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LATEINAMERIKA/1112: Kolumbien - "Grüne Welle" gegen Politikverdruß, Interview (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 9. August 2010

Kolumbien: 'Grüne Welle' gegen Politikverdruss - Interview mit Ex-Bürgermeister Fajardo

Von Bettina Gutierrez


Berlin, 9. August (IPS) - Bei der Präsidentschaftswahl in Kolumbien Ende Mai hat die Grüne Partei mit mehr als 21 Prozent der Stimmen ein sensationelles Ergebnis erzielt. Auch wenn der Konservative Juan Manuel Santos den Grünen-Chef Antanas Mockus bei der Stichwahl im Juni weit überrundete, hat die kleine Partei doch bewiesen, dass sie ein ernst zu nehmender Herausforderer ist.

Die Sympathisanten der Grünen seien "Bürger, die der traditionellen Politik überdrüssig sind oder keine politische Heimat gefunden haben", sagt Sergio Fajardo, der bei der Wahl an der Seite von Mockus für die Vize-Präsidentschaft kandidierte, im Interview mit IPS.

Den Grund für die große Ungleichheit in der kolumbianischen Gesellschaft sieht Fajardo in den fehlenden Bildungschancen für die gesamte Bevölkerung. "Seit meinem Eintritt in die aktive Politik vertrete ich die These, dass Bildung den sozialen Wandel fördert", erklärt er.

Der Mathematiker und Journalist forschte an verschiedenen Universitäten Kolumbiens und war von 2004 bis 2007 Bürgermeister der Stadt Medellín. Dort startete er eine große Bildungskampagne und ließ für sechs Millionen US-Dollar die Bibliothek 'Parque Biblioteca España' im Slum Santo Domingo bauen.


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IPS: Die Zeitschrift 'Semana' wertete das Abschneiden des 'Partido Verde' bei der Wahl als einen Erfolg: Auch wenn die Partei mit ihrem Kandidaten Antanas Mockus das Ziel der Präsidentschaft verfehlt hat, hat sie im Laufe ihrer Kampagne etwas Transzendentales erreicht: den höchsten Stimmenanteil für eine unabhängige Partei in der Geschichte des Landes. Es waren 21,4 Prozent.

Sergio Fajardo: Es gibt verschiedene Gründe für diesen Erfolg. Bei der Kampagne für die Wahl des Präsidentschaftskandidaten, bei der die drei ehemaligen Bürgermeister von Bogotá, Lucho Garzón, Enrique Penalosa und Antanas Mockus, aufgestellt waren, wurde viel Wert auf gegenseitigen Respekt und Kreativität gelegt.

Ich bin zwei Jahre lang durch ganz Kolumbien gereist und war auch in den entlegensten Regionen. In genau den Regionen, die diejenigen, die nur auf Stimmenfang aus sind, nicht interessieren. Ich habe den Menschen dort zugehört und ihre Bedürfnisse verstanden. Ich habe viele begabte Menschen getroffen, die voller Ideen und Träume für ein besseres Land sind.

Außerdem haben wir mit unserem Wunsch, die Korruption und Vetternwirtschaft zu bekämpfen, den Nerv vieler Bürgern, getroffen, die müde von der traditionellen Politik sind. Wir haben gezeigt, dass man eine andere Politik machen kann, ohne auch nur eine einzige Stimme zu kaufen oder im Gegenzug dazu Posten anzubieten. Dass man gewinnen kann, ohne die eigenen Prinzipien zu verkaufen.

IPS: Wer sind Ihrer Meinung nach die Wähler der Grünen Partei?

Fajardo: Es sind verschiedene Gruppen von Bürgern, die die so genannte 'Grüne Welle', also unsere Sympathisanten, ausmachen. Wie schon erwähnt, sind es Bürger, die der traditionellen Politik überdrüssig sind oder keine politische Heimat gefunden haben. Und die in unserem Wahlprogramm viele grundlegende gesellschaftliche Werte wieder erkannt haben, die durch das Motto 'Der Zweck heiligt die Mittel', das unserem Land so viel Schaden zugefügt hat, verdrängt wurden. 'Nicht alles ist möglich; das Leben ist heilig' und 'Wir haben keinen Preis, wir haben Würde' waren einige unserer Losungen, mit denen sich viele Menschen identifiziert haben. Es sind Menschen, die begriffen haben, dass man, so wie die Kampagne geführt wird, auch regieren kann.

IPS: In Ihrem Programm setzen Sie sich für mehr Bildung ein.

Fajardo: Seit meinem Eintreten in die aktive Politik vertrete ich die These, dass Bildung den sozialen Wandel fördert. Ich muss allerdings zugeben, dass es nicht sehr innovativ ist, der Bildung eine besondere Priorität einzuräumen. Jeder Politiker bezieht die Bildung in sein Wahlprogramm mit ein. Um zu zeigen, dass dies keine leere Worthülse ist, haben wir uns während meiner Zeit als Bürgermeister von Medellin darum bemüht, Tatsachen zu schaffen.

Auf der Agenda der Stadt stand die Bildung an erster Stelle und wurde mit einem Haushalt gefördert, dessen Höhe einmalig war. Nachdem ich mich nun mit den Problemen des ganzen Landes auseinander gesetzt habe, finde ich meine These bestätigt. Wir sind reich an Talenten und Kreativität, aber sehr vielen Bürgern werden Chancen verwehrt, indem man sie von der Grundbildung ausschließt oder nicht so lange studieren lässt, wie sie es benötigen.

Und als ob das noch nicht genug wäre: Wenn der Staat Bildung garantiert, stellt er nicht unbedingt auch die Qualität der Bildung sicher. Der Grund für die Ungleichheit in der kolumbianischen Gesellschaft liegt in den fehlenden Bildungschancen für die gesamte Bevölkerung. Das Wort Chancen ist eng mit Bildung verbunden. Deshalb setzen wir uns vorrangig für Bildung ein und haben konkrete Vorschläge hierzu erarbeitet.

IPS: Inwieweit unterscheidet sich der außenpolitische Standpunkt der Grünen Partei von dem der scheidenden Regierung von Präsident Alvaro Uribe?

Fajardo: Die Grundlagen für die Pflege und den Aufbau der internationalen Beziehungen Kolumbiens sollten Respekt, Würde, Diplomatie und individuelle Souveränität sein. Das ist der springende Punkt: die Beziehungen sollten dem Aufbau und nicht dem Rückschritt dienen. Präsident Uribe hat vor allem die Beziehungen zu den USA gepflegt und alles, was das Thema Sicherheit betrifft, außer Acht gelassen. Er hat andere internationale Beziehungen, die genauso wichtig sind und bei denen der Schwerpunkt auf der Kultur und dem Handel liegt, diskreditiert.

Wir wollten ein neues Kapitel der internationalen Beziehungen beginnen, das frei ist von allen Beschimpfungen und Streitigkeiten, die es in der Vergangenheit gab. Wir wollten die Beziehungen konstruktiv und im gemeinsamen Dialog aufbauen. Darauf werden wir weiterhin bestehen.

IPS: Wie sehen Sie die politische Zukunft Kolumbiens unter dem neuen Präsidenten Juan Manuel Santos?

Fajardo: Präsident Santos hat seine Arbeit aufgenommen und in den Ministerien einige führende Persönlichkeiten ernannt, die wir schätzen. Das ist ein gutes Zeichen. Wenn er aber tatsächlich die Korruption bekämpfen und das schlechte Image verbessern möchte, das die Mehrheit der Kolumbianer von der Legislative hat, muss er im Parlament noch einen wichtigen Kampf austragen. Man wird sehen, ob es ihm gelingt, die Vetternwirtschaft zu beenden

IPS: Wird die Grüne Partei die Rolle der Opposition einnehmen?

Fajardo: Wir haben als Grüne Partei die Verantwortung, uns zu einer modernen politischen Partei zu entwickeln, in der neue und effektive Formen der Bürgerbeteiligung im Mittelpunkt stehen. Zu einer Partei, die Lösungen für die Weiterentwicklung von Wissenschaft, Innovation und Technologie findet und die lernt, wie man sich immer wieder aufbaut. Aber wir werden unsere Arbeit nicht nur in die Rolle der Opposition investieren. Wir wollen auch Protagonisten sein. (Ende/IPS/bg/2010)


Links:
http://www.partidoverde.org
http://www.sergiofajardo.com

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 9. August 2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. August 2010