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LATEINAMERIKA/1417: Brasilien - Albtraum Nahverkehr, Stressiges Stadtleben ein Auslöser der Massenproteste (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 26. Juni 2013

Brasilien: Albtraum Nahverkehr - Stressiges Stadtleben ein Auslöser der Massenproteste

von Mario Osava


Bild: © Fabiana Frayssinet/IPS

Die 'Generation Facebook' geht auf die Barrikaden
Bild: © Fabiana Frayssinet/IPS

Rio de Janeiro, 26. Juni (IPS) - Bei den Massendemonstrationen in Brasilien sind seit dem 20. Juni etwa eine Million Menschen in den großen Städten des Landes auf die Straße gegangen. Treibende Kraft der Proteste sind Studenten, die die Ausdünnung des öffentlichen Nahverkehrs und die sinkende Lebensqualität in urbanen Gebieten nicht mehr hinnehmen wollen. Die Ankündigung, die Preise für die Busfahrkarten zu erhöhen, hatte das Fass zum Überlaufen gebracht.

Staatspräsidentin Dilma Rousseff versprach indes am 25. Juni nach einem Treffen mit Gouverneuren und Bürgermeistern Verbesserungen im Verkehrssektor sowie höhere Bildungs- und Gesundheitsausgaben. Doch die Brasilianer wollen erst abwarten, ob den Worten Taten folgen.

Die Organisatoren der Kundgebungen und Nutzer sozialer Netzwerke im Internet haben für den 1. Juli zu einem Generalstreik aufgerufen. Die schlechte Qualität des öffentlichen Nahverkehrs ist für die Protestierenden ein Beweis dafür, dass die Verantwortlichen die Rechte der Bevölkerung nicht respektieren und ihnen zudem hohe Preise zumuten.

Mario Miranda Gouveia ging vor zwei Monaten mit 61 Jahren in den Ruhestand, weil er die drei bis vier Stunden Busfahrt von seinem Wohnort Campo Grande im Westen von Rio de Janeiro bis zu seinem Arbeitsplatz im Stadtzentrum nicht mehr ertragen konnte. "Es war schrecklich", erzählt Gouveia, der in einer Stiftung zur Förderung der Forschung tätig war. "Ich fuhr jeden Morgen um sechs Uhr los und kam erst gegen halb zehn im Büro an." Oftmals musste er während der Fahrt stehen, weil die Sitze demoliert worden waren.

Die junge Physiotherapeutin Mauriceia de Sousa Silva kommt manchmal völlig aufgelöst nach einer zweistündigen Fahrt in einem überfüllten Bus nach Hause. Dabei ist die Strecke zwischen den Vierteln Ipanema und Tijucanur gerade einmal 15 Kilometer lang.

Noch vor zwei Wochen hätte niemand erwartet, dass diese Unannehmlichkeiten spontane Proteste auslösen würden, die sich wie ein Lauffeuer vom Süden bis zum Norden des Landes verbreiteten. Und die Demonstranten haben noch weitere Forderungen. So verlangen sie etwa eine Aufstockung der Budgets für Gesundheit und Bildung, die Legalisierung von Marihuana und die Bekämpfung von Korruption. Viele von ihnen empören sich zudem über die hohen Ausgaben bei der Vorbereitung der Fußball-WM und der Olympischen Spiele und die Vertreibung von Menschen.


Brasilien kein Krisenstaat

Vergleiche mit Revolutionen wie dem 'Arabischen Frühling', der spanischen 'Indignados'-Bewegung und den jüngsten Protesten in der Türkei waren rasch gezogen. Doch die Situation in Brasilien ist völlig anders als in den anderen Staaten. Brasilien ist eine starke Demokratie, die keine wirtschaftliche oder politische Krise durchmacht. Die Arbeitslosenrate liegt trotz eines abgeschwächten Wirtschaftswachstums bei nur 5,8 Prozent, und Staatspräsidentin Rousseff genießt nach wie vor hohe Popularität.

Der Aufruhr begann mit vier Protestmärschen, zu denen am 6. Juni in São Paulo die Bewegung für Freifahrtscheine ('Movimento Passe Livre MPL') aufgerufen hatte. Wenige Tage zuvor hatten die Behörden angekündigt, den Preis für eine Busfahrkarte von umgerechnet 1,4 auf 1,5 US-Dollar zu erhöhen. Tausende Menschen nahmen an der Demonstration teil.

São Paulo war das Epizentrum der Proteste, während Aktionen in kleinerem Umfang in drei weiteren Hauptstädten von Bundesstaaten stattfanden. Am 13. Juni schoss die Polizei in der Metropole mit Gummigeschossen auf Demonstranten. Dabei wurden Dutzende Menschen, auch Journalisten, verletzt.

Die gewaltsamen Zusammenstöße führten dazu, dass sich die Protestwelle weiter ausbreitete. Die Teilnehmer kamen im Namen der Solidarität zusammen und verteidigten ihr Recht auf friedliche Kundgebungen. Es gehe ihnen in erster Linie um Rechte und nicht nur um ein paar Cent mehr für Busfahrkarten, erklärten sie. Vor allem jugendliche Demonstranten, die einen politischen Wandel herbeiführen wollen, hoffen nun darauf, dass Brasilien endlich 'erwacht'.

Ohne die unbequemen Lebensumstände in den Städten hätten die Proteste vermutlich nie ein so großes Ausmaß angenommen. Die verbreitete Unzufriedenheit in der Bevölkerung ist auch ein Grund dafür, dass den Demonstranten eine unerwartet hohe Toleranz entgegengebracht wird. Selbst Ladenbesitzer, deren Geschäfte während der Proteste angegriffen oder sogar geplündert wurden, stehen auf der Seite der Demonstranten.

Das Verkehrsaufkommen in den brasilianischen Städten hat in den vergangenen Jahren erheblich zugenommen, weil der Kauf von Autos steuerlich stark begünstigt wird. Auch Kredite sind leicht erhältlich. Die Regierung führte diese Maßnahmen ein, um das Wirtschaftswachstum zu fördern. In das öffentliche Verkehrssystem wurde jedoch kaum investiert.


Stundenlang unterwegs in teuren Verkehrsmitteln

Josefa Gomes bereut es mittlerweile, in die Großstadt São Gonçalo östlich des Großraums Rio de Janeiro gezogen zu sein. Sie braucht täglich etwa zwei bis drei Stunden, um zu den Wohnvierteln in der Nähe des Stadtzentrums zu kommen, wo sie als Haushaltshilfe arbeitet. Und die Busfahrten zur Arbeit und nach Hause zurück kosten sie Tag für Tag elf Dollar. Bis vor sechs Jahren lebte Gomes noch in einer Armensiedlung und sparte etwa die Hälfte ihrer heutigen Fahrtzeit ein. Da keine Verbesserung der Lage in Sicht ist, will sie aus ihrer größeren Wohnung nun wieder in Richtung Stadtzentrum ziehen.

In São Paulo, der größten Stadt Brasiliens, bewältigen die motorisierten Fahrzeuge Statistiken von 2012 zufolge während der abendlichen Stoßzeiten im Schnitt nur 18,5 Kilometer pro Stunde, zehn Prozent weniger als noch 2008. Auf manchen Hauptstraßen kommt ein Auto in einer Stunde etwa 6,6 Kilometer voran und ist damit unwesentlich schneller als ein Fußgänger. Die Busse, die im vergangenen Jahr insgesamt 2,9 Milliarden Passagiere beförderten, gelten aber als die denkbar schlechteste Alternative zum Auto.

Das Meinungsforschungsinstitut 'Datafolha' stellte fest, dass die Einwohner der Stadt derzeit den höchsten Grad der Frustration seit Beginn der Umfragen 1987 erreicht haben. 55 Prozent der Menschen dort finden die Lebensbedingungen in São Paulo schlecht oder sogar fürchterlich. Vor zwei Jahren waren erst 42 Prozent dieser Ansicht gewesen. (Ende/IPS/ck/2013)


Links:

http://www.mpl.org.br/
http://www.ipsnews.net/2013/06/deteriorating-urban-transport-sparked-the-protests/
http://www.ipsnoticias.net/2013/06/la-indignacion-brasilena-viaja-en-autobuses-repletos/#

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 26. Juni 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juni 2013