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LATEINAMERIKA/1269: Brasilien - Megaprojekte beleben Klassenkampf (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 18. Mai 2011

Brasilien: Megaprojekte beleben Klassenkampf - Dominoeffekt durch Aufstand in Jirau

Von Mario Osava

Arbeiten am Wasserkraftwerk in Jirau ruhen - Bild: © Mario Osava/IPS

Arbeiten am Wasserkraftwerk in Jirau ruhen
Bild: © Mario Osava/IPS

Porto Velho, Brasilien, 18. Mai (IPS) - Der Zorn der Menschenmenge, die sich zwischen Wald und Mauer eingefunden hatte, die den Fluss Madeira im Nordwesten Brasiliens stauen soll, war immens. In nur drei Tagen setzten die Bauarbeiter 50 Busse in Brand. Sie demolierten weitere Fahrzeuge, Firmenanlagen und sogar ihre Unterkünfte, die für 16.000 Menschen angelegt sind.

Der Aufstand in Jirau am 15. März brachte die Arbeiten an einem von zwei Wasserkraftwerken im Amazonas-Bundesstaat Rondônia zum Erliegen. Arbeitsrechtlern zufolge wäre die Regierung allein schon aus Eigeninteresse gut beraten, einen nationalen Tarifvertrag auf den Weg zu bringen, der die Arbeitsrechte von Bauarbeitern zementiert.

Ein zuvor geschlossenes Abkommen zwischen Gewerkschaftsführern und dem Konsortium, das den Riesendamm baut, reichte offenbar nicht aus, um die Arbeiter zufrieden zu stellen. Die Wut wurde aber auch durch die Ankündigung von Massenentlassungen geschürt.

Die Ausschreitungen in Jirau haben mehrere Streiks gegen große Infrastrukturprojekte entfacht, die Zehntausende von Menschen beschäftigen. So kam es zu Übergriffen auf Energieanlagen, Häfen, eine Erdölraffinerie und einen Petrochemiekomplex. Die Proteste, an denen sich rund 160.000 Menschen beteiligten, konzentrierten sich vorrangig auf den Norden und Nordosten des Landes, den ärmsten Regionen Brasiliens.


Miserable Arbeitsbedingungen

Auslöser der 'Explosion' in Jirau seien die miserablen Arbeitsbedingungen tausender Beschäftigter und der autoritäre Führungsstil der Arbeitgeber gewesen, meint José Dari Krein, Leiter des Zentrums für Gewerkschaftsstudien und Arbeitsökonomie der Staatlichen Universität von Campinas. Vor Ausbruch des Konflikts hatte das Staudammprojekt 22.000 Menschen beschäftigt, die zum größten Teil aus anderen Landesteilen zugewandert sind.

Ähnliche Gründe hatten neun Monate zuvor die Arbeiter in Santo Antonio 120 Kilometer von Jirau entfernt auf die Barrikaden gehen lassen. Auch dort soll der Rio Madeira gestaut werden. Die Unruhen hinterließen ebenfalls eine Spur der Verwüstung: 35 Busse wurden zerstört, die Arbeiten an dem Staudammprojekt mussten mehrere Tage ruhen. Auslöser der Ausschreitungen war wie in Jirau die schlechte Behandlung eines Arbeiters gewesen.

Die Rebellionen ähneln einem Streik der Zuckerrohrschneider im Mai 1984 in Guariba, 350 Kilometer von der Industriemetropole São Paulo entfernt. Dort plünderten die Plantagenarbeiter öffentliche Gebäude und einen Supermarkt und setzten Fahrzeuge und Zuckerrohrfelder in Brand. Zudem kam es zu schweren Zusammenstößen mit der Polizei.

Auch in diesem Fall hatten die Arbeiter auf ihre verheerenden Arbeitsbedingungen reagiert. Der Aufstand kam unerwartet und überraschte selbst Gewerkschaftsführer und Sozialaktivisten, die das Frühstücksprogramm 'boias-frias' unterstützen, von dem die Arbeiter profitieren. Auch Regierung und Unternehmen waren geschockt.

"Der Aufstand war furchtbar, doch gleichzeitig eine Lehre. Er hat das Leben aller Arbeiter verändert", erinnert sich Wilson Rodrigues da Silva, der die Revolte als 18-Jähriger miterlebt hatte und zu dem damaligen Zeitpunkt vier Jahre als Zuckerrohrschneider beschäftigt war.

Auch wenn es noch viel zu tun gebe, um die Situation der Arbeiter zu verbessern, so hätten sich die Zuckerrohrschneider damals entscheidende Rechte erkämpft und Verhandlungen mit den Unternehmen erzwungen, berichtet Rodrigues da Silva, der derzeitige Präsident der Gewerkschaft der Landarbeiter von Guariba.


Streik mit Folgen

Tatsächlich gehörte die Gründung des Arbeitnehmerverbands und weiterer 70 Gewerkschaften im Bundesstaat São Paulo zu den Errungenschaften des Arbeiterkampfes von Guariba, der sich auf andere umliegende Gebiete ausweitete. Inzwischen sind 300.000 Landarbeiter in São Paulo gewerkschaftlich organisiert.

Brasiliens Regierung arbeitet seit 1975 daran, herkömmliches Benzin durch Ethanol zu ersetzen. Das Projekt in Reaktion auf die internationale Erdölkrise führte zu einer unerhörten Ausweitung der Zuckerproduktion und der massiven Zuwanderung von Zuckerschneidern in die Zentren der Zuckerproduktion wie Guariba.

Doch die Lebens- und Arbeitsituation der Betroffenen war verheerend: "Massive Ausbeutung und immer neue Akkordvorgaben sowie die Unterbringung in primitiven und die Gesundheit gefährdenden Unterkünften waren die Regel", sagt Rodrigues da Silva.

Die immer höheren Produktivitätsanforderungen in einem Bereich, der als strategisch wichtig für die energetische Unabhängigkeit und Handelsbilanz des südamerikanischen Landes angepriesen wird, brachte das Fass zum Überlaufen.

Ähnliches geschieht nun an den Standorten der großen Infrastruktur- und Wohnbauprojekte, die im Rahmen des sogenannten Programms für Wachstumsbeschleunigung (PAC) von der Regierung Dilma Rousseff umfangreich gefördert werden. Die Investitionen sorgten dafür, dass die Produktivität der Bauwirtschaft im letzten Jahr um 11,6 Prozent zulegte und den formellen Beschäftigungssektor um 17,66 Prozent ansteigen ließ.

Doch am Bau sind die Arbeitsbedingungen ähnlich schlecht wie zuvor in der Zuckerindustrie. Da die wenigsten Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert sind, münde die Unzufriedenheit in besonders aggressive Revolten, unterstreicht der Universitätsprofessor Krein.


Im wirtschaftlichen Schattenreich

Neuen amtlichen Angaben zufolge waren in Brasilien 2009 mehr als 4,3 Millionen Arbeiter nicht gewerkschaftlich organisiert, und die Zahl der arbeitsrechtlich abgesicherten Arbeitnehmer belief sich auf keine zwei Millionen. Auch die Fluktuation in dem Sektor ist besorgniserregend. So standen den im letzen Jahr 2,4 Millionen Neubeschäftigungen 2,2 Millionen Entlassungen gegenüber.

Gerade für Saisonarbeiter - ob sie nun in der Landwirtschaft oder am Bau beschäftigt sind, ist es äußerst schwierig, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Hinzu kommt, dass sie keine feste Größe darstellen. Im Baugewerbe in Rodônia etwa registrierte das Arbeitsministerium in nur einem Jahr (2010) einen Anstieg formeller Arbeitsplätze vor allem durch Dammprojekte um 54,4 Prozent auf 42.751. Einen ähnlich großen Zuwachs verbuchte der Sektor 2008, als die Arbeiten an den Wasserkraftwerken begannen.

Der Aufstand in Jirau ist nach Ansicht von José Dari Krein ein Weckruf. Der Arbeitsrechtler empfiehlt die Einführung nationaler Tarifverträge für die Baubranche, die angemessene Arbeitsrechte beinhalten müssten. (Ende/IPS/kb/2011)


Links:
http://www.conticom.org.br/
http://www.brasil.gov.br/pac
http://www.eco.unicamp.br/pesquisa/CESIT/
http://www.ipsnoticias.net/print.asp?idnews=98202

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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Mai 2011