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INNEN/2786: Beschluss des Parteivorstands - Unsere Demokratie stärken


SPD-Pressemitteilung vom 19. Oktober 2015

Beschluss des SPD-Parteivorstands: Unsere Demokratie stärken - mehr Transparenz, mehr Profil, mehr Mitentscheidung, mehr Wahlbeteiligung!


Auf seiner heutigen Sitzung hat der SPD-Parteivorstand folgenden Leitantrag für den Bundesparteitag im Dezember 2015 in Berlin beschlossen:


Familie im Wandel - Moderne Familienpolitik weiter denken

I. Wahlbeteiligung und demokratische Kultur


Sinkende Wahlbeteiligung gefährdet die Demokratie

Demokratie ist die Grundlage für Freiheit, Selbstbestimmung und soziale Sicherheit. Nur in einer starken und lebendigen Demokratie können Menschen ihre Wünsche und Interessen frei artikulieren und gemeinsam - auch im Konflikt - friedlich in der Gesellschaft umsetzen. Demokratie ist jahrhundertelang erkämpft worden. Und auch heute noch sterben Menschen in ihrem Einsatz für Demokratie, Frieden und Gerechtigkeit. Viele Millionen Menschen auf der Welt sind noch dabei, demokratischen Fortschritt zu erkämpfen. Und auch in Deutschland ist es gerade einmal 25 Jahre her, dass Menschen für ihre Freiheit gekämpft haben. Heute sind Europa und Deutschland Vorbilder des politischen Fortschritts, trotz aller Mängel und Probleme.

Politische Willensbildung in Parteien und in gesellschaftlichen Initiativen ist eine tragende Säule für eine starke Demokratie. Wahlkämpfe und Wahlen sind Festtage der Demokratie. Dieses demokratische Grundverständnis wollen wir erneuern.

Über viele Jahre beobachten wir in Deutschland aber auch in anderen europäischen Demokratien, dass sich immer weniger Menschen an den Europa-, Bundes-, Landes- und Kommunalwahlen beteiligen. Einzelne Ausnahmen haben diesen Trend bislang nicht umkehren können. Auch bei den Landtagswahlen in diesem Jahr ist die Wahlbeteiligung noch weiter gesunken.

- Wahlbeteiligungen von knapp unter oder knapp über 50 Prozent bei einigen Landtagswahlen und z.T. deutlich unter 50 Prozent bei vielen Kommunalwahlen werfen die Frage nach der Legitimation der politischen Repräsentation auf.

- Hinzu kommt: Aktuelle Studien (u.a. der Bertelsmann-Stiftung) haben gezeigt: Je sozial schwieriger die Lebensverhältnisse in einem Wahlbezirk, desto geringer ist die Wahlbeteiligung. Auch ein geringeres Bildungsniveau verstärkt Wahlenthaltung. Die sinkende Wahlbeteiligung in Deutschland geht einher mit einer sozialen Spaltung der Wählerschaft. Die Wahlergebnisse in Deutschland sind im Blick auf die Sozialstruktur der Wählerschaft z.T. nicht mehr repräsentativ.

- Beim Thema Repräsentation gilt überdies leider auch: die ungleiche Repräsentation der Geschlechter ist ein Anachronismus, der zu überwinden ist: Frauen stellen mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Aber auch im 21. Jahrhundert bleibt der Frauenanteil im Deutschen Bundestag, den Landtagen, den Kreis-, Stadt- und Gemeinderäten deutlich hinter ihrem Bevölkerungsanteil zurück, auch wenn es einige Fortschritte in den letzten 20 Jahren gegeben hat.

- Und nicht zuletzt gewinnt angesichts hoher Zuwandererzahlen nach Deutschland auch die Frage nach der Integration in unser politisches und demokratisches System an Bedeutung. Dabei geht es nicht zuallererst um die Beteiligungsmöglichkeit an Wahlen, sondern um das Kennenlernen und Annehmen der politischen Kultur, die sich vor allem in den ersten 20 Artikeln des Grundgesetzes ausdrückt.

- Eine geringe Wahlbeteiligung begünstigt extreme, populistische und Splitterparteien und macht damit Parlaments- und Regierungsarbeit gerade in Krisenzeiten nicht einfacher.

- Auf europäischer Ebene ist die Akzeptanz der Integrationsperspektive in eine grundsätzliche Krise geraten, die nur über neues Vertrauen in demokratische Willensbildungsverfahren überwunden werden kann.

- Politik, aber auch die Medien, erleben eine wachsende argwöhnische Distanz der Menschen zu ihren Aufgaben und Leistungen. Lobby-Interessen und Beeinflussungsstrategien scheinen für viele die demokratischen Verfahren zu unterlaufen. Das Ansehen von Politik und Politikerinnen und Politikern rangiert neben den Medien weit unten.

- Eine Haltung scheint sich bei einigen zu verfestigen, die Wahlenthaltung als "coole" Protesthaltung zelebriert, anderen scheint Politik "egal" zu sein. Für viele sind Politik und Wahlen eine alltagsweltlich fremde Welt.

Dies sind allesamt dringende Gründe für die SPD, eine breite, überparteiliche Initiative zur Steigerung der Wahlbeteiligung anzuregen. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen nicht tatenlos bleiben und uns gemeinsam mit anderen demokratischen Parteien auf Bundes- und Länderebene dafür einsetzen, dass sich möglichst viele Bürgerinnen und Bürger aktiv an Wahlen und aktiv am politischen Leben insgesamt beteiligen. Eine starke Wahlbeteiligung stärkt die Legitimation von Politik und Institutionen, kann Vertrauen erneuern helfen und sorgt auch dafür, dass rechtsextreme und -populistische Parteien weniger Chancen auf den Einzug in die Parlamente haben.


Demokratische Verantwortung der SPD in Deutschland

- Die SPD als älteste demokratische Partei des Landes kämpft seit 152 Jahren für Gerechtigkeit, demokratische Qualität und Vitalität des politischen Systems in Deutschland.

- Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben vor bald 100 Jahren - zusammen mit der Arbeiter-, Gewerkschafts- und Frauenbewegung maßgeblich das demokratische Wahlrecht in Deutschland durchgesetzt. Am 12. November 1918 verkündete der Rat der Volksbeauftragten: "Alle Wahlen zu öffentlichen Körperschaften sind fortan nach dem gleichen, geheimen, direkten, allgemeinen Wahlrecht auf Grund des proportionalen Wahlsystem für alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen zu vollziehen." Am 19. Januar 1919 konnten Frauen in Deutschland bei der Wahl zur Deutschen Nationalversammlung erstmals auf nationaler Ebene ihr Wahlrecht ausüben.

- Vor demnächst 50 Jahren setzte Willy Brandt unter dem Motto "Wir wollen mehr Demokratie wagen" (Regierungserklärung 1969) Reformen in der Bundesrepublik durch, die Staat und Gesellschaft moderner und liberaler machten und viele Bürger zur politischen Partizipation aktivierten.

- Seit 1989 fordert die SPD, das Recht auf Volksabstimmungen ins Grundgesetz aufzunehmen. Das würde den Bürgerinnen und Bürgern mehr Rechte zur Mitgestaltung einräumen und die Politik zwingen, ihre Gesetzgebung sorgfältiger zu begründen, wenn sie nicht Gefahr laufen will, in einer Volksabstimmung korrigiert zu werden. Leider blockiert die CDU unter Angela Merkel bis heute beharrlich alle Vorschläge hierzu.

- Die SPD setzt heute auch innerparteilich die Standards moderner Partizipation. Viele Menschen haben auf unser Wahlprogramm per Bürgerdialog Einfluß nehmen können und unsere Mitglieder haben erstmals direkt über einen Koalitionsvertrag in Deutschland verbindlich abgestimmt.


Partizipation und Integration als zentrale Zukunftsaufgaben der modernen Gesellschaft

- Trotz sinkender Wahlbeteiligung gilt: Große Mehrheiten in der Bevölkerung wünschen nicht weniger, sondern mehr demokratische Teilhabe. Auch durch transparente Verfahren der Bürgerbeteiligung und direkte Abstimmungen auf Kommunal-, Landes-und Bundesebene wollen die Menschen partizipieren. Grundsätzlich gilt: die Förderung bürgerschaftlicher Teilhabe und ehrenamtlichen Engagements in einer "Bürgergesellschaft" ist mit der Erneuerung der politischen Kultur und einer Stärkung des politischen Systems eng verbunden. Das "neue Ehrenamt" ist dabei z.T. weniger dauerhaft, dynamischer, anspruchsvoller und auch von Eigeninteresse geprägt. Daher sind Selbstorganisation, Entscheidungskompetenz, persönliche und moralische Betroffenheit sowie Handlungsautonomie heute die wichtigsten Treiber für bürgerschaftliches Engagement.

- Dabei darf aber nicht die sozial unterschiedlich verteilte tatsächliche Teilhabe-Chance und reale Teilhabe unterschlagen werden. Erst die Verminderung bzw. Überwindung sozialer Spaltung und der Ausbau sozialer Teilhabe kann unsere Demokratie nachhaltig stärken. Neben einer Politik, die auf Vollbeschäftigung, Entlastung von Familien und Alleinerziehenden und z.B. gezielte Integration von MigrantInnen setzt, ist die Qualität und Durchlässigkeit unseres Bildungssystems dafür entscheidend.

- Insbesondere junge Menschen müssen wir noch stärker in den Blick nehmen. Um für Demokratie zu begeistern, müssen wir Schulen und Hochschulen zu Orten der gelebten Demokratie machen. Diskussionen und politische Veranstaltungen müssen überall selbst-verständlich sein. Nur so kann politische Willensbildung schon früh beginnen - und das Bewusstsein mit der eigenen Stimme Einfluss zu nehmen, wachsen. Daneben sind für die Demokratieerziehung von jungen Menschen die Landeszentralen und die Bundeszentrale für Politische Bildung von großer Bedeutung. Diese gilt es zu stärken.

- Das Internet verändert Informationsgewinnung, Kommunikation und politische Entscheidungsfindung. Die Modernisierung der Wahl- und Abstimmungsverfahren mit Unterstützung durch elektronische Mittel ist auf mittlere Sicht unausweichlich. Dies sollte bei allen Reformdiskussionen berücksichtigt werden. Dabei ist klar: Wahlen müssen verlässlich und sicher sein. Ein berechenbares, nicht manipulierbares Wahlsystem ist elementar für eine Demokratie. Unabdingbar dafür sind aber eine deutlich höhere Sicherheit im Netz und die Unverletzbarkeit des Wahlgeheimnisses.

- Nicht zuletzt erfordert die Realität der Einwanderungsgesellschaft Bundesrepublik Deutschland im Herzen der Europäischen Union eine demokratische politische Willkommens-Kultur, die Integration und Beteiligung für Migrantinnen und Migranten erleichtert und zugleich der Stärkung eines positiven Bezuges zu unserer Verfassung und unserem Gemeinwesen dient.

- Das kommunale Wahlrecht für alle Ausländer, die seit mindestens fünf Jahren ortsansässig sind, sollte in Deutschland ermöglicht werden.


Gemeinsame Initiative zur Steigerung der Wahlbeteiligung

- Wir haben allen im Bundestag vertretenen Parteien eine "Gemeinsame Initiative zur Steigerung der Wahlbeteiligung" vorgeschlagen, die auch gesellschaftliche Akteure wie z.B. Gewerkschaften, Verbände, NGOs, Kirchen und Unternehmerverbände einbeziehen soll. Gemeinsam mit den demokratischen Parteien auf Bundesebene wollen wir Maßnahmen entwickeln, um die Wahlbeteiligung zu erhöhen und unsere Demokratie zu stärken. Den Sachverstand der Wissenschaft beziehen wir mit ein.

- Zugleich werben wir in Öffentlichkeit und Medien für eine breite Diskussion über unsere demokratische politische Kultur. Dabei wollen wir uns auch offen und lernbereit zeigen für Kritik an den Parteien. Die demokratischen Parteien haben eine Mitverantwortung dafür, dass möglichst viele Menschen zur Wahl gehen. Sie haben eine Verpflichtung, ihren Verfassungsauftrag der Willensbildung durch deutliches programmatisches Profil, klare Sprache und verantwortliches Handeln umzusetzen. Sie leben vom Vertrauen der Bürger und obliegen ihrer Kontrolle. Politik, Parteien und die handelnde Personen müssen sagen, was sie tun und tun, was sie sagen.

- Politische Willensbildung - auch im Konflikt - ist Kernvoraussetzung für eine funktionierende Demokratie. Wahlkämpfe und Wahlen sind Festtage der Demokratie. Dieses demokratische Grundverständnis muss wieder erneuert werden. Eine klare und unterscheidbare politische Programmatik der Parteien ist dafür unerlässlich. Die Wählerinnen und Wähler müssen das Vertrauen haben, etwas bewirken zu können und klare Entscheidungsalternativen haben.

- Parteien und Politikerinnen und Politiker müssen das Vertrauen der Menschen durch verantwortliche Entscheidungen rechtfertigen können. Politik ist für die Menschen da - nicht umgekehrt. Verbesserte Transparenzregeln für Abgeordnete sind ein wichtiger Schritt gewesen, ein umfassender Verhaltenskodex sowie ein Register für den Lobbyismus sind noch zu schaffen, auch eine Erweiterung öffentlicher Informationsrechte und eine verbesserte Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger in unterschiedliche Planungsprojekte steht weiter auf der Agenda.


II. Handlungsvorschläge für mehr Wahlbeteiligung und eine erneuerte politische Kultur

Wählen ist ein sozialer Akt. Eine Debatte über Instrumente allein oder politische Kosten-Nutzen-Rechnungen werden dem Anspruch an eine gute demokratische Kultur nicht gerecht. Es geht nicht um moralisch-wertende Vorschriften. Menschen werden am meisten in ihrer Lebenswelt über Familie und Freunde motiviert, wählen zu gehen. Wahlen gehören zurück ins Alltagsleben. Zeitliche und räumliche Flexibilität gehört zu den gewachsenen Ansprüchen der Menschen. Wir müssen es ihnen so einfach wie möglich machen, ihre politischen Interessen bei Wahlen zu artikulieren. Wir müssen die Wahlurne näher an die Wählerinnen und Wähler bringen. Und die Menschen müssen das Gefühl haben: ihre Stimme zählt, es bewirkt etwas, wenn sie wählen gehen.

Die Politik muss ein doppeltes Signal an die Bürgerinnen und Bürger senden: Erstens: Jede Wählerstimme ist gefragt, Wahlkämpfe und Wählen stärken die Demokratie. Zweitens: Wir wollen die Stimmabgabe soweit es möglich ist, weiter erleichtern und in die Alltagskultur der Menschen integrieren.

Dabei können zunächst in einem ersten Schritt eine Reihe von einfachen, wirksamen und positiven Maßnahmen helfen, die ohne großen Streit und Gesetzesreformen auskommen. Dies sind vor allem Vorschläge, die zu einer Verbesserung der Information und der Motivation beitragen und das Verständnis bzw. die Akzeptanz der Wahlkämpfe sowie die Aufmerksamkeit für die Bedeutung von Wahlen erhöhen.

In einem zweiten damit verbundenen Folgeschritt müssen Reformen des Wahlsystems geprüft und eingeleitet werden, die Hürden absenken und die Stimmabgabe alltagstauglich erleichtern. Ein dritter Schritt wäre die Ergänzung demokratischer Verfahren in der parlamentarischen Demokratie durch Elemente wie Volksabstimmungen oder ggf. die Absenkung des Wahlalters.


Mehr Information, Motivation und Akzeptanz

- Verbesserter Service

Informationen zu anstehenden Wahlen müssen früher, einfacher (verständliche Sprache und mehrsprachige Info-Angebote) und serviceorientierter erfolgen. Die Möglichkeiten der Kommunikation über Email und SMS (Hinweise zu Wahllokalen, Erinnerungsservice u.a.m.) sollten verstärkt genutzt werden.

-Logos auf Stimmzettel

Auf den Wahlzetteln sollen Parteilogos aufgedruckt werden, um die Wahl für seh- und lesebenachteiligte Menschen zu erleichtern.

- Öffentliche Wahlaufrufe

Verwaltungen und Medien sollten verstärkt neutral zur Wahlteilnahme aufrufen, öffentliche Initiativen zur Steigerung der Wahlbeteiligung von prominenten und nichtprominenten Bürgerinnen und Bürgern, Vereinen und Verbänden sind zu fördern.

- Politische Bildung

Die Landeszentralen für Politische Bildung und andere Bildungs-Einrichtungen sollen ihr Informationsangebot im Bezug auf Wahlen und Wahlkämpfe erweitern. Entsprechende Fördermittel werden aufgestockt.

- Aktionstage für die Demokratie

An Schulen und Bildungseinrichtungen könnten Aktionstage für die Demokratie (mit Probewahlen, Planspielen, Podiumsdiskussionen, Wahlanalysen u.a. Veranstaltungsformaten) durchgeführt werden, die das Verständnis für die Verfassungsordnung und das politische System stärken. Demokratie muss bereits in der Schule erlebbar sein.

- Tage der offenen Tür

Tage der offenen Tür in Rathäusern, Parlamenten oder Ministerien sind wertvolle Angebote, entsprechend sind auch informative Gruppenreisen in die Hauptstädte des föderalen deutschen Systems weiter zu fördern.

- Wahlkampfrestriktionen abbauen

Unnötige Restriktionen des Wahlkampfes insbesondere auf kommunaler Ebene (Raum-vergabe, Infostände, Veranstaltungen in öffentlichen Gebäuden/Schulen) sind zu überprüfen. Wahllokale sollten offensiv ausgeschildert werden.

- Engagement würdigen

Das ehrenamtliche Engagement der Wahlhelferinnen und Wahlhelfer muss noch stärker gewürdigt werden.

- Wahltermine zusammenlegen

Wo sinnvoll und möglich, sollten Wahltermine weiter zusammen gelegt werden oder mit Abstimmungen über Sachfragen kombiniert werden (Beispiel Europawahl und Kommunalwahlen, Bayrische Landtagswahl und Volksabstimmungen zur Verfassung, allgemein: Bürgermeister- und Ratswahlen). Dabei gilt es zu bedenken, dass die Zusammenlegung von Wahlterminen aus technischen Gründen (unterschiedliche Wahlperioden) oft schwierig ist. Zugleich müssen Wahlen auf unterschiedlichen Ebenen ihrer eigenen politischen Logik folgen können.

- Debattenkultur und Regierungsbefragung verbessern

Wir unterstützen die Bemühungen des Bundestagspräsidenten und der Fraktionen im Ältestenrat des Deutschen Bundestages, die Parlamentsdebatten künftig spannender zu gestalten und die Verfahren der Regierungsbefragung zu verbessern. Offene und interessante Debatten im Parlament sind unverzichtbar für die Aufmerksamkeit der Menschen gegenüber den für sie wichtigen Themen und Problemen im Land.


Hürden absenken und Stimmabgabe erleichtern

- Briefwahl vereinfachen

Die heutige Briefwahlmöglichkeit kann leider nur noch in begrenztem Umfang vereinfacht und erweitert werden. Unsere verfassungsrechtlichen Prüfungen haben auf Prinzipien verwiesen, die bei der Diskussion um Erleichterung der Stimmabgabe zu beachten sind. So ist vor allem im Hinblick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsfgerichtes von einem verfassungsrechtlichen "Leitbild der Urnenwahl" auszugehen, was z.B. die Möglichkeiten einer Ausweitung der Briefwahl begrenzt bzw. ein hohes rechtliches Risiko bedeutet. Eine obligatorische Übersendung der Briefwahlunterlagen an alle Wahlberechtigten ist daher z.B. nicht zu empfehlen.

- Stimmabgabe für Auslandsdeutsche erleichtern

Für die Wählergruppe der Auslandsdeutschen, die in der Regel per Briefwahl abstimmen, sollten starke Erleichterungen der Registrierung und Stimmabgabemöglichkeiten geprüft werden.

- Wahlwochenende und mobile Wahlstationen

Bei den für die Steigerung der Wahlbeteiligung wirksamen Vorschlägen sind sowohl die zeitliche Ausweitung der Stimmabgabemöglichkeit ("Vorgezogene Urnenwahl") als auch die Einrichtung mobiler Wahlstationen besonders relevant. Ziel ist hier, den Bürgerinnen und Bürgern alltagspraktisch erleichterte Wege zur Stimmabgabe zu eröffnen. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen frühere und mobile Stimmabgaben bestehen nicht. Als Referenz können u.a. Erfahrungen des schwedischen Wahlsystems gelten, das seit vielen Jahren praxistauglich funktioniert.

Eine briefwahlunabhängige und mobile Erweiterung der Stimmabgabemöglichkeit könnte praktisch z.B. so aussehen: Kurzfristig könnten "Filialen" der Gemeindebehörde innerhalb eines Wahlbezirks (Wahlstationen) in Bürgerämtern, kommunalen Dienststellen oder auch öffentlichen Bibliotheken bis hin zu Polizeistationen eingerichtet werden, bei denen am Freitag und Samstag vor dem Wahlsonntag abgestimmt werden kann. Zusätzlich könnten mobile Wahlstationen (Busse/Container) eingesetzt werden, die an besonders frequentierten und bequem erreichbaren (nach rechtskonformen Kriterien ausgewählten) Verkehrsknotenpunkten (Bahnhöfe, Fußgängerzonen) aufgestellt werden. Neben den "festen" mobilen Wahlstationen sollte zugleich der Einsatz tatsächlich mobiler Wahlstationen (z.B. in Altenheimen, Behinderteneinrichtungen, Krankenhäusern) umgesetzt werden.

Für mobile Wahlstationen sprechen eine Reihe von Gründen. Wichtig ist zunächst der Abbau von Mobilitätshürden wie sie sich schon durch die unterschiedliche Situation in urbanen und ländlichen Räumen ergeben. Hinzu kommt die demografische Entwicklung. In den letzten 40 Jahren ist die Anzahl der Menschen, die wegen ihres hohen Alters und der schwindenden Mobilität die Wohnung nicht mehr alleine verlassen können, und des-halb den langen Weg zum Wahllokal meiden oder die fehlende Barrierefreiheit fürchten, gestiegen. Dabei gilt: Alte Menschen beteiligen sich überdurchschnittlich aktiv an Wahlen. Insbesondere für alte Menschen ist - auch aus historischen Gründen - der Gang zur Wahlurne ein ganz wichtiger Akt. Der Wahltag war für diese Altersgruppe schon immer ein besonderer Tag, den man z.T. auch mit Festtagskleidern beging.

Wir verzeichnen insgesamt einen Anstieg der Personen, die wegen Gebrechlichkeit oder Demenz in Seniorenheimen leben. Für diese Personengruppen und viele weitere Menschen mit Mobilitätseinschränkungen müssen Lösungen gefunden werden, ihnen den Zugang zu einer mobilen Wahlurne zu ermöglichen.

In diesem Sinne fordern wir die SPD-Bundestagsfraktion auf, bei der Novellierung des Betreuungsrechts bzw. des Wahlrechts im Sinne der Inklusion das Thema "Wahl trotz geistiger Behinderung oder Demenz" entsprechend zu bearbeiten. Viele Demente wissen trotz ihrer zeitweisen "Verwirrung" sehr gut, was sie wählen wollen. Ihre Behinderung behindert sie nicht am Politisch-Sein. Und sie legen oft Wert darauf, auch zur Wahl gehen zu können, weil sie es ja ihr ganzes Leben lang getan haben. Dem muss der/die eingesetzte Betreuer/in folgen, sofern der/die Betreute nicht unter genereller Betreuung (Betreuung in allen Angelegenheiten) steht. Eine faktische Betreuung in den Bereichen "Aufenthaltsbestimmung", "Gesundheitsfürsorge" und "Vermögenssorge" beinhaltet keinen Ausschluss vom Wahlrecht.

- Elektronisches Wählerverzeichnis

Grundlegend für eine erweiterte zeitliche und mobile Stimmabgabemöglichkeit ist die Schaffung elektronischer Wahlregister als Basis mobiler Wahlstationen. Die "Filialen" der Gemeindebehörde müssten online verbunden sein und Zugriff auf ein elektronisches Wählerverzeichnis haben. Dabei ist vor allem auf sichere und manipulationsresistente Netzverbindungen und auf die Nutzung einer zuverlässigen Verschlüsselungssoftware zu achten. Erforderlichenfalls müsste ein besonderes, nur beschränkt zugängliches Intranet der Wahlbehörden installiert werden. Bis zur Etablierung eines funktionsfähigen und sicheren elektronischen Wahlverzeichnisses muss es anfangs praktikable Schritte für die Einführung von erweiterten zeitlichen und mobilen räumlichen Stimmabgaben auch unter "analogen" Bedingungen geben.

- Bundesmelderegister und Wählerverzeichnis

Langfristig sollte ein Bundesmelderegister geschaffen oder die Landesmelderegister derart vernetzt werden, dass von jeder Wahlstation der Zugriff auf ein zentrales Wählerregister zur Prüfung der Wahlberechtigung möglich ist. Ein Bundesmelderegister ist im Übrigen auch die grundlegende Voraussetzung für mögliche bundesweite Online- Wahlen bzw. -Abstimmungen in der Zukunft.

- Personal- und Sachkosten

Bei der Umstellung auf ein Frühwahlsystem mit zusätzlichen Wahlstationen und mobilen Wahlurnen fallen Personal- und Sachkosten (u.a. auch für Intranet/Software) an, die aber überschaubar bleiben, wenn der Einsatz von festen und mobilen "Filialen" einem effektiven Kriterienkonzept folgt. Neben ehrenamtlich tätigen Wahlhelfern müssten ggf. auch kommunale Bedienstete verpflichtet werden.

- Prüfung durch Pilotprojekte

Die Einführung eines reformierten Stimmabgabesystems erfordert die Prüfung in einem Pilotprojekt auf kommunaler bzw. Landesebene. Wir setzen uns dafür ein, dass in ausgewählten Bundesländern entsprechende Vorbereitungen umgehend begonnen werden.


Ergänzung und Erweiterung demokratischer Partizipationsmöglichkeiten

- Wahlalter und Partizipation in der Einwanderungsgesellschaft

Grundsätzlich sind Signale der Anerkennung und Wertschätzung sinnvoll für die politische Kultur. Eine Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre oder verbesserte Partizipation für Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund sollten jedoch nicht im Zeichen der Wahlbeteiligung, sondern müssen in erster Linie mit Blick auf allgemeine demokratische Partizipationsrechte diskutiert werden. Sie verbreitern das Wählerspektrum, tragen aber nichts oder nur wenig zur Steigerung der Wahlbeteiligung bei. Die Einbeziehung der Mitbürgerinnen und Mitbürger ohne deutsche Staatsbürgerschaft bei Wahlen stößt an verfassungsrechtliche Grenzen. Eine verbesserte Willkommenskultur mit vermehrter Einbürgerung ist hier die Alternative.

- Regelung von Volksabstimmungen im Grundgesetz

Die SPD streitet aktiv für eine Grundgesetzergänzung, die das künftige Verfahren von Volksbegehren und Volksabstimmungen auf Bundesebene regelt.


III. Weitere Schritte

- Wir wollen die Gespräche mit den anderen Parteien ergebnisorientiert und konstruktiv fortsetzen. Wir begrüßen, dass die parteinahen Stiftungen mit ihrer Expertise in einer eigenständigen Veranstaltungsreihe die Debatte um Wahlbeteiligung, Partizipation und politische Kultur im kommenden Jahr intensiv begleiten werden.

- Wir schlagen vor, im Herbst 2016 eine parteiübergreifende öffentliche Konferenz durchzuführen, auf der die rechtlichen und organisatorischen Vorschläge der einzelnen Partei-en für mehr Wahlbeteiligung diskutiert werden. An dieser öffentlichen Konferenz sollten auch gesellschaftliche Akteure wie Verbände, Glaubensgemeinschaften und NGOs beteiligt werden. Mit einer solchen Konferenz könnten wir als Parteien ein gemeinsames Zeichen für ein Mehr an Partizipation und für die Wertschätzung unserer Demokratie setzen. Das Ziel lautet, das erkämpfte demokratische Wahlrecht als Errungenschaft der Moderne zu verteidigen und so einem um sich greifenden Antiparlamentarismus sowie der Diskreditierung von PolitikerInnen und Parteienwettstreit entgegen zu treten. Am Ende soll ein konkretes Maßnahmenpaket stehen, zu dessen Umsetzung sich die Parteien auf den jeweiligen Ebenen verbindlich verpflichten.

- Wir wollen die Ergebnisse der Beratungen mit den Bürgerinnen und Bürgern diskutieren und sie in die Auswahl der besten Maßnahmen einbeziehen. Erste Schritte zur Verbesserung unserer politischen Kultur sollen noch vor der Bundestagswahl umgesetzt werden.

- Pilotmodelle erweiterter Stimmabgabeverfahren sollen zugleich umgehend auf den Weg gebracht werden. Sie sollen in Kommunal- und/oder Landtagswahlen getestet und wissenschaftlich evaluiert werden. Dies soll ideologische Debatten vermeiden helfen und Klarheit über Wirksamkeit, Praxistauglichkeit und entstehende Kosten bringen.

- Neben der Modernisierung des Wahlrechts fordert die SPD auch weiterhin verbesserte Transparenzregelungen für den Lobbyismus und ein umfassendes Lobbyregister mit Verhaltenskodex des Bundestages. Auch die Ausgestaltung der Abgeordnetenmandate muss in den öffentlichen Debatten eine nachvollziehbare Legitimation besitzen. Dabei kann es nicht um eine finanzielle Kürzung der Abgeordnetentätigkeit oder Mandatsausstattung gehen, denn wir wollen ausdrücklich gute, professionelle Arbeitsbedingungen für eine gute politische Arbeit, sondern um eine verbesserte Regelung und Legitimation der Abgeordnetenbezuge und der Altersvorsorgeregelungen aber auch um noch transparentere Karenzzeitregelungen beim Wechsel zurück oder Einstieg in das Wirtschaftsleben.

- Zur Bundestagswahl 2017 beteiligt sich die SPD an einer überparteilichen Initiative zur Steigerung der Wahlbeteiligung, an der sich Bürgerinnen und Bürger, prominente Multiplikatoren ("Elder Statesmen", KünstlerInnen, WissenschaftlerInnen, MedienvertreterInnen), Verbände und Parteien beteiligen sollen. Mottovorschlag: "Demokraten wählen!"

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Quelle:
SPD-Pressemitteilung 220/15 vom 19. Oktober 2015
Herausgeber: SPD Parteivorstand, Pressestelle
Bürgerbüro, Willy-Brandt-Haus
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Tel.: 030/25 991-300, Fax: 030/25 991-507
E-Mail: pressestelle@spd.de
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Oktober 2015

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