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SCHLESWIG-HOLSTEIN/2112: Der Flüchtlingsbeauftragte Stefan Schmidt über die Chancen der Zuwanderung (Landtag)


Der Landtag - Nr. 03 / Oktober 2015
Die Parlamentszeitschrift für Schleswig-Holstein

DEMOGRAPHIE
"Deutschland 2040? Bunt!"
Der Flüchtlingsbeauftragte Stefan Schmidt über die Chancen der Zuwanderung

Interview: Karsten Blaas


Er sei selbst ein Flüchtling, sagt Stefan Schmidt. 1941 in Stettin geboren, floh er zum Kriegsende mit seiner Familie nach Schleswig-Holstein. Auf der Seefahrtsschule in Lübeck machte er sein Patent als Kapitän auf großer Fahrt. Zwischenzeitlich leitete Stefan Schmidt eine Seemannsschule im Südpazifik und war Honorarkonsul des Inselstaates Tuvalu. Im Juni 2004 nahm er als Kapitän des Rettungsschiffes "Cap Anamur" im Mittelmeer 37 afrikanische Flüchtlinge an Bord und brachte sie nach Sizilien. Die italienischen Behörden beschlagnahmten daraufhin das Schiff, nahmen Schmidt und weitere Besatzungsmitglieder fest und erhoben Anklage wegen "bandenmäßiger Beihilfe zur illegalen Einreise". Das Verfahren endete fünf Jahre später mit einem Freispruch. Stefan Schmidt wurde unter anderem mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille der Internationalen Liga für Menschenrechte ausgezeichnet. Im Oktober 2011 wählte ihn der Landtag einstimmig zum Landesbeauftragten für Flüchtlings-, Asyl- und Zuwanderungsfragen.


Karsten Blaas: Herr Schmidt, zehntausende Flüchtlinge sind in diesem Jahr schon nach Deutschland und nach Schleswig-Holstein gekommen. Hat Sie die Entwicklung überrascht?

Stefan Schmidt: Überhaupt nicht. Wenn man nach Syrien blickt, wo Millionen Menschen geflohen sind und in den Nachbarländern in Zeltlagern leben: Es ist doch ganz klar, dass die sich dann irgendwann sagen, dieser Krieg wird in den nächsten zwei, drei Jahren nicht zu Ende gehen. Dass die Menschen sich überlegen, mit ihren Kindern irgendwo hinzugehen, wo sie sicher aufgenommen werden und wo sie vielleicht auch eine Perspektive haben. Dass sie versuchen, in freundlich gesinnte Länder zu kommen, und wir sind ja Gott sei Dank inzwischen ein freundliches Land.


Karsten Blaas: Statistiker sagen, dass Deutschland pro Jahr 400.000 Menschen aufnehmen muss, um seine Einwohnerzahl stabil zu halten und um auch in Zukunft junge Arbeitskräfte zu finden. Gleichzeitig sind 80 Prozent der Asylbewerber unter 35 Jahre alt, 30 Prozent sind Minderjährige. Insofern ist der Flüchtlingsstrom eine Chance...

Stefan Schmidt: Absolut. Bei einem meiner Besuche in einer Deutsch-als-Zweitsprache-Klasse war es schön zu sehen, wie willig und eifrig die jungen Menschen dort gesessen und gelernt haben. Wenn dann der richtige Lehrer dabei ist, dann haben wir ein tolles Potential.


Karsten Blaas: Flüchtlinge begegnen vielen Herausforderungen, wenn sie hierher kommen. Was muss Ihrer Meinung nach passieren, um diese Probleme zu bewältigen? Stichwort Spracherwerb...

Stefan Schmidt: Wenn die Menschen hierher kommen, dann sollen sie erst mal freundlich begrüßt werden und zur Ruhe kommen. Denn was sie durchgemacht haben, das möchten wir alle nicht erleben. Aber dann muss als Allernächstes sofort der Deutschunterricht folgen. Das ist der Schlüssel zu allem. Dafür brauchen wir aber dringend mehr Lehrer. Ich war im September in Lübeck in der Gewerbeschule für Nahrung und Gastronomie. Die Lehrer dort sagen, dass sie gerne freiwillig Deutsch als Zweitsprache unterrichten. Nur: Die sind natürlich jetzt schon ausgelastet.


Karsten Blaas: Was ist zu tun?

Stefan Schmidt: Man muss neue Lehrer dazu holen, und hier sollte man die Regeln aufweichen. Eigentlich muss ein Lehrer ja zwei Fächer unterrichten. Das führt dazu, dass ein gestandener Lehrer mit sehr viel Lebenserfahrung, der aber nur ein Fach hat, zurzeit nicht eingestellt werden kann. Das sollte sich ändern.


Karsten Blaas: Stichwort Wohnraum ...

Stefan Schmidt: Das ist fast noch wichtiger als der Spracherwerb. Ich unterstütze den Vorschlag aus der Wohnungswirtschaft, die Standards zumindest zwischenzeitlich zu senken, um möglichst schnell neue Wohnungen zu bauen. Einen anderen Vorschlag sehe ich dagegen kritisch: Es wäre nicht gut, leerstehende Wohnungen in kleineren Städten oder in Dörfern großflächig an Flüchtlinge zu vergeben. Denn das Ergebnis wäre eine Ballung, die die Struktur des Ortes durcheinanderbringen würde.


Karsten Blaas: Stichwort deutsche Kultur und Wertvorstellungen ...

Stefan Schmidt: Natürlich haben Menschen aus Syrien oder Afghanistan andere Werte als wir. Vielleicht sollte man den Artikel 1 des Grundgesetzes ("Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.") in die verschiedenen Sprachen übersetzen und den geflüchteten Menschen bei ihrer Ankunft überreichen.


Karsten Blaas: Wie wird sich Deutschland durch die Ereignisse der jüngsten Zeit verändern? Wie wird unser Land im Jahr 2030 oder 2040 aussehen?

Stefan Schmidt: Bunt. Der Einfluss anderer Kulturen wird eine Bereicherung sein. Und dieser Begriff "Migrationshintergrund" wird dann vielleicht überholt sein. Denn wer denkt heute noch bei den Nachfahren der Hugenotten, die immer noch französische Nachnamen tragen, daran, dass ihre Familien einmal Zuwanderer waren? Oder bei den vielen Menschen mit polnischen Namen?

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Quelle:
Der Landtag, Nr. 03 / Oktober 2015, S. 8
Mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers:
Der Präsident des Schleswig-Holsteinischen Landtages
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Tobias Rischer (verantwortlich)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. November 2015

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