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ASIEN/911: Welcher chinesische Traum? - Vom Konstitutionalismus und seinen gefährlichen Alternativen (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 144/Juni 2014
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Welcher chinesische Traum?
Vom Konstitutionalismus und seinen gefährlichen Alternativen

Von Mattias Kumm



Kurz gefasst: Die Kommunistische Partei Chinas hat drei Optionen, um ihre Machtbasis zu sichern: Sie kann sich zum marxistischen Maoismus rückorientieren, sich einem autoritären Nationalismus zuwenden oder den Weg des Konstitutionalismus gehen. Die Verlockung durch den zweiten Weg wird etwa an Präsident Xis vieldiskutierter Rede über den "chinesischen Traum" deutlich. Um die Fehlentwicklungen des frühen 20. Jahrhunderts zu vermeiden, sollte sich die Partei aber am Leitbild einer konstitutionellen Demokratie orientierten.


25 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges und den blutig niedergeschlagenen Demonstrationen auf dem Platz des Himmlischen Friedens steht China an einem Scheideweg. Trotz der offiziellen Kontinuitätsideologie der Kommunistischen Partei stützt sich die Legitimität ihrer Herrschaft heute überwiegend auf ihre Fähigkeit, wirtschaftliches Wachstum und wachsenden Wohlstand für chinesische Bürger erfolgreich und ohne massive Verwerfungen zu organisieren.

Die Legitimation für die Herrschaft der chinesischen Kommunistischen Partei hat heute nichts mehr mit der im Marxismus-Leninismus wurzelnden revolutionär-klassenkämpferischen historischen Rolle zu tun, die ihr Mao Tse-tung noch zuschrieb. Galt für Mao, dass ein sozialistisch verspäteter Zug immer besser sei als ein pünktlicher kapitalistischer, ist von seinem Nachfolger Deng Xiaoping der Spruch überliefert, ihn interessiere es nicht, ob die Katze weiß oder schwarz sei, solange sie nur Mäuse fängt (das Mäusefangen bezog sich auf die wirtschaftliche Entwicklung). Dieses post-klassenkämpferische Verständnis der Partei wurde von Präsident Jiang Zemin später in der Doktrin des "dreifachen Vertretens" weiterentwickelt und in der Parteiverfassung niedergelegt. Demnach vertritt die Partei nicht mehr nur die Arbeiterklasse, sondern "die Erfordernisse der Entwicklung fortschrittlicher Produktivkräfte Chinas" (konkret: Privatunternehmen sind in Ordnung, auch Unternehmer können Parteimitglieder sein), die "Richtung des Vorwärtsschreitens fortschrittlicher Kultur Chinas" und "die grundlegenden Interessen der überwältigenden Mehrheit des chinesischen Volkes" (die Wandlung von einer Arbeiterpartei zur Volkspartei). Was aber, wenn in Zeiten einer Wirtschaftskrise eine auf wirtschaftlichem Erfolg basierende Legitimation nicht mehr überzeugt? Was, wenn sich der Eindruck breitmacht, dass das Personal und die Politik der Kommunistischen Partei nicht mehr die Interessen der überwältigenden Mehrheit des chinesischen Volkes vertritt?

In einer solchen Situation muss sichergestellt sein, dass Herrschaftslegitimation und soziale Integration nicht nur auf wirtschaftlichem Erfolg beruhen. Dazu gibt es drei Möglichkeiten.

Erstens könnte es zu einer Renaissance maoistischer Tendenzen kommen, die im Interesse ideologischer Reinheit auch vorübergehende wirtschaftliche Verwerfungen zu rechtfertigen in der Lage wären. Uneinsichtige sind als Konterrevolutionäre dann eben Klassenfeinde. Ein solcher Richtungswechsel ist unter Präsident Xi nicht zu erwarten. Das zeigt sich unter anderem darin, dass er seinen mächtigen Parteikonkurrenten Bo Xilai, der der maoistischen Fraktion zugerechnet wird, entmachtet und einen Korruptionsprozess gegen ihn angestrengt hat. Die wirtschaftlichen Kosten einer Rückwendung zum Maoismus wären zu hoch und würden auf erheblichen Widerstand stoßen, in einem Land, das der größte Absatzmarkt für BMW, Jaguar und viele andere Luxusprodukte ist.

Der zweite Weg wäre der national-autoritäre. Die Parteiführung könnte den internen Druck durch altbewährte Rezepte autoritärer Regierungen zu entschärfen versuchen: Sie kann innenpolitische Repressalien verschärfen, externe Krisen herbeiführen und Feindbilder kreieren, sie kann das Volk durch Einpeitschen eines nationalistischen Enthusiasmus bei der Stange halten. Regierungsgegner sind danach auch Gegner des Volkes und wahrscheinlich die fünfte Kolonne ausländischer (westlicher) Mächte. Anzeichen für eine solche Entwicklung sind erkennbar: die verschärfte Kontrolle des Internet und der Druck auf Regimekritiker, während sich China gleichzeitig gegenüber seinen Nachbarn in Szene setzt, insbesondere im Streit mit Vietnam im Südchinesischen Meer und mit Japan um die Diaoyu- bzw. Senkaku-Inseln im Ostchinesischen Meer. Von den Nachbarn wird diese Politik als aggressiv empfunden. In diesem Zusammenhang ist der von Präsident Xi in die Diskussion gebrachte "chinesische Traum" zu sehen. Xi beschrieb den Traum in einer Rede anlässlich der Eröffnung einer Ausstellung im Nationalmuseum am Platz des Himmlischen Friedens unter dem Titel "Der Weg zur Wiedererweckung". Hier entwickelte der Präsident eine Vision von nationaler Verjüngung, Verbesserung des Lebensstandards und militärischer Stärke.

Eine solche nationalistisch-autoritäre Wende ist außerordentlich gefährlich, weil es schwierig ist, nationalistische Stimmungen und externe Krisen politisch einzuhegen und unter Kontrolle zu halten. Im Zusammenhang mit regionalen historischen Ressentiments und den Garantieerklärungen der USA, die mit eigenen internen Schwierigkeiten und Instabilitäten kämpfen, kann das zu heiklen Szenarien führen. Henry Kissinger entdeckt in einer jüngeren Analyse wesentliche strukturelle Parallelen zur Situation vor dem Ersten Weltkrieg. Dabei spielen die USA heute die Rolle Englands, das damals beherrschende Seemacht war - im Verhältnis zum aufstrebenden und einen Platz an der Sonne fordernden China, das in der Parallele die Rolle des wilhelminischen Deutschlands einnimmt. Auch damals erschien ein Krieg zwischen den Großmächten trotz Aufrüstung, Kanonenbootpolitik im kolonialen Wettbewerb, Macho-Gehabe und verbreiteter nationalistischer Rhetorik eher unwahrscheinlich. Die wirtschaftlich-kulturellen Verflechtungen sprachen ebenso dagegen wie ökonomische Interessen. Im Krimkrieg und im US-Bürgerkrieg Mitte des 19. Jahrhunderts war die Zerstörungskraft industrialisierter Kriegsführung überdies schon eindringlich ins Bewusstsein gerückt. Aber das reichte alles nicht. Auch heute wäre es leichtfertig, allein auf die abschreckende Wirkung von Atomwaffen und auf die Bindekraft wirtschaftlicher Verflechtungen zu vertrauen.

Eine dritte Lösung für China wäre es, mit dem Konstitutionalismus Ernst zu machen. Dazu würde einerseits gehören, den Primat des Rechts auch gegenüber der Kommunistischen Partei und ihren Handlungsträgern in vollem Umfang zu gewährleisten. Ebenfalls notwendig wäre die Möglichkeit, alle Handlungen öffentlicher Gewalt von überparteilicher und unabhängiger Seite auf Menschenrechtskonformität überprüfen zu lassen und gegebenenfalls als menschenrechtswidrig aufzuheben. Schließlich, und vielleicht am wichtigsten, gehört dazu die schrittweise Einführung eines echten Parteien-Pluralismus, der die Monopolstellung der Kommunistischen Partei beendet. Wahlen müssen die Möglichkeit bieten, eine Regierung abzuwählen. Demokratie ist zwar mehr als Wahlen, aber ohne Wahlen gibt es keine Demokratie.

Eine solche Entwicklung ist nicht nur deswegen attraktiv, weil nur sie geeignet wäre, die Rechte von 1,3 Milliarden Chinesen effektiv zu schützen. Sie wäre auch deswegen wichtig, weil die Idee der Konstitutionalisierung der globalen Rechtsordnung langfristig keine Chance hat, wenn diese Idee in China nicht akzeptiert wird. Dabei ist die Konstitutionalisierung des internationalen Rechts die große Hoffnung auf dauerhaften Frieden, die sich seit dem Ende des Kalten Krieges im Bereich des Rechts entwickelt hat. Weder das Verhalten der Vereinigten Staaten in Folge der Anschläge vom 11. September, noch das Vorgehen Wladimir Putins in der Ukraine diskreditieren diese Hoffnung - im Gegenteil. International integrierte liberal-demokratische Verfassungsstaaten führen keine Kriege gegeneinander. Dagegen ist ein politisches System des Mächtegleichgewichts, ergänzt durch atomare Abschreckung, nicht nur ein kollektives Armutszeugnis für die menschliche Gattung, sondern lebensgefährlich.

Die Argumente gegen die Einführung solcher Reformen sind letztlich nicht überzeugend. Die Stabilität Chinas wird durch die Monopolstruktur der KP nicht gefördert, sondern unterminiert. Auch durch die chinesische Kultur ist ein Beibehalten autoritärer Strukturen nicht zu rechtfertigen. Konfuzianismus ist keine Alternative zum Konstitutionalismus. Die Anhänger des Konstitutionalismus beschränken sich nicht auf im Westen bekannte, beeindruckende Figuren wie den Künstler Ai Weiwei oder den inhaftierten Friedensnobelpreisträger von 2010 Liu Xiaobo. Immerhin erwähnt selbst die geltende chinesische Verfassung die Menschenrechte und behauptet ihre Suprematie auch gegenüber der Partei. China hat die wesentlichen internationalen Menschenrechtsdeklarationen unterzeichnet und die Universalität der Menschenrechte offiziell anerkannt. An den juristischen Fakultäten in China ist es eine weitverbreitete Ansicht, dass Chinas Zukunft konstitutionalistisch sein sollte.

Zu den Hauptgegnern des Konstitutionalismus in China gehört das Parteiestablishment, wobei Chinabeobachter auch hier Meinungsunterschiede feststellen wollen und die internen Mächtekonstellationen schwer zu beurteilen sind. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich auch in China der Konstitutionalismus nicht durch kluge Reformen einer aufgeklärten Parteielite durchsetzen wird, sondern von unten erzwungen werden wird, wenn das Scheitern dieser Elite offensichtlich geworden ist. Eher pessimistisch stimmen neuere Restriktionen, die in einer Parteidirektive von 2013 mit dem Titel "Zur Situation an der ideologischen Front" enthalten sind. Vor der öffentlichen Diskussion von sieben Themen, die als Beispiele "gefährlichen westlichen Einflusses" gelten, wird gewarnt. Dazu gehören Zivilgesellschaft (Organisationen, die nicht unter Kontrolle der KP stehen), Bürgerrechte, die historischen Fehler der KP, Vetternwirtschaft und die Unabhängigkeit der Gerichte. Es ist zu hoffen - für China und für den Rest der Welt -, dass aus dem chinesischen Traum kein Albtraum wird.


Mattias Kumm ist Forschungsprofessor Rule of Law in the Age of Globalization und geschäftsführender Leiter des WZB Rule of Law Center. Außerdem lehrt er an der Humboldt-Universität zu Berlin und an der New York University School of Law.
mattias.kumm@wzb.eu


Literatur

Yu, Keping (Hg.): Democracy and the Rule of Law in China. Leiden/Boston: Brill 2010.

Kissinger, Henry: On China. New York: Penguin Press 2011.

Yueng, Samson: "Debating Constitutionalism in China: Dreaming of a Liberal Turn?". In: China Perspectives, 2013, Issue 4, pp. 67-72.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 144, Juni 2014, Seite 10-12
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. August 2014