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AFRIKA/1365: Südafrika - Wenn Befreier ihre Legitimation verlieren (afrika süd)


afrika süd - zeitschrift zum südlichen afrika
Nr. 6, November/Dezember 2015

Wenn Befreier ihre Legitimation verlieren

von Ismail Lagardien


Die nationale Parteiratssitzung des ANC im Oktober illustrierte das Spannungsverhältnis zwischen Regierenden und Gesellschaft in Südafrika. Standortbestimmungen im Vorfeld der Lokalwahlen 2016.


Stell dir für einen Moment vor, du stehst auf dem Mittelstreifen einer Autobahn, direkt neben der Überholspur. Autos rasen an dir vorüber, eine Mauer aus Lärm und Geschwindigkeit umgibt dich, du fühlst dich überwältigt, hilflos, verängstigt, wie betäubt, irritiert und allein gelassen. Das ist das Bild vom regierenden African National Congress (ANC), der sich auf die Lokalwahlen im nächsten Jahr vorbereitet. Sie sollen voraussichtlich zwischen Mai und August 2016 stattfinden.

In nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen versuchen wir als Privatpersonen und Gemeinden beharrlich, eine bessere Gesellschaft zu schaffen. Wir bemühen uns verzweifelt, das Vakuum in der Regierungsführung zu füllen, mit dem uns der ANC allein gelassen hat. Seit dem Parteitag im Dezember 2012 haben einige der respektabelsten Spitzenpolitiker den ANC verlassen. In der Folge sind vor allem diejenigen, die sich besonders loyal gegenüber dem ANC-Vorsitzenden Jacob Zuma verhalten, in Machtpositionen gehievt worden - wobei deren Macht zum Selbstzweck geriet. In seiner Rede auf dem vierten NGC (National General Council), der Parteiratssitzung des ANC, die zwischen dem 9. und 12. Oktober 2015 in Johannesburg stattfand, erklärte Zuma, der ANC komme vor dem Land, womit die Partei offenbar den Bezug zum Rest des Landes verloren hat.


Sozial versagt

Diese Kluft hat sich unter Zumas Präsidentschaft noch vergrößert. Der Staat verkam zu einem Stellvertreter für die Macht des ANC und verlor allmählich seine Fähigkeiten, öffentliche Dienstleistungen und Güter bereitzustellen: von Trinkwasser über Strom bis zu Sicherheit in den Gemeinden. Diese mangelnden Kompetenzen rühren teilweise daher, dass der ANC alle Mitarbeiter des alten Regimes entlassen hatte, als er die Macht übernahm. Das führte zu einem Verlust an Qualifikation, denn diejenigen, die sie ersetzten, hatten weder Erfahrung noch Kenntnisse in Verwaltungsabläufen, aber sie waren loyal zum ANC. Deshalb sind die Lokalverwaltungen in etlichen Gemeinden schlicht nicht in der Lage; für die alltäglichen grundlegenden Dienstleistungen zu sorgen. Wegen dieses Versagens gibt es überall im Land in den Gemeinden nahezu täglich öffentliche Proteste.

Der Alltag der Menschen wird auch von der gnadenlosen Gewaltkriminalität geplagt. Täglich gibt es aus allen Landesteilen Berichte über brutalste Verbrechen. Dennoch war die Gewaltkriminalität kein zentrales Thema auf der Parteiratssitzung im Oktober. Die offiziellen Verlautbarungen beziehen sich auf Statistiken, die jedoch sehr unterschiedlich ausfallen, was Anstieg oder Reduzierung der Verbrechensrate betrifft. Manche staatlichen Informationen werden von Beobachtern angezweifelt, doch neue offizielle Antworten bleiben aus.

Gleichzeitig ist die Arbeitslosigkeit auf einem gefährlich hohen Niveau. Aktuelle Statistiken beziffern sie auf 26,4 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit liegt sogar über vierzig Prozent. Die Ungleichheit steigt kontinuierlich. Währenddessen erhalten Politiker und Verwaltungsleiter immer höhere Einkommen, in etlichen Fällen sogar mehr als in reichen Ländern.


Stromengpässe ignoriert

Staatliche Unternehmen wie die Post, der Stromversorger Eskom, die südafrikanische Fluggesellschaft, die staatlichen Medien und die Eisenbahn haben Probleme - alle befinden sich in unterschiedlichen Phasen des Niedergangs. So hatte South African Airways in den letzten sechs Jahren acht Vorstandsvorsitzende verschlissen, nahezu jeder ist nach Streitigkeiten zurückgetreten. Die Regierung hat zur Rettung der nationalen Fluggesellschaft seit 2009 mindestens eine Milliarde Euro (14,4 Mrd. Rand) ausgegeben. Noch in diesem Jahr werden weitere Gelder fällig, aber es ist noch unklar, wie viel das sein wird.

Währenddessen betreffen die Probleme mit dem Stromversorger tagtäglich das Leben von Millionen Südafrikanern. Für die regelmäßigen Stromabschaltungen, das sogenannte load-shedding, trägt die Regierung Verantwortung. Vor fünfzehn Jahren bereits warnte sie ein Bericht davor, unzureichende Wartungen und Investitionen sowie unzureichende Planungen würden einen Energiemangel zur Folge haben. Der Bericht wurde einfach ignoriert. Im Dezember 1998 hatte das Energieministerium erklärt, Eskoms Überschuss-Kapazitäten würden 2007 erreicht sein. Im White Paper zur Energiepolitik erklärte das Ministerium, die Berechnungen würden auf Eskoms Vorhersage zu einem Bedarfsanstieg von 4,2 Prozent liegen. Doch wie erwartet übertraf der Strombedarf die Elektrizitätserzeugung, was zum bad shedding - also zu geplanten Stromabschaltungen - zwang, um einen nationalen Stromausfall zu vermeiden. Heutzutage zeigt sich die Folge der unzureichenden Regierungsprogramme zu Erhalt, Management und Entwicklung der Infrastruktur in schlecht gewarteten oder gar abgeschalteten Stromwerken.


Studentenproteste gegen Staat und ANC

Während es mindestens seit 2009 etliche Anzeichen dafür gibt, dass der Status des Staates als Versorger mit öffentlichen Dienstleistungen schwindet, zeigten die Studentenproteste vom Oktober: Der ANC ist dabei, auch seine Kontrolle über die Gesellschaft zu verlieren, vor allem über die Jugend des Landes. Seit Anfang Oktober waren Studierende in verschiedenen Landesteilen spontan und ohne Anführer zusammengekommen, um für eine freie Universitätsausbildung zu protestieren.

Als die Proteste an Dynamik gewannen, machten sich die Studierenden auch die Forderungen der Arbeiter zu eigen, die an Universitäten beschäftigt sind. Denn mit der Liberalisierung der Universitäten ab 1994 wurden viele Dienstleistungen auf den Universitätsgeländen an private Unternehmer vergeben, die gewährten aber keine anständigen Löhne. Die Studentinnen und Studenten, die nun von den Arbeitern auf den Campus unterstützt wurden, weiteten ihre Forderungen aus und verlangten die Beschäftigung der Arbeiter durch die Universitätsverwaltungen und Bildung für deren Kinder.

Die Proteste überraschten den ANC, er spielte keine Rolle dabei; und seine Versuche, sie zu beschwichtigen oder zu kooptieren, lehnten die Studierenden ab. Es ist zu unterstreichen, dass die Studenten auch die Partei Economic Freedom Fighters ERF ablehnten. Es war ein spontaner Aufstand unabhängig von den Parteien und gegen die formale Politik. Die Studierenden erhielten nur etwas Unterstützung von der Gewerkschaft des Universitätspersonals, der National Education, Health and Allied Workers Union. Es sollte nicht verschwiegen werden, dass manche Protestierende Studenten davon abhielten, ihre Examen zu schreiben, und manche gewaltsam öffentliches Eigentum zerstörten. Solche Ausschreitungen und Proteste könnten im nächsten Jahr weitergehen, das ist nicht auszuschließen. Etlichen Studierenden reicht die Ankündigung von Präsident Zuma nicht, 2016 keine Gebührenerhöhung vorzunehmen. Sie wollen die Abschaffung aller Studiengebühren und eine freie Universitätsausbildung sowie das Streichen aller Studiendarlehen.

Zwar stand das Thema Studiengebühren nicht auf der Agenda des 4. Nationalen Parteirats des ANC, denn die Proteste begannen erst in den Tagen und Wochen nach der Versammlung. Dennoch war klar, dass die Proteste sich gerade gegen den ANC als Regierungspartei richteten, als die Studenten vors Parlamentsgebäude und den Regierungssitz zogen. Wofür sie nicht vorbereitet waren, war die Antwort des Staates, der von oben bis unten von ANC-Kadern dominiert wird: Gummigeschosse, Schlagstöcke und Blendgranaten.


ANC in Bedrängnis

Als Präsident Jacob. Zuma im Februar 2015 seine Rede zur Nation hielt, unterbrach die radikale Partei Economic Freedom Fighters (EFF) ihn. Seitdem sie nach den Wahlen ins Parlament einzog, hat sie mit radikalen Positionen im "marxistischen" Jargon und zugleich rechtspopulistischen Parolen nahezu jede Sitzung, an der Präsident Zuma teilnimmt, gestört. Sie war 2013 von den früheren ANC-Unruhestiftern Julius Malema und Floyd Shivambu gegründet worden und erreichte 2014 trotz ihrer nebulösen Politik 6,35 Prozent der Wählerstimmen.

Zumas Umfragewerte sinken: 62 Prozent der Südafrikaner sind mit der Politik von Präsident Jacob Zuma unzufrieden. Die Zufriedenheit mit Zuma hat sich gegenüber 2011 (65%) nahezu halbiert (36% 2015). So schlechte Werte hatte noch kein Präsident Südafrikas.
(Quelle: Afrobarometer, 24.11.2015)

Innerhalb der Regierungsallianz steigen die Spannungen zwischen der ANC-Jugendliga, der Südafrikanischen Kommunistischen Partei SACP und jungen Kommunisten, die sich alle für die Lokalwahlen im nächsten Jahr in Startposition bringen. Und der ANC gerät wegen interner Fraktionskämpfe in Bedrängnis, was bereits zu beträchtlichem Mitgliederschwund und dem Austritt respektierter Führungspersonen geführt hat, darunter Reverend Frank Chikane, der unter Thabo Mbeki das Präsidentenbüro leitete, und Kgalema Motlanthe, Interimspräsident nach Mbekis Rücktritt und Zumas früherer Stellvertreter. Beide haben sich über Korruption, Nepotismus und Patronage ausgelassen und sind auf eine gereizte Antwort Zumas gestoßen.

Angesichts der internen Strukturprobleme im ANC und der Abkehr vieler Menschen von der Bewegung steigen die Sorgen um die Zukunft des Landes. Viele politische Beobachter aus dem gesamten politischen und ideologischen Spektrum schreiben aus gutem Grund und mit entsprechenden Belegen, der ANC würde das Volk verlieren und das Land fehlleiten. Die meisten Spitzenpolitiker sind isoliert und haben ihre Legitimität verloren. Die düstersten Pessimisten meinen, es sei nur eine Frage der Zeit, bis es zu einem Kollaps komme. Man kann nur hoffen, dass sie nicht recht behalten."


Der Autor ist promovierter politischer Wirtschaftswissenschaftler.
http://www.ilagardien.com/

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Quelle:
afrika süd - zeitschrift zum südlichen afrika
44. Jahrgang, Nr. 6, November/Dezember 2015, S. 8-9
Herausgeber: informationsstelle südliches afrika e.V. (issa)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. März 2016

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