit wurde von politischen Vorgaben dominiert", erklärte der Jurist und Verkehrsingenieur, der von September 2015 bis April 2017 als Referent im Verkehrsministerium arbeitete und dort Mitglied der Projektgruppe zur Vorbereitung der PKW-Maut war. Mittlerweile arbeitet er beim Umweltbundesamt.

Bereits in seinem Eingangsstatement in der vom Vorsitzenden Udo Schiefner (SPD) geleiteten Sitzung gab Leitner zu Protokoll, er mache sich heute seine Rolle im Ministerium zum Vorwurf. "Ich wurde nie beauftragt, die Rechtsauffassung der Bundesregierung zu überprüfen", betonte er während der Vernehmung. "Ich war beauftragt, sie zu vertreten." Bei der Beantwortung von parlamentarischen Anfragen und dem Verfassen von Sprechzetteln habe er mit vorgegebenen Textbausteinen arbeiten müssen. So seien beispielsweise stets der "echte Systemwechsel" und die Frage der Gerechtigkeit betont worden. "Man hatte Weisungen auszuführen. Sie waren so, dass ich keinen bis wenig fachlichen Input leisten konnte", erklärte der Zeuge weiter.

Weniger brisant waren die vorangegangenen Ausführungen von zwei weiteren Zeugen, bei denen es ebenfalls um die Entstehungsgeschichte der umstrittenen Maut ging. Deutlich wurde dabei, dass es im Bundesjustizministerium Bedenken gab, ob die Infrastrukturabgabe für Personenkraftwagen mit dem EU-Recht vereinbar sei.

"Es bestand ein europarechtliches Risiko", sagte Christoph Freytag vom Bundesjustizministerium. "Unsere Einschätzung war: Es bleibt definitiv ein Restrisiko, das nicht ausgeglichen werden kann."

Freytag war bis November 2016 als Referatsleiter im Justizministerium für verkehrsrechtliche Fragen zuständig. Am 1. Dezember 2014 legte er eine Stellungnahme vor, die ihrerseits auf Stellungnahmen mehrerer anderer Referate basierte. Das Papier wies auf die europarechtlichen Risiken des Gesetzentwurfs für die PKW-Maut hin. In der Folge, so erinnerte sich Freytag, habe die Hausleitung jedoch mitgeteilt, sie habe sich entschieden, den Entwurf "laufen zu lassen". Am 17. Dezember 2014 wurde der Gesetzentwurf dann dem Bundestag zugeleitet.

Im Weiteren berichtete der Jurist, er habe im Jahr 2014 den Vorschlag gemacht, die KfZ-Steuer abzuschaffen, um auf diese Weise das europarechtliche Problem der PKW-Maut zu lösen. Hingegen lehnte er es auch auf mehrfache Nachfrage von Ausschussmitgliedern ab, das Risiko eines negativen Urteils des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Prozent zu beziffern.

"Ich hätte es abgelehnt, eine konkrete Risikobewertung vorzunehmen", sagte auch Thomas Henze, der bis Mai 2019 in Sachen PKW-Maut als Prozessvertreter vor dem EuGH fungierte. Er war damals im Referat "Vertretung der Bundesrepublik Deutschland vor den europäischen Gerichten" des Bundeswirtschaftsministeriums tätig. Grundsätzlich sei nie klar vorhersehbar, welche Argumente sich beim EuGH durchsetzten, sagte der Zeuge. Außerdem sei es seine Aufgabe als Prozessvertreter gewesen, die besten Argumente für die Verteidigung zu finden und nicht das Risiko zu bewerten.

Thematisiert wurde in der Befragung auch die Rolle von Prof. Dr. Christian Hillgruber, Lehrstuhlinhaber am Institut für Kirchenrecht der Universität Bonn. Er vertrat die Bundesregierung bereits während des (2017 eingestellten) Vertragsverletzungsverfahrens der Europäischen Kommission und dann auch bei der Klage Österreichs gegen die PKW-Maut. Er habe den Vertrag mit Hillgruber "unter besonderer Berücksichtigung seiner Vorbefassung" mit dem Thema geschlossen, sagte Henze. Außerdem habe das Bundesverkehrsministerium erklärt, Hillgruber habe die Bundesrepublik in Sachen Maut bisher gut vertreten. Es sei aber kein Druck ausgeübt worden, Hillgruber beizuziehen, betonte der Zeuge. Dieser sei im Übrigen nicht nur Kirchenrechtler, sondern auch ein "ausgewiesener Staatsrechtler".

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2. Polizisten berichten über Einsatz

1. Untersuchungsausschuss/Ausschuss

Berlin: (hib/WID) In der Nacht nach dem Terroranschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz hat das Landeskriminalamt die durch islamistische Umtriebe auffälligen Moscheen der Stadt routinemäßig überprüfen lassen, allerdings nichts Verdächtiges festgestellt. Dies berichtete ein beteiligter Beamter eines Mobilen Einsatzkommandos (MEK) am Donnerstag dem 1. Untersuchungsausschuss ("Breitscheidplatz"). Der heute 32-jährige Polizeiobermeister T.A. suchte damals mit zwei Kollegen die Moabiter Fussilet-Moschee auf, die zu den bevorzugten Aufenthaltsorten des Attentäters Anis Amri gezählt hatte. Dieser war in den ersten Stunden nach dem Anschlag als Täter allerdings noch nicht bekannt.

Er erinnere sich an eine "chaotische" und "unübersichtliche" Lage in der Nacht zum 20. Dezember 2016, sagte der Zeuge: "Keiner wusste so genau, was vorgefallen war." Er selbst sei gegen 22 Uhr zu Hause angerufen und aus dem Feierabend in den Dienst zurückbeordert worden. Etwa eine Stunde später sei er mit einer Dreierstreife aufgebrochen. Der Auftrag, die Fussilet-Moschee anzufahren, sei später über Funk eingetroffen. Zur gleichen Zeit seien andere Streifenwagen zu weiteren verdächtigen Gebetshäusern Berlins unterwegs gewesen. Sie hätten allerdings nirgendwo Auffälligkeiten festgestellt.

Wie sich aus der Aufzeichnung einer Überwachungskamera ergibt, traf der Wagen des Zeugen um 1.07 Uhr vor der Fussilet-Moschee ein. Die Räume seien verdunkelt und augenscheinlich menschenleer gewesen, sagte der Zeuge. Gemeinsam mit einem Kollegen sei er durch die Toreinfahrt in den Hof gegangen, um den Hintereingang zu überprüfen, doch auch hier habe er "überhaupt keine Feststellung" machen können. Um 1.11 Uhr fuhren die Beamten weiter. Zweck des Einsatzes sei vermutlich gewesen, zu ermitteln, ob es in der islamistischen Szene bereits Reaktionen auf den Anschlag, womögliche Freudenbekundungen, gebe, meinte der Zeuge.

Er ist nach eigenen Worten seit 2009 bei der Berliner Polizei tätig, seit August 2016 im "Bereich Aufklärung" der Abteilung 6 des Landeskriminalamts. Die Fussilet-Moschee sei ihm in der Tatnacht bereits aus früheren Einsätzen bekannt gewesen. Er habe sie seit August 2016 "drei bis fünf Mal" aufgesucht, allerdings nie betreten. In der Regel sei es darum gegangen, eine Weile im Streifenwagen vor der Moschee auszuharren und zu beobachten, wer ein und ausging. Auf Nachfrage vermochte der Zeuge sich allerdings nur mit Mühe an damals polizeibekannte Berliner Islamisten zu erinnern. Er habe auch nicht gewusst, dass das LKA vor der Fussilet-Moschee längst eine Überwachungskamera installiert hatte.

Über einen weiteren Einsatz in Moabit in den ersten Stunden nach dem Anschlag berichtete ein Kollege des Zeugen A., Polizeiobermeister Y.K., dem Ausschuss. Er traf an frühen Morgen des 20. Dezember um 5.21 Uhr mit seinem Streifenwagen vor der Fussilet-Moschee ein und blieb dort länger als drei Stunden. Der Auftrag habe gelautet, die Besucher beobachten: "Wer geht rein? Wer kommt raus? Wer fehlt?" Das Gebetshaus in Moabit sei aus Sicht des Staatsschutzes "eine der relevantesten Moscheen in Berlin" gewesen, eine der "Top drei". Er selbst sei seit 2013 in der Aufklärungseinheit der Abteilung 6 des LKA tätig und habe damals im Schnitt alle zwei Tage die Fussilet-Moschee in Augenschein genommen.

Dem späteren Attentäter Amri sei er zuvor zweimal bei Personenkontrollen begegnet, allerdings ohne zu wissen, um wen es sich handelte.

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3. Zeuge berichtet über Attentats-Schauplatz

1. Untersuchungsausschuss/Ausschuss

Berlin: (hib/WID) Ein pensionierter Hauptkommissar der Berliner Polizei hat dem 1. Untersuchungsausschuss ("Breitscheidplatz") seine Eindrücke auf dem Weihnachtsmarkt an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche unmittelbar nach dem Terroranschlag des Tunesiers Anis Amri geschildert. Er selber habe sich etwa 60 Meter entfernt auf der anderen Seite des Breitscheidplatzes befunden, als Amri mit einem Sattelschlepper in eine Budengasse des Weihnachtsmarktes raste, sei aber nur Minuten später am Ort des Geschehens gewesen, sagte der Zeuge Rainer Grape am Donnerstag. Der heute 62-jährige Ruhestandsbeamte war im Dezember 2016 im Abschnitt 25 der Berliner Polizeidirektion 2 tätig und als Streifenführer auf dem Weihnachtsmarkt im Einsatz.

"Gegen 20 Uhr vernahm ich einen lauten Knall, ein Geräusch, als wenn ein Feuerwerk abgebrannt wird. Ich habe gedacht, da stürzt ein Haus ein", schilderte der Zeuge den Augenblick des Anschlags. Vom polizeilichen "Infomobil", wo er seinen Wachdienst am Weihnachtsmarkt versah, habe er sich so schnell wie möglich in die Richtung begeben, aus der der Knall zu hören gewesen sei. Die Beifahrertür des Sattelschleppers sei verschlossen gewesen, die Fahrertür habe offengestanden. Ein Zeuge habe berichtet, der Fahrer sei aus dem Führerhaus gestiegen und in Richtung des Bahnhofs Zoo fortgerannt. Der Zeuge habe eine Personenbeschreibung des Mannes gegeben, die er weitergemeldet habe, sagte Grape.

Nachdem er eine Zeugensammelstelle angewiesen und für die Absperrung der Straße gesorgt habe, habe er einen Blick ins Führerhaus geworfen, berichtete Grape weiter. Im Inneren sei alles mit Trümmern übersät gewesen: "Die Windschutzscheibe war kaputt, da war ein halber Weihnachtsbaum drin." Zu seiner Überraschung habe er festgestellt, dass über Fahrer- und Beifahrersitz ausgestreckt und in eine helle Decke gehüllt eine Mensch lag. Sein Eindruck sei gewesen, der Mann sei durch die Wucht des Aufpralls aus der Schlafkoje ins Führerhaus geschleudert worden.

Er habe an der Person gerüttelt, aber kein Lebenszeichen mehr festgestellt. Der Mann sei groß und schwer und im Führerhaus förmlich eingekeilt gewesen. Allein habe er ihn nicht bergen können. Dies sei erst mit Hilfe der Feuerwehr gelungen. Er habe die Leiche durchsucht, aber keine Ausweispapiere gefunden, sagte Grape. Wie sich herausstellte, handelte es sich um den polnischen Fahrer des Sattelschleppers, den Amri erschoss, als er den Wagen kaperte.

Sein Dienst am Breitscheidplatz habe regulär um 13 Uhr begonnen und hätte um 21 Uhr enden sollen, sagte der Zeuge. Am Nachmittag habe ihn ein Kirchenrat der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche in seinem Infomobil aufgesucht und von einer Drohung berichtet, dass auf die Weihnachtsandacht am 24. Dezember ein Attentat verübt werden sollte. Da er zunächst nicht habe ausschließen können, dass Amris Anschlag mit dieser Drohung in Zusammenhang stand, habe er die Mitteilung des Kirchenrats in seinen Bericht aufgenommen.

Wie der Ausschuss von einem anderen Zeugen erfuhr, wurden am Abend des Attentats in der Menge der Schaulustigen mindestens drei polizeibekannte Islamisten festgestellt. Er habe dies von Kollegen, die am Tatort eingesetzt waren, über eine gemeinsame WhatsApp-Gruppe erfahren, sage Polizeioberkommissar R. D. in seiner Vernehmung. Der heute 46-jährige Zeuge war als Beamter der Abteilung 6 des Landeskriminalamts am Morgen nach dem Attentat an einer Beobachtungsmission vor der Moabiter Fussilet-Moschee beteiligt.

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4. Kriminalist schildert Spurensicherung

1. Untersuchungsausschuss/Ausschuss

Berlin: (hib/WID) Ein Beamter der Berliner Kriminalpolizei hat dem 1. Untersuchungsausschuss ("Breitscheidplatz") über die Spurensicherung nach dem radikalislamischen Terroranschlag auf den Weihnachtsmarkt an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche berichtet. Dabei habe er selber die Anweisung gegeben, den Sattelschlepper, den der Attentäter Anis Amri benutzt hatte, vom Tatort zu entfernen, sagte Kriminalhauptkommissar Thomas Bordasch am Donnerstagabend. Der heute 46-jährige Zeuge ist nach eigenen Worten seit 1995 in der Siebten Mordkommission der Berliner Polizei tätig und wurde am Abend des Anschlags am 19. Dezember 2016 aus dem Feierabend in den Dienst beordert.

Als er gegen 23 Uhr am Tatort eingetroffen sei, sei die "grobe Chaosphase" bereits vorbei gewesen, sagte der Zeuge. Die Verletzten seien versorgt und vom Schauplatz des Anschlags weggebracht worden. Neun Tote lagen noch zwischen den Trümmern des Weihnachtsmarkts. Die Ladung des Sattelschleppers sei auf möglicherweise versteckten Sprengstoff überprüft und für harmlos befunden worden. Er habe, anders als unmittelbar nach dem Anschlag, die Beifahrertür geöffnet, die Fahrertür geschlossen vorgefunden, berichtete Bordasch. Gegen 1.45 Uhr hätte fünf polizeiliche Schadensteams am Ort mit der Spurensicherung begonnen.

Er habe angeordnet, so Bordasch weiter, den Lastwagen abzuschleppen und in einer geschlossenen Halle unterzubringen. Das Risiko, dadurch einzelne Befunde zu stören, habe er als nachrangig betrachtet und in Kauf genommen. Entscheidend sei für ihn gewesen, dass es wegen der Winterkälte im Freien nicht möglich gewesen wäre, sensible Hinterlassenschaften wie Fingerabdrücke, Schmauch- und Geruchsspuren oder DNA zuverlässig zu sichern. Es sei zum damaligen Zeitpunkt immerhin noch denkbar gewesen, dass diese Beweismittel in einem Verfahren gegen den Attentäter benötigt worden wären. In der Tat hätten sich an den Außenseiten der Türen des Fahrerhauses zwei Fingerabdrücke gefunden, die sich beide dem Täter Anis Amri hätten zuordnen lassen.

Es habe sich dann aber als gar nicht so einfach erwiesen, den Schwerlaster vom Tatort wegzubewegen. Gegen 5.45 Uhr am Morgen des 20. Dezember sei der Abschleppdienst am Breitscheidplatz eingetroffen. Bis elf Uhr habe es gedauert, bevor der Transport habe aufbrechen können. Im Schritttempo sei es über die Stadtautobahn zu einer Kaserne gegangen, wo eine geeignete Halle verfügbar gewesen sei. Gegen 14.25 Uhr sei der Sattelschlepper dort angekommen. Zunächst habe allerdings die Luft aus den Reifen gelassen werden müssen, weil er sonst nicht in die Halle gepasst hätte.

Erst um 15.30 Uhr am 20. Dezember habe daher die eigentliche Beweissicherungsarbeit an dem Fahrzeug beginnen können. Das erkläre auch, warum der entscheidende Hinweis auf die Identität des Täters, eine Duldungsbescheinigung des Ausländeramts des Kreises Kleve, erst so spät entdeckt wurde. Sie habe sich in einer Geldbörse befunden, die ihrerseits unter einer Decke am Boden des Führerhauses gelegen habe. Um genau 16.45 Uhr habe er den Fund gemeldet, berichtete der Zeuge.

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Quelle:
Heute im Bundestag Nr. 255 - 6. März 2020 - 10.25 Uhr
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. März 2020

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