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ASIEN/781: Afghanistan - Todesurteile wieder vollstreckt, Präsident beugt sich inländischem Druck (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 20. Dezember 2011

Afghanistan: Todesurteile wieder vollstreckt - Präsident beugt sich inländischem Druck

von Rebecca Murray

Das Gefängnis Pul-e-Charki in Kabul - Bild: © Rebecca Murray/IPS

Das Gefängnis Pul-e-Charki in Kabul
Bild: © Rebecca Murray/IPS

Kabul, 20. Dezember (IPS) - In Afghanistan waren Hinrichtungen unter den Taliban verbreitet. Doch zeichnet sich seit einigen Jahren auch unter der zivilen Regierung von Staatspräsident Hamid Karsai eine Rückkehr der Todesstrafe ab.

Im Juni hatte der Staatschef die Exekution von zwei Männern angeordnet, die an einem Anschlag auf eine Bank in der Stadt Jalalabad im vergangenen Februar beteiligt waren. Der Überfall kostete 40 Menschen das Leben, mehr als 70 wurden verletzt. Bei den meisten Opfern handelte es sich um Mitarbeiter afghanischer Sicherheitsdienste, die in dem Geldinstitut ihre Gehaltsschecks einlösen wollten.

Nachdem sich gegen bei beiden überlebenden Attentäter, Zar Ajam aus Pakistan und den Afghanen Mateullah, eine Welle öffentlicher Empörung entlud, billigte Karsai ihren Tod durch den Strang im berüchtigten Pul-e-Charki-Gefängnis. Das Urteil wurde im Juni vollstreckt.

"Karsai stand unter enormem öffentlichen Druck", meint dazu Horia Mosadiq von der Menschenrechtsorganisation 'Amnesty International' in Afghanistan. "Es gab viele Personen, die über die Medien Druck auf die Regierung aufbauten, die Täter hinzurichten."

Amnesty zufolge haben 139 Staaten die Todesstrafe per Gesetz oder de facto abgeschafft. Afghanistan gehört nicht dazu. Schätzungen zufolge befinden sich in dem Land mehr als 100 Menschen in der Todeszelle.


Geständnisse durch Folter erpresst

"Unsere größte Sorge ist, dass die afghanische Justiz nicht in der Lage ist, für gerechte Verfahren zu sorgen", meint Mosadiq. "Es gibt keine Unschuldsvermutung. Außerdem werden keine Zeugen gehört und die Beweismittel nicht geprüft. Die Polizei handelt zudem unprofessionell und erpresst Geständnisse in der Regel durch Folter. Korruption beeinflusst die Urteile ebenso wie politischer Druck und Kontakte."

2007 hatten 15 staatlich angeordnete Exekutionen stattgefunden. Politischen Beobachtern zufolge beugte sich Karsai insbesondere vor seiner Wiederwahl dem politischen Druck im Inland. 2008 stellte er sich gegen eine UN-Resolution für ein Moratorium der Todesstrafe.

Obwohl afghanische Gerichte weiterhin Todesurteile fällen, hat Amnesty International in den vergangenen zwei Jahren keine Exekutionen feststellen können. Es seien vor allem unter der Herrschaft der Taliban Todesurteile vollstreckt worden, betont die Organisation. "Die Tatsache, dass die Karsai-Regierung die Zahl der Hinrichtungen reduziert, wird von den Gegnern der Todesstrafe als ermutigendes Zeichen gesehen."

Shabeer Ahmad Kamawal leitet die Internationale Rechtsstiftung Afghanistans (ILF-A), die Strafgefangenen kostenlos Verteidiger stellt. Wie er kritisiert, können Menschen, die eines Schwerverbrechens bezichtigt werden, nicht auf ein faires Verfahren hoffen.

Als Beispiel führt er den Fall seines Mandanten Mohammed an, dem der Mord an seinem Bruder Hakim angelastet wird. Nach Erkenntnissen von Kamawal wurde Hakim von Mohammeds fünf Söhnen und einem eigenen Sohn auf der Straße getötet. Da die Täter geflohen seien, habe man stattdessen Mohammed und einen anderen Sohn festgenommen und unter Mordanklage gestellt.

"Die Hauptschuldigen wurden nicht gefunden. Dafür sitzen nun unschuldige Menschen im Todestrakt", berichtet Kamawal. Offiziell gebe es in Afghanistan zwar keine Kampagne gegen die Todesstrafe, erklärt er. Mit den Richtern könne man aber darüber verhandeln, die Strafe in lebenslange Haft umzuwandeln.

Während die Regierung in Kabul daran arbeitet, eine national gültige Rechtsordnung einzuführen, wird vor allem in ländlichen Regionen nach wie vor die traditionelle Justiz praktiziert. In einem spektakulären Fall wurden im vergangenen Monat eine Witwe und ihre Tochter in der östlichen Stadt Ghazni wegen 'moralischer Verfehlungen' öffentlich gesteinigt und von bewaffneten Männern erschossen, die den Taliban zugerechnet werden.


Mörder von Präsidentenbruder auf der Stelle erschossen

Im Juli war der Präsidentenbruder und Makler Ahmed Wali Karsai von dem Bodyguard Sardar Mohammed nahe seinem Büro in Kandahar erschossen worden. Kurz darauf wurde der Täter von anderen Leibwächtern gestellt und erschossen.

"Es war schockierend", sagt Horia Mosadiq. "Ich war angeekelt, als Karsai sagte, die Taliban hätten seinen Bruder umgebracht, doch er habe dem Mörder verziehen. Wo bleibt die Vergebung, wenn der Mörder auf der Stelle getötet, seine Leiche an ein Polizeiauto gebunden und dann in einem Bazar aufgehängt wird?"

Mosadiq fühlt sich durch solche Szenen an den Mord an dem damaligen afghanischen Präsidenten Najibullah 1996 erinnert. Taliban holten ihn aus einem Gästehaus der UN, in dem er Schutz gefunden hatte, zerrten ihn durch die Straßen und hängten ihn öffentlich auf.

Wie Mohammed Farid Hamidi von der unabhängigen Afghanischen Menschenrechtskommission (AIHRC) erläutert, gibt es viele Menschen, die die Todesstrafe als Teil ihrer Religion, Kultur und Verfassung begrüßen. Da angesichts der verbreiteten Korruption faire Verfahren nicht garantiert werden können, will die AIHRC auf ein Hinrichtungsmoratorium drängen, das zumindest solange gültig sein soll, bis die Justiz und Regierungsinstitutionen gestärkt sind. (Ende/IPS/ck/2011)


Links:
http://www.amnesty.org/en/region/afghanistan
http://theilf.org/
http://www.aihrc.org.af/
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=106246

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 20. Dezember 2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Dezember 2011