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ASIEN/681: Indien - Englisch ist die neue Gottheit, Dalit suchen Anschluss an den Westen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 8. November 2010

Indien: Englisch ist die neue Gottheit - Dalit suchen Anschluss an den Westen

Von Ranjit Devraj

Die englische Sprache wird wie eine Gottheit verehrt - Bild: © Chandra Ban/IPS

Die englische Sprache wird wie eine Gottheit verehrt
Bild: © Chandra Ban/IPS

Neu-Delhi, 8. November (IPS) - Die Dalit, die als 'Unberührbare' bis heute am Rand der indischen Gesellschaft leben, haben die englische Sprache zur neuen Gottheit erhoben. Im nördlichen Bundesstaat Uttar Pradesh, dem Zentrum des orthodoxen Hinduismus, bauen sie sogar einen Tempel für die 'Goddess of English', die für sie das westliche Technologiezeitalter symbolisiert.

Die neue Göttin ähnelt der Freiheitsstatue in New York. In der rechten Hand hält sie allerdings keine brennende Fackel, sondern einen Stift, und im linken Arm ein Buch. Hinduistische Gottheiten werden üblicherweise auch auf einem Lotusblatt dargestellt. Die 'Goddess of English' steht hingegen auf einer Computerkonsole und verkörpert damit auch den Bruch mit indischen Traditionen, nach denen die Dalit in Indien gesellschaftlich diskriminiert und zu niederer Arbeit gezwungen werden.

Wie der hohe Priester des Tempels im Bezirk Lakhimpur Kheri, Chandra Bhan Prasad, im Gespräch mit IPS erklärte, hatten die Brahmanen, die Angehörigen der obersten Kaste, in Uttar Pradesh den Fehler begangen, die englische Sprache abzulehnen. "Die nationalistische Politik, die sich auf die Hindi-Sprache stützte, führte dazu, dass die Brahmanen zu einer rückständigen Kaste wurden", erklärte Prasad. Die Dalit wollten diesen Fehler unbedingt vermeiden. In Zeiten, in denen Indien Anschluss an die globalisierte Welt suche, könnten nur diejenigen, die Englisch lernten, vermeiden, abgehängt zu werden.


Obligatorischer Englischunterricht führt weiter

Indische Staaten, in denen der Englischunterrricht an Schulen nicht verpflichtend ist, sind deutlich ins Hintertreffen geraten. In anderen Unionsstaaten ist Englisch an weiterführenden Schulen fester Teil des Lehrplans. "Deshalb ist Bangalore, die Hauptstadt des südindischen Bundesstaates Karnataka, ein internationaler Knotenpunkt für Informationstechnologie geworden", meinte Prasad.

Der Geistliche verwies auf den Briten Thomas Babington Macaulay, der 1854 während der britischen Kolonialzeit die Vermittlung von Englisch in das indische Bildungssystem eingeführt hatte. Seine Idee war eine "neue Klasse von Menschen, indisch in Blut und Hautfarbe, doch britisch in Geschmack, Meinung, Moral und Intellekt".

Macaulay wurde wegen seiner Überzeugungen von hinduistischen Nationalisten angegriffen. "Kein Hindu, der eine englische Ausbildung erhalten hat, bleibt seiner Religion noch ehrlich verbunden", erklärte er. "Wenn unsere Bildungspläne umgesetzt werden, wird es in 30 Jahren in den angesehenen Klassen keinen einzigen Götzenanbeter mehr geben."

Vor den Dalit lag jedoch noch ein schwieriger Weg. "Als die Briten englische Mittelschulen eröffneten, verhinderten Angehörige der obersten Kasten die Aufnahme von 'Unberührbaren'", sagte Prasad. Die Kolonialregierung erließ daraufhin Anordnungen, wonach niemand aufgrund seiner sozialen Stellung, seiner Überzeugungen, seines Geschlechts und seiner Religion vom Unterricht ausgeschlossen werden konnte."

Prasad sieht Macaulay als "Sozialrevolutionär", der durch die Einführung des indischen Strafrechts allen Menschen gleiche Voraussetzungen vor dem Gesetz zusicherte. Nach Ansicht von Prasad haben die von Macaulay eingeführten Neuerungen die Befreiung der Dalit zur Folge gehabt. Das traditionelle Bildungssystem, das auf der für untere Klassen unzugänglichen Sanskrit-Sprache basierte, wurde grundlegend verändert. Nationalisten wiederum beschimpfen Landsleute, die nicht stolz auf indische Traditionen sind, als "Macaulays Kinder".

Einer der größten Nacheiferer von Macaulay war der 1891 geborene Bhimrao Ramji Ambedkar, die trotz seiner Herkunft aus der Kaste der Dalit einen Abschluss an der Columbia University in New York und der London School of Economics' erwarb.


"Englisch ist die Milch der Löwin"

Ambedkar, der die indische Verfassung von 1949 entwarf, ermahnte als einer der Ersten die Dalit dazu, Englisch zu lernen und die Sprache als Mittel auf dem Weg zur Gleichberechtigung zu nutzen. "Englisch ist die Milch der Löwin", sagte er.

Die Verfassung von 1949 garantiert Religionsfreiheit und ächtet alle Formen der Diskriminierung. Stattdessen wurde ein System 'positiver Diskriminierung' eingeführt, dass den Fähigsten zu Posten in der Regierung und in Bildungsinstitutionen für Dalit verhalf.

Dennoch würden die Dalit, die etwa 16 Prozent der insgesamt 1,2 Milliarden Inder ausmachten, immer noch gesellschaftlich ausgegrenzt, kritisierte Prasad. "In vielen Teilen des Landes dürfen sie keine Hindu-Tempel betreten. Deshalb bauen wir jetzt unsere eigenen Tempel für die 'Göttin Englisch'."

Prasad habe mit seinem Vorstoß ein großes Verständnis der Geschichte Indiens bewiesen, sagte der Kultursoziologe Yogendra Singh, der vor seiner Emeritierung an der Jawaharlal Nehru University in Neu-Delhi lehrte. "Er versteht auf bemerkenswerte Weise das indische Ethos, das unendliche Möglichkeiten hat, die Gegenwart in der Vergangenheit anzusiedeln", erklärte der Autor des Buches 'Modernization of Indian Tradition'.

Auch die Regierungschefin von Uttar Pradesh, Mayawati, hat gezeigt, dass sie traditionelle Grenzen zu überschreiten weiß. Trotz heftiger Kritik ließ sie Statuen von sich aufstellen, die Handtaschen tragen. Viele Inder sehen darin ein Symbol für eine neue Machtstellung der Frau in der Gesellschaft. (Ende/IPS/ck/2010)


Links:
http://www.chandrabhanprasad.com/
http://www.sociologyguide.com/indian-society/modernization-of-indian-tradition.php
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=53476


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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 8. November 2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. November 2010