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AFRIKA/817: Vom Widersinn der Entwicklungskonzepte in Afrika (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2010

EIN KICK FÜR AFRIKA?
Hebt denn die Flut nicht alle Boote?
Vom Widersinn der Entwicklungskonzepte in Afrika

Von Klaus-Peter Treydte


Lange Zeit stand die Entwicklungshilfe im Fokus, um den afrikanischen Kontinent voranzubringen. Eine kritische Analyse zeigt aber, dass die Hebel ganz woanders angesetzt werden müssten. Auch die wirtschafts- oder handelspolitischen Rezepte der 60er Jahre stehen hierbei zur Disposition.


Der afrikanische Kontinent ist höchst heterogen: politisch, wirtschaftlich, sozial und kulturell. So behauptet die African Union, wie die regionale Dachorganisation in Addis Abeba heißt, in ihrem Namen auch etwas, was nie war und was es zurzeit auch nicht gibt: Einheit. Kamerun etwa mit seinen 286 Volks- und Sprachgruppen kann diesbezüglich durchaus als Spiegel Afrikas bezeichnet werden. Hier müssen moderner Staat und traditionelle Stammesautoritäten miteinander auskommen. Dies ist die eine Seite der afrikanischen Realität, die die weit verbreiteten Vorurteile dem schwarzen Kontinent gegenüber verstärkt - mysteriös, abenteuerlich, politisch instabil.

Eine andere Seite Afrikas gibt es aber auch: Rohstoffreichtum, Investitionen, Handel, kulturelle Innovationen und die Begeisterung der Menschen (aktuell für König Fußball). Doch so mancher Reichtum vieler Länder Afrikas ist ein verdeckter Fluch. So brachte schon Kankan Moussa, der Herrscher des mittelalterlichen Ghana-Reiches, dem heutigen Mali, der im 14. Jahrhundert mit seiner Karawane zur Hadj nach Mekka zog, so viel Gold mit, dass im Vorbeigehen das Währungswesen in Kairo zusammenbrach. Nichts anderes stellen wir bisweilen heute in rohstoffreichen Ländern West- und Zentralafrikas fest, wo Reichtum aus extraktiven Industrien binnen kürzester Zeit die lokalen Wirtschaftsstrukturen und Landwirtschaften, ja auch die gesellschaftliche Kohäsion, nicht im fremden, sondern im eigenen Land zerstört. Die moderne Wirtschaftspolitik nennt dieses Phänomen Dutch Disease: Wenn praktisch über Nacht ein extraktiver Sektor so viel Geld ins Land spült, dass das gewachsene Verhältnis zwischen Faktorproduktivität der Arbeit und gesellschaftlich ausgehandelter Lohnhöhe nicht mehr in Einklang gebracht werden kann und ganze Wirtschaftszweige wegbrechen. Das sollte man im Hinterkopf haben, wenn gesellschaftliche Konflikte auftreten. Häufig wird dann von einer Unvereinbarkeit von bestimmten Ethnien als Erklärungsmodell ausgegangen. Vielmehr muss man in diesen Fällen einfach mit den Erkenntnissen der modernen Wirtschafts- und Verteilungspolitik arbeiten.

Statistisch gesehen sind z.B. alle afrikanischen Länder, die mehr als zwei Tonnen Rohöl pro Kopf der Bevölkerung im Jahr exportieren, durch einen Fluch dieses "Teufelsdrecks", wie die Wochenzeitschrift Jeune Afrique schrieb, gekennzeichnet. Denn unterhalb dieses Schwellenwerts ermöglichen Ölexporte als "Schmiermittel" das Wachstum der Wirtschaft. Wenn mehr exportiert wird, wird das wirtschaftliche und soziale Gleichgewicht beeinträchtigt. Im afrikanischen Durchschnitt ist das Wachstum von Erdölexportländern auf längere Sicht gesehen schwächer als das der übrigen. So sind z.B. die sozialen Indikatoren im reichen Ölexportland Libyen nicht besser als in Tunesien. Zur medizinischen Behandlung fahren die Libyer ins ärmere Nachbarland. Der Hauptanteil an den Erdölerlösen landet nämlich nicht in produktiven Verwendungen oder in sozialen Investitionen für die Bevölkerung, sondern in einem kapriziösen Staatskonsum: Militärausgaben, Korruption und sonstige administrative Verschwendung. Erdöleinnahmen sind Regierungseinnahmen, die keiner Ausgabenkontrolle unterliegen und sich der Steuerung durch Gewaltenteilung, Zivilgesellschaft oder Medien entziehen.

Die 17 frankophonen Staaten feiern in diesem Jahr 50 Jahre Unabhängigkeit. Abseits der offiziellen Feierlichkeiten fragen sich die Bürger allerdings, was ihnen dieses halbe Jahrhundert gebracht hat. In vielen Ländern Afrikas missglückte in der ersten Phase bis 1980 zunächst die Industrialisierung, ganz gleich ob nach sowjetischem Planmodell oder in spätkolonialer Form durch multinationale Unternehmen. Es folgte eine missglückte Privatisierung in den 80er Jahren unter dem Einfluss der Strukturanpassungsprogramme von Weltbank und IWF, aber auch der großen bilateralen Kredit- und Entwicklungshilfegeber. Heute dominieren wieder die französischen Großbanken im frankophonen, nicht ganz so ausgeprägt die britischen im anglophonen Afrika. Französische Mischkonzerne managen Häfen, Eisenbahnen oder andere moderne Dienstleistungssektoren. Die Kritiker beklagen entsprechend eine unvollkommene politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Emanzipation Afrikas.

Für viele Kommentatoren liegt die Hauptursache der Malaise in der Unterzeichnung der Kongo-Akte in Berlin im Jahr 1885. Sie besiegelte die Aufteilung Afrikas unter den Kolonialmächten. Die politische Elite Afrikas nennt zudem die Sklaverei als Ursache des Versagens und die afrikanische Kleinstaaterei seit der Unabhängigkeit, die bereits in Berlin festgeschrieben wurde. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Denn wenn während der Kolonialzeit die Bewegung von Arbeit und Kapital relativ frei war, so haben die Grenzziehungen von 1885 erst 1960 ihre wirkliche wirtschaftliche, politische und entwicklungshemmende Wirkung entfaltet. Beispielsweise weigerte sich Félix Houphouet-Boigny, der spätere Präsident der Elfenbeinküste, für die armen "Hinterländer" Mali und Obervolta aufkommen zu wollen und torpedierte so die Entstehung einer Union Soudanaise in Westafrika. Eine anschließende Staatenunion zwischen dem Senegal und Mali hielt nur zwei Monate und zerfiel an den Unvereinbarkeiten der politischen Vorstellungen von Modibo Keita und Léopold Sédar Senghor. Auch der richtungsweisende Ansatz der ostafrikanischen Gemeinschaft (EAC), bestehend aus Kenia, Tanganyika und Uganda, zerfiel an den politischen Unvereinbarkeiten der Führungspersönlichkeiten Jomo Kenyatta, Julius Nyerere und Milton Obote (später dann Idi Amin). Im Ergebnis definierte sich die neue postkoloniale Elite Afrikas gesellschaftspolitisch als Herrscher über Grenzen und Kleinstaaten, was gleichzeitig dem Herrschaftsmuster der alten Kolonialmächte entgegenkam. So blieben die Rufer nach panafrikanischer Einheit, wie der ghanaische Präsident Kwame Nkrumah, isoliert und wurden selbst Opfer ihrer eigenen Staatselite. Heute fordert der senegalesische Präsident Abdoulaye Wade eine neue afrikanische Renaissance und weiht sein Monument in Dakar ein. Doch die Bevölkerung folgt ihm nicht mehr. Nach der NEPAD-Initiative (New Partnership for Africa's Development) im Jahre 2001, die von einigen afrikanischen Präsidenten in blumigsten Worten gepriesen wurde, ist der durchschnittliche afrikanische Bürger skeptisch. Andere Länder entwerfen Zukunftsszenarien als emerging markets. Kamerun stellt ein "Szenario 2035" vor. Das benachbarte Gabun als Erdölstaat plant sich als Wirtschaftsmacht für 2025. Es gibt auf dem afrikanischen Kontinent nur ganz wenige Erfolgsgeschichten, in denen die letzten 40 oder 50 Jahre entwicklungsorientiert gut genutzt wurden: Botswana, Mauritius, Kap Verden, in jüngster Zeit in Ansätzen Ghana. Keines der genannten kann aber für andere Länder Modellcharakter haben.


Schlechte Regierungsführung

Der "Mo Ibrahim Index zur afrikanischen Regierungsführung" - der Versuch einer originär afrikanischen Suche nach politischen Qualitätsstandards - hat die Gründe festgemacht: Demokratiemangel, schlechte Regierungsführung, unzureichende Leistungen von Regierung und Verwaltung für die Bürger, mangelnder Respekt der Regierungen vor den politischen und wirtschaftlichen Grundrechten, Verschwendung, mangelnde Ressourcennutzung.

Hier liegt der Schlüssel zu einem modernen Verständnis der politischen und wirtschaftlichen Realität Afrikas. Alle aktuellen gesellschaftlichen Themen müssen durch das Raster der guten (oder schlechten) Regierungsführung gesehen werden: Ob es um die verstärkte Teilhabe der Frauen am politischen und am Entwicklungsprozess geht, um die Umsetzung der Millennium-Entwicklungsziele mit dem Zieldatum 2015, um die Armutsbekämpfungsprogramme - die seit rund 15 Jahren in den Regierungsprogrammen beschworen werden (trotz Armutsbekämpfungsprogrammen hat die Armut zugenommen: in Kamerun zwischen 2001 und 2006 um eine Million Menschen) - oder um die Bekämpfung der Korruption, die nicht vorankommt, sondern zu einem Hebelwerk im innenpolitischen Kampf um den Machterhalt degeneriert ist.

Eleganten Villen und einem florierenden Kapitalexport stehen die rund 50% der Bevölkerung gegenüber, die unter der Armutsgrenze von 1,15 Dollar pro Tag leben. Trotz Massenarmut stellen wir aber zugleich auch Massenkonsum fest. Hunderttausende von Lastwagen bringen Investitions- und Konsumgüter über staubige Pisten oder Autobahnen zu den Wachstumsmetropolen. Der informelle Sektor blüht. Millionen von jugendlichen Motorradtaxifahrern auf ihren chinesischen Kleinkrafträdern stellen die Mobilität in Dörfern und Städten sicher. Gleichzeitig wachsen die Müllberge, da die kommunale Müllentsorgung nicht mit öffentlicher Finanzierung ausgestattet wird. Letztlich handelt es sich also hier um die ganz "gewöhnliche" wirtschaftsordnungs-, verteilungspolitische oder wohlfahrtsökonomische Problematik, wie sie auch in Europa ansteht.


Abschied von lieb gewonnenen Rezepten

Für die Industriestaaten bedeutet das: Lieb gewordene wirtschafts- oder handelspolitische Rezepte der 60er Jahre müssen einer kritischen Analyse unterzogen werden. Die internationale Arbeitsteilung nach dem neo-klassischen Modell einschließlich der "aufholenden" Industrialisierung (Brasilien, Indien, China, Korea, Südafrika, Singapur) ist nicht beliebig replizierbar. Der mühsame Versuch, regionale Wirtschaftspartnerschaften im Gefolge des Cotonou-Abkommens zwischen der Europäischen Union und den AKP-Staaten (Staatengruppe aus Afrika, Karibik und Pazifik) zu vereinbaren, die durch Freihandel zwischen der EU und den regionalen Partnerstrukturen in West-, Zentral- und Süd-Ost-Afrika die Industrie und den Handel massiv voranbringen sollen, ist möglicherweise zum Scheitern verurteilt. Nach zehn Jahren Verhandlungen gibt es lediglich neun "Interim"-Übereinkommen mit einzelnen Staaten. Sie wahren Zugangsrechte zum europäischen Markt, aber ob die Abkommen eine regionale, integrative oder industriepolitische Wachstumsperspektive ermöglichen, bleibt offen. Dafür bringt sich die EU umso mehr in der Hilfedimension oder im Politikdialog ein, ohne allerdings wirklich zu überzeugen und die Menschen zu gewinnen. Solange eine europäische Kuh mit 2,50 Dollar pro Tag aus dem Haushalt der Europäischen Kommission subventioniert wird - mehr als das, mit dem eine Familie in Afrika auskommen muss -, kann nicht von einer liberalen Option einer agrar-, industrie- oder handelspolitischen Wachstumsorientierung gesprochen werden. Ließ sich 1975 beim Abschluss des Lomé-Abkommens noch argumentieren, dass die von der EU eingeräumten Preis- und Mengenstabilisierungsmechanismen für landwirtschaftliche und Minenprodukte (Stabex und Sysmin) Zeit für einen Umbau der afrikanischen Volkswirtschaften gewinnen sollten, so kann diese Hypothese heute als gescheitert angesehen werden.

Mehr Entwicklungshilfe führt zudem u.a. zu mehr korrupten Eliten, zu einer größeren Spaltung der Gesellschaft und zerstört die innerstaatliche Wertschöpfung. Dies ist seit Längerem bekannt. Was Afrika benötigt, ist zuallererst eine Finanzhilfe-Sucht-Aussteigetherapie. Das ist aber immer noch gegen den mainstream, denn Politik und Verwaltung, Pop- & Rock-Kultur sowie die Hilfe-Agenturen haben sich in einer strukturellen "Afrika-Hilfe-Industrie" eingerichtet.

"Die Flut hebt alle Boote", so lautet eine alte Weisheit aus dem Hafen von Mopti im Binnendelta des Nigers in Mali, wenn der Pegel mit Einsetzen der Regenzeit um 5 Meter steigt. Das setzt voraus, dass die Boote keine Löcher haben, nicht einseitig belastet sind und ihre Steuermänner wissen, wo es lang geht. Es geht also darum, die Boote in den Stand der Arbeits-, Transport- und Manövrierfähigkeit zu versetzen, wenn die Weltwirtschaft wieder wächst. Wenn sich die Eliten Afrikas auf ihre eigenen Kräfte und Ressourcen besinnen, die interne Organisationsfähigkeit und vor allem die Regierungsführung verbessern würden, gäbe es für Afrika-Pessimismus keinen Anlass.


Klaus-Peter Treydte (* 1939) Auslandsmitarbeiter der FES in Afrika, Lateinamerika und Indien. Zuletzt 2009/10 in Kamerun.
kp3@gmx.net


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2010, S. 22-25
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Juni 2010