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LATEINAMERIKA/1479: Kolumbien - Friedensprozess zwischen Durchbrüchen und Hindernissen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 27. August 2014

Kolumbien: Der Friedensprozess - Zwischen Durchbrüchen und Hindernissen

von Constanza Vieira


Bild: © Jorge Luis Baños/IPS

Die erste Delegation der Opfer des kolumbianischen Bürgerkriegs auf einer Pressekonferenz am 16. August in Kuba
Bild: © Jorge Luis Baños/IPS

Bogotá, 27. August (IPS) - Bei den jüngsten Friedensgesprächen in Kuba zwischen der kolumbianischen Regierung und den FARC-Rebellen konnte in drei wichtigen Punkten ein Durchbruch erzielt werden. Doch der Weg, den jahrzehntealten Bürgerkrieg zu beenden, ist auch nach fast zweijährigen Verhandlungen steinig.

Am 16. August hatte eine Gruppe von Angehörigen der Opfer im Rahmen der Friedensverhandlungen Gelegenheit zu einem Vis-à-vis-Gespräch mit Regierungs- und Guerilla-Vertretern. Das Treffen mit Vertretern beider für schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortlichen Konfliktparteien war, von einem welthistorischen Standpunkt aus gesehen, ein bislang einmaliger Vorgang.

Fünf Tage später wurde eine Expertenkommission eingerichtet, die die Ursachen des 50-jährigen Konflikts erforschen und sich mit den Faktoren befassen wird, die den längsten Krieg Lateinamerikas am Laufen halten. An gleichen Tag geschah zudem das bisher Undenkbare: Hochrangige Offiziere der Armee, Luftwaffe und Sicherheitskräfte flogen unter Führung von General Javier Alberto Flórez, dem Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs, nach Kuba, um im Rahmen ihrer 24-Stunden-Mission mit ihren Erzfeinden zu verhandeln.


Gespräche zwischen den Erzfeinden

Am 22. August sprachen die Militärs und die Rebellen der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC), die sich 1964 mit Waffengewalt erhoben hatten, über die Umsetzung eines endgültigen bilateralen Waffenstillstands und die Voraussetzungen für eine Auflösung und Entwaffnung der FARC. Dafür war eigens eine Unterkommission eingerichtet worden. Kolumbiens Staatspräsident Manuel Santos sprach von "einem historischen Schritt nach vorn".

Zwölf von insgesamt 60 Bürgerkriegsopfern, die in fünf Gruppen nach Havanna fliegen werden, hatten am 16. August fast sieben Stunden lang mit Regierungs- und FARC-Vertretern gesprochen. Anwesend waren auch zwei Generäle im Ruhestand, darunter der Armeechef Jorge Enrique Mora Rangel, dem schwere Menschenrechtsverletzungen zur Last gelegt werden.

Bei der Gruppe der Zwölf handelte es sich um sechs Opfer der Gewalt der Sicherheitskräfte und der ultraechten Paramilitärs, die zum Teil im letzten Jahrzehnt demobilisiert worden waren, sowie um vier Opfer der FARC und zwei anderer bewaffneter Akteure. Das sei ein weltweit einzigartiges Experiment gewesen, kommentierte Fabrizio Hochschild, ein Vertreter der Vereinten Nationen in Kolumbien, das Treffen.

Auf vorangegangenen Foren in Kolumbien hatten tausende Opferfamilien ihre wichtigsten Forderungen gestellt. Sie verlangen Auskunft über das Schicksal ihrer verschwundenen Angehörigen, eine Verbesserung der Entschädigungsmechanismen, Garantien, dass sich diese Verbrechen nicht wiederholen, und Gerechtigkeit.

Die Unterhändler hatten die UN, die Nationale Universität Kolumbiens und die Katholische Bischofskonferenz mit der Aufgabe betraut, die Vertreter der Opferfamilien aus insgesamt 6,7 Millionen Bürgerkriegsopfern inklusive 5,7 Millionen Vertriebenen - in der Mehrheit Kleinbauern - auszuwählen. Im kolumbianischen Bürgerkrieg, dem längsten Lateinamerikas, wurden seit 1946 mindestens 420.000 Menschen getötet, allein 220.000 seit 1958, wie zwei 1962 und 2012 eingerichtete Erinnerungskommissionen herausfanden.

Die Gründung einer Konflikt- und Opferkommission (CHCV), die im Rahmen der laufenden Verhandlungen von den Unterhändlern gefordert worden war, wurde am 21. August bekannt gegeben. Das neue Gremium wird aus jeweils sechs Experten wie Historikern, Soziologen, Anthropologen, Wirtschaftsexperten und Politikern der beiden Konfliktparteien bestehen. Die CHCV wird die Ursachen des bewaffneten Konflikts analysieren, die Aspekte, die einer Lösung des Konflikts im Wege stehen, ermitteln und der Frage nachgehen, wer für die Folgen des Bürgerkriegs für die Bevölkerung verantwortlich ist.

Die Berichterstatter sollen bis Dezember einen gemeinsamen Bericht vorlegen, der auf individuelle Schuldzuweisungen verzichtet und so geschrieben ist, dass er für strafrechtliche Verfahren ungeeignet ist. Die CHCV ist somit keine Wahrheitskommission für die Zeit nach Abschluss eines Friedensabkommens, wohl aber ein erster Schritt in diese Richtung.

Die allgemeine Öffentlichkeit scheint sich weniger für die Frage nach der Wahrheit oder die Garantie, dass sich die Gräuel nie mehr wiederholen, zu interessieren. Ihr geht es offenbar vor allem um den Aspekt der Gerechtigkeit.


Massive strafrechtliche Differenzen

Die Positionen in dieser Hinsicht können kaum extremer sein. Zum einen gibt es die Forderung von Santos-Amtsvorgänger Álvaro Uribe (2002-2010), ein höheres Gericht zu etablieren, das die Urteile gegen Mitglieder der Sicherheitskräfte im Zeitraum 1980 bis 2026 überprüfen und aufheben darf, um deren Freilassung zu ermöglichen. Zum anderen ist die FARC nicht bereit, die Zuständigkeit des kolumbianischen Rechtssystems, die Rebellen nach einem Friedensabkommen vor Gericht zu stellen, anzuerkennen.

"Letztere Haltung basiert auf der durchaus nachvollziehbaren Logik, dass beide Konfliktparteien Menschenrechtsverbrechen begangen haben und aus diesem Grund der Staat nicht Richter und Geschworener zugleich sein darf", meinte der FARC-Unterhändler und FARC-Kommandant Pablo Catatumbo im IPS-Gespräch in Kuba.

Die Familien der Opfer von Verschwundenen sind jedoch nicht dazu bereit, eine Straffreiheit hinzunehmen. Diejenigen, die nach Kuba gekommen waren, forderten die Unterhändler auf, nicht eher den Verhandlungstisch zu verlassen, bis ein entsprechendes Abkommen erzielt worden sei.

Doch die Fragilität der Friedensgespräche, die unter dem Motto stehen, dass nichts beschlossen ist, solange nicht in allen Fragen Einigkeit erreicht ist, lässt sich nicht übersehen. Noch müssen 28 Aspekte der drei in diesem Monat verabredeten Punkte ausgehandelt werden. Darüber hinaus gilt es einen gemeinsamen Konsens bei drei weiteren Hauptpunkten der Verhandlungsagenda zu erzielen. Von den 28 Unterpunkten beziehen sich 14 auf die Landwirtschaft, zehn auf politische Partizipation und vier auf den Drogenhandel. Die CHVC soll diesbezüglich Empfehlungen unterbreiten.

Neben der Frage der Gerechtigkeit fordert die Öffentlichkeit die Demobilisierung der FARC. Im Juni hatte General Mora Rangel erklärt, dass die Rebellen ihre Waffen niederlegen müssten, damit sie Teil der Zivilgesellschaft und des "demokratischen Systems" werden könnten.

Doch nach Angaben des Friedensanalysten Carlos Velandia wird es keine Fotos einer "Massendemobilisierung" geben, wie sie im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts verbreitet worden sind, die Paramilitärs bei der Aushändigung ihrer Waffen zeigten. Vielmehr würden die bewaffneten Strukturen in politische Strukturen überführt. Die entsprechenden Mechanismen seien aber noch nicht ausgehandelt. Und anders als im Fall der Paramilitärs würden sich die Rebellen gewiss nicht zu Tausenden hilfesuchend an Vater Staat wenden.


Gefahr der Meinungsmache

Einem katholischen Pfarrer zufolge, der über den Verlauf der Friedensgespräche bestens unterrichtet ist, sind nicht die Konfliktparteien das Hauptproblem. Es ist vielmehr die Meinungsmache in Kolumbien. Dort hatte Ex-Präsident Uribe, der inzwischen zu einem ultrarechten Senator der parlamentarischen Opposition avanciert ist, während seiner zweimaligen Amtszeit enormen Einfluss auf die öffentliche Meinung genommen.

Uribe versuche "Unternehmer, Banker, Großindustrielle und einige Journalisten auf seine Seite zu ziehen, damit sie seine Kampagne gegen die Friedensgespräche unterstützen", erläuterte er. Da Santos über keine wirklichen Führungsqualitäten verfüge, bestehe die Gefahr, dass er den Friedensprozess aufgebe, sobald sich sein Land gegen ihn stelle.

Sollte eine starke Öffentlichkeit für ein mögliches Friedensabkommen sein, könnte es geschehen, dass sich Santos auf Druck der mächtigen Oligarchie veranlasst sähe, ein Referendum über ein Friedensabkommen zu blockieren. Sollte es andererseits dazu kommen, dass es Uribe und den Tätern, die befürchten müssen, als solche von den Opferfamilien entlarvt zu werden, gelingt, die Wähler zur Ablehnung der Friedensgespräche zu bewegen, würden sie einem Referendum über ein mögliches Friedensabkommen nicht entgegenstehen.

Einen entsprechenden Präzedenzfall hat es bereits in Guatemala gegeben, wo die Beteiligung an einem Referendum über das letzte Friedensabkommen, das einem 36-jährigen Bürgerkrieg (1960-1996) ein Ende setzte, äußerst gering war und sich die Mehrheit der Wähler gegen das Friedensabkommen aussprach. In den kolumbianischen Friedensgesprächen in Havanna werden die Mechanismen für ein solches Referendum im sechsten Tagungsordnungspunkt abgehandelt. Bisher hat sich Santos dazu noch nicht öffentlich geäußert.

Um die politischen Manöver der Uribe-Fraktion zu stoppen, müsse es mehr Entscheidungen geben, die auf die Anerkennung der Legitimität der Friedensverhandlungen einschließlich Handlungen im Sinne von Wahrheit und Versöhnung abzielten. Auf diese Weise könne der Erfolg des Friedensprozesses sichergestellt werden, meinte der Geistliche. Je mehr Menschen Versöhnungsbereitschaft signalisierten, umso größer seien die Friedenschancen.

Verschiedene Sektoren der kolumbianischen Gesellschaft stimmen darin überein, dass es einen "neuen sozialen Pakt" geben muss, um die bereits erzielten Abkommen zu sichern und die verbliebenen Herausforderungen zu meistern. Nach Ansicht der FARC und vieler Vertreter der Linken und Ultrarechten sollte ein solcher Pakt mit Hilfe der Verfassunggebenden Versammlung erzielt werden. Doch Santos ist offenbar eher einem Referendum zugetan. (Ende/IPS/kb/2014)


Links:

http://www.ipsnoticias.net/2014/08/negociacion-de-paz-colombiana-entre-avances-y-nubarrones/
http://www.ipsnews.net/2014/08/breakthroughs-and-hurdles-in-colombias-peace-talks/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 28. August 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. August 2014