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LATEINAMERIKA/1510: Talking about a Revolution - Entspannungspolitik und ihre Folgen für Kuba (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Perspektive / FES Kuba

Talking about a Revolution
Entspannungspolitik und ihre Folgen für Kuba

von Sarah Ganter
Mai 2015


• Mit ihrem Politikwechsel gegenüber Kuba reagieren die USA und die EU auch auf die Veränderungen, welche sich in den letzten Jahren auf der Insel vollzogen haben. Die kubanische Regierung erhofft sich von der Annährung vor allem dringend benötigte ausländische Direktinvestitionen, die das kubanische Wirtschaftswachstum ankurbeln sollen.

• Im Zuge der »Aktualisierung der Revolution« implementiert die Regierung Raúl Castros einen umfassenden Reformprozess, der den tropischen Sozialismus durch die Einführung von Marktelementen zukunftsfähig machen soll. Der hohe Bildungsgrad der Bevölkerung ermöglicht Kuba zudem andere Entwicklungspfade als vielen Nachbarn in der Region. Daher strebt die kubanische Regierung vor allem ein technologiebasiertes Entwicklungsmodell an.

• Wie in vielen anderen Veränderungsprozessen gibt es auch in der kubanischen Transformation Gewinner_innen und Verlierer_innen. Als Kehrseite von Privatisierung und Maßnahmen zur Produktivitätssteigerung werden bereits neue soziale Ungleichheiten sichtbar. Auch die neuen Beziehungen zu den USA und der EU werden sich auf den Reformprozess und das soziale Gefüge des Landes auswirken.

• Der Servicesektor gewinnt durch das Wachstum der Tourismusbranche im Zuge der Entspannungspolitik weiter an Bedeutung, während produktive Sektoren nur wenig profitieren. Ein Mehr an Rücküberweisungen bringt zwar materielle Verbesserungen, aber nur für den Teil der Bevölkerung, der Familienangehörige im Ausland hat.

• Um einen geregelten Übergang zu einem Mischwirtschaftssystem zu ermöglichen, sollte die wirtschaftliche mit einer sozialen Entwicklung verbunden und das zukünftige Wirtschaftswachstum an die Schaffung qualitativer Arbeitsplätze gekoppelt werden. Die Erfahrungen der europäischen Sozialmodelle, einige Lehren aus den Transformationsprozessen in Osteuropa sowie innovative Ideen aus Lateinamerika selbst könnten für diesen Prozess eine zentrale Rolle spielen.

*

Sowohl die USA als auch Europa setzen in ihren Beziehungen zu Kuba auf einen Strategiewechsel - weg von einer Isolations- und Sanktionspolitik hin zu Softpower und Wandel durch Annäherung - und reagieren damit auf einen Wandel, der auf der Insel längst begonnen hat. Mit den Leitlinien für eine neue Wirtschafts- und Sozialpolitik implementiert die Regierung Raúl Castros seit 2006 einen umfassenden Reformprozess. Die beschränkte Einführung von Marktelementen soll den tropischen Sozialismus zukunftsfähig machen und ein neuer Privatsektor die durch Massenentlassungen aus den maroden Staatsbetrieben freigesetzten Arbeitskräfte auffangen. Diese sogenannte »Aktualisierung der Revolution« spiegelt sich bisher allerdings kaum in konkreten Verbesserungen der kubanischen Lebensrealität wider.

Mit der Annäherung an die USA und Europa ist vor allem die Hoffnung auf dringend benötigte ausländische Direktinvestitionen verbunden, die das Wirtschaftswachstum ankurbeln sollen. Dieses lag 2014 mit etwa 1,2 Prozent weit unter dem regionalen Durchschnitt. Als Kehrseite von Privatisierung und Maßnahmen zur Produktivitätssteigerung werden bereits neue soziale Ungleichheiten sichtbar.

Die veränderten Beziehungen zu den USA und der EU werden sich auf den Reformprozess und das soziale Gefüge des Landes auswirken. Einer der sensibelsten Punkte bleibt in den jeweiligen Verhandlungen die Frage des Menschenrechtsschutzes - ein Thema, in dem Einigkeit bislang lediglich über die grundsätzliche Uneinigkeit erzielt werden konnte. Darüber hinaus unterscheiden sich die parallelen Verhandlungsprozesse im Hinblick auf Rahmenbedingungen, Akteurskonstellation, Interessenlage, Zielsetzung und Tempo.

Kuba und die USA - Hollywoodreif inszeniertes Ende einer Feindschaft

Die Annäherung an die USA ist mit Obamas und Castros konzertierter Aktion vom 17. Dezember 2014 und dem Austausch politischer Gefangener von großer symbolpolitischer Inszenierung geprägt. Es geht um nichts weniger als das Ende einer Feindschaft und die Beseitigung eines der letzten Relikte des Kalten Krieges 25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer.

Was international als Überraschungscoup wahrgenommen wurde, war von langer Hand vorbereitet: Vorausgegangen waren eineinhalb Jahre geheimer Verhandlungen in Kanada unter der Vermittlung von Papst Franziskus. Mit der Eröffnung von Botschaften in Havanna und Washington wird eine Normalisierung der Beziehungen angestrebt. Das Timing könnte besser nicht sein. Die passenden Bilder zum Ende der Eiszeit wurden bereits ein Jahr vorher produziert, als sich Obama und Raúl Castro bei der Trauerfeier für Nelson Mandela die Hände schüttelten. Die Empfehlung des U.S. State Departments, Kuba von der Liste der »Schurkenstaaten« zu streichen, kam pünktlich zum ersten offiziellen »Get-together« in Panama.

Die Versöhnung findet jedoch nicht nur auf zwischenstaatlicher, sondern vor allem auf gesellschaftlicher Ebene statt. Die kubanische Gesellschaft ist längst eine transnationale: Zwei Millionen Cuban Americans leben in den USA, und die von Raúl Castro Anfang 2013 eingeführte neue Reisefreiheit hat den Pendelverkehr zwischen den beiden Ufern der Floridastraße erheblich beflügelt.

Auch für US-Amerikaner_innen hat das Tauwetter Reiseerleichterungen gebracht. Zwar bleiben ihnen rein touristische Aufenthalte auf der Insel weiterhin offiziell verwehrt, solange das Embargo in Kraft ist, dennoch ist die Zahl der US-Besucher_innen bereits im ersten Quartal des Jahres um 30 Prozent gestiegen. 2014 waren es etwa 400.000 (300.000 davon Cuban Americans); bis Ende 2017 wird mindestens mit einer Vervierfachung gerechnet. Eines der ersten US-Unternehmen, das sich die Lockerungen der Beziehungen zunutze macht, ist die Online-Plattform AirBnB, auf der inzwischen über tausend Privatunterkünfte in Kuba gelistet sind.

Neben den wechselseitigen Besuchen drückt sich die gesellschaftliche Annäherung in einer substanziellen Erhöhung der familiären Rücküberweisungen (remesas), kulturellem Austausch und gemeinsamen Sportevents aus. Das Festival für Kammermusik in Havanna wurde in diesem Jahr gemeinsam mit Musiker_innen aus Chicago eröffnet, in der Fábrica de Arte Cubano trat die US-Hip-Hop-Legende DJ Questlove zusammen mit dem Gitarristen der Red Hot Chili Peppers auf und mit New York Cosmos wird im Juni erstmals wieder eine US-amerikanische Mannschaft zu einem Fußballturnier auf der Insel erwartet. Allerdings haben die Zusammenstöße zwischen den kubanischen Teilnehmer_innen des in Panama vorgeschalteten Zivilgesellschaftsgipfels auch gezeigt, wie tief die Gräben zwischen Befürworter_innen und Gegner_innen der Castro-Regierung weiterhin sind.

Auf beiden Seiten stehen bei allen Emotionen klare politische und wirtschaftliche Interessen im Vordergrund: Die USA fordern die Entschädigung für durch die Revolution enteignete US-Firmen; die kubanische Regierung macht die Gegenrechnung auf und beziffert die Verluste, welche die US-Blockade über die Jahre für die kubanische Wirtschaft bedeutet haben, in Milliardenhöhe. Sie fordert Kompensationen, ein Ende der Embargopolitik sowie die Rückgabe des Gebietes der Militärbasis in Guantánamo.

Letztendlich liegt die Entscheidung über ein Ende der Sanktionen beim mehrheitlich republikanischen US-Kongress, der dem politischen Alleingang des Weißen Hauses keine Rückendeckung gibt. Doch Stimmen für eine Aufhebung des Embargos werden angesichts der Veränderungen auf der Insel auch in den USA und unter Exilkubaner_innen immer lauter. Während die kubanische Regierung mit einem neuen Gesetz für ausländische Investitionen international die Werbetrommel rührt, fürchten US-Firmen bei der Verteilung des kubanischen Kuchens außen vor zu bleiben. Gerade Unternehmen des sonst eher konservativen US-Agrarsektors gehören zu den Lobbyisten für eine zügige Normalisierung der Wirtschaftsbeziehungen, die den Zugang zu einem Absatzmarkt mit elf Millionen potenziellen neuen Konsument_innen eröffnen würde.

Auch Kuba bereitet sich auf die Post-Embargo-Ära vor und baut mit brasilianischer Unterstützung eine riesige neue Sonderwirtschaftszone um den natürlichen Tiefseehafen von Mariel, der nach dem Ausbau des Panamakanals und dem Fall des Embargos zum strategischen Dreh- und Angelpunkt in der Karibik werden soll. Die angekündigte Zusammenführung der zwei parallel existierenden kubanischen Währungen soll ein weiteres Investitionshemmnis aus dem Weg räumen. In Varadero warten tausend Yachtliegeplätze, Luxushotels und Ferienwohnungen auf zukünftigen Fünf-Sterne-Tourismus.

Für die USA geht es bei der Annäherung an Kuba auch um globale ordnungspolitische Fragestellungen sowie die eigene Reintegration in die Region. Kuba steht längst nicht mehr so verloren da wie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der 1990er-Jahre. Die kubanische Regierung hat seitdem eine aktive Diversifizierung ihrer Außenbeziehungen betrieben, die weit über die Bündnisse mit Venezuela und den traditionell befreundeten ALBA-Staaten (Alianza Bolivariana para los Pueblos de Nuestra América) hinausgeht. Ein erneuter Ausbau der Beziehungen zu Russland käme den USA jedoch wenig gelegen.

Vor allem die lateinamerikanischen Nachbarn haben sich in der letzten Dekade geschlossen hinter den Karibikstaat gestellt und vehement eine Wiederaufnahme Kubas in die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) sowie das Ende des Embargos gefordert. Anfang 2014 waren es schließlich die USA und Kanada, die beim regionalen »Familientreffen« der Staatschef_innen in Havanna im Rahmen des Gipfels der Gemeinschaft lateinamerikanischer und karibischer Staaten, CELAC (Comunidad de Estados Latinoamericanos y Caribeños), fehlten.

»Todos somos americanos« (»Wir sind alle Amerikaner«) - Obamas Aussage vom 17. Dezember war als Nachricht an die gesamte Region gerichtet und markierte den Auftakt zur Neuordnung der Beziehungen auf dem amerikanischen Kontinent. Allerdings machte die US-Regierung mit ihrer Positionierung zu Venezuela nur wenig später deutlich, wo die Grenzen des Politikwechsels liegen. Was in Lateinamerika als Aggression wahrgenommen wurde, will Obama als Übernahme neuer Verantwortung in der Region verstanden wissen.

Für die Entspannungspolitik zwischen den USA und Kuba stellt die zweite Amtszeit Obamas eine historische Gelegenheit dar. Das hohe Tempo der Annäherung ist nicht zuletzt dem Bewusstsein auf beiden Seiten geschuldet, dass der Politikschwenk des Weißen Hauses nicht von breiten Mehrheiten getragen wird und die Verhältnisse nach den nächsten US-Präsidentschaftswahlen wieder ganz anders aussehen könnten. Obama brachte es in seiner Rede auf dem Panamagipfel auf den Punkt, indem er seiner Aussage »Wir sind nicht ideologisch gefangen« den Nachsatz »zumindest ich nicht« hinterher schob.

Kuba und Europa - Besser gut als schnell?

Neben diesem großen weltpolitischen Feuerwerk überwiegen in der Entspannungspolitik zwischen Kuba und der EU die leiseren Töne. Kurz schien es sogar, als würde die Annäherung mit Europa auf der Strecke bleiben. Anfang des Jahres hatte Havanna die Verhandlungen mit Brüssel für unbestimmte Zeit ausgesetzt. Als Begründung führte die kubanische Regierung Verschlechterungen im Vertrauensverhältnis an. Während sich die US-Delegationen in Havanna ganz ungeniert mit Vertreter_innen der kubanischen Dissidenz treffen, reagiert die kubanische Verhandlungsseite auf »Fehltritte« dieser Art durch die EU ungleich sensibler.

Die Europäische Union verhandelt seit Anfang 2014 über ein Kooperationsabkommen, das den sogenannten »Gemeinsamen Standpunkt« ablösen soll. Dieser schreibt Demokratisierung und Verbesserung der Menschenrechtslage, aber auch die wirtschaftliche Öffnung des Landes als Ziele eines Dialogs mit Kuba fest und wird von der Regierung in Havanna als Regimewechselansatz abgelehnt. Eine konstruktive Zusammenarbeit auf EUEbene war vor diesem Hintergrund in den letzten beiden Jahrzehnten nicht möglich. So ist Kuba das einzige Land in Lateinamerika und der Karibik, mit dem die EU kein bilaterales Abkommen geschlossen hat. Im Ergebnis zeigte sich der Gemeinsame Standpunkt jedoch als wirkungslos, nicht zuletzt weil er von immer mehr EU-Mitgliedsstaaten durch den Abschluss bilateraler Abkommen umgangen wurde.

Inzwischen überwiegen die Synergien zwischen den parallelen Verhandlungsprozessen, und das Tauwetter mit den USA beflügelt auch die Annäherung mit Europa. Federica Mogherini ist als höchste diplomatische Vertreterin der Europäischen Union nach Havanna gereist, um das Interesse Europas am Abschluss eines Kooperationsabkommens zu bekräftigen. Über 40 Unternehmer_innen begleiteten zudem den spanischen Handelssekretär, um sich noch vor der Aufhebung des Embargos Anteile des kubanischen Marktes zu sichern. Mit Hollande wird am 11. Mai erstmals ein französisches Staatsoberhaupt in Kuba erwartet. Ein Abkommen soll bis Ende des Jahres abgeschlossen werden, auch wenn EU-Chefunterhändler Christian Leffler immer wieder betont, dass beide Seiten ein gutes Abkommen einem schnellen vorzögen. Anders als die USA hat Europa die Beziehungen zu Havanna selbst in den kältesten Momenten der tropischen Eiszeit nie ganz gekappt, und sowohl die EU als auch ihre Mitgliedsländer waren stets mit Botschaften in Kuba vertreten.

Während es bei der Annäherung an die USA um das Ende einer jahrzehntelangen Konfrontation sowie die Etablierung grundlegender Instrumente zwischenstaatlicher Konfliktregulierung geht, verhandeln die EU und Kuba bereits über eine zukünftige Kooperation. Europa ist nach Venezuela der wichtigste Handelspartner Kubas. Ein Großteil der ausländischen Investitionen auf der Insel kommt aus den Mitgliedsstaaten der EU und etwa ein Drittel der Tourist_innen sind gegenwärtig Europäer_innen. Die EU kann den Reformprozess in Kuba im Rahmen dieser etablierten Beziehungen konstruktiv unterstützen. Lehren aus den eigenen Transformationserfahrungen in Osteuropa können dabei von großem Nutzen sein.

Kuba vor der sozialen Zerreißprobe

Trotz der Euphorie steht die kubanische Gesellschaft vor einer Zerreißprobe. Als Errungenschaften der kubanischen Revolution gelten die Abschaffung extremer Armut und die Universalität von Bildungs-, Sozial- und Gesundheitspolitiken. Letztere sind für Kuba seit der schweren Wirtschaftskrise infolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion jedoch nur noch schwer zu finanzieren. Die gegenwärtigen Wirtschaftsreformen führen lediglich zu zaghaften Verbesserungen der Lebensbedingungen, und nicht alle Kubaner_innen profitieren davon gleichermaßen. Wie viele andere Veränderungsprozesse generiert auch die kubanische Transformation sowohl Gewinner_innen als auch Verlierer_innen. Die Lockerungen im Verhältnis zu den USA bringen materielle Vorteile, bestärken aber gleichzeitig das Auseinanderdriften der Gesellschaft.

Durch den hohen Bildungsgrad der Bevölkerung stehen Kuba andere Entwicklungspfade offen als vielen Nachbarn der Region. Die kubanische Regierung strebt daher ein technologiebasiertes Entwicklungsmodell an. Ausländische Unternehmen sollen attraktive Arbeitsplätze für Ingenieur_innen, Techniker_innen und Wissenschaftler_innen schaffen. Doch trotz neuer Gesetzgebung lassen ausländische Investitionen auf sich warten. Das US-Embargo, die ausstehende Währungsreform, aber auch die Beschäftigungsbedingungen lassen die Interessenten zögern.

Die Einstellung von Personal in ausländischen Unternehmen erfolgt in Kuba weiterhin über zwischengeschaltete staatliche Beschäftigungsagenturen, an die ein Großteil der bezahlten Gehälter abgegeben werden muss. Initiativen im neuen Privatsektor sind nur für Tätigkeitsbereiche zugelassen, die keine höhere Qualifikation erfordern. So entstehen Arbeitsplätze vorrangig in niedrig qualifizierten Serviceberufen, die aufgrund ihrer Bezahlung in konvertibler Währung finanziell deutlich lukrativer sind als die Anstellungen in den unproduktiv gewordenen Staatsbetrieben. Kubas neue Selbstständige, die sogenannten »Cuenta Propistas«, die auf eigene Rechnung arbeiten, verdienen ihr Geld als Friseur_innen, Taxifahrer_innen oder im Gastronomiebereich. Durch das Wachstum der Tourismusbranche im Zuge der Entspannungspolitik gewinnt der Servicesektor weiter an Relevanz, während produktivere Sektoren wenig profitieren.

Aus diesem Grund sind auch immer mehr Hochschulabsolvent_innen aus technischen Studiengängen in Berufen tätig, die nicht ihrem Ausbildungshintergrund entsprechen. Obwohl die kubanische Verfassung die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen verbietet, erlaubt das neue Arbeitsgesetzbuch, Arbeitskräfte unter Vertrag zu nehmen. Für die heranwachsende Generation schwinden die Anreize für ein langwieriges Universitätsstudium. Stattdessen arbeiten viele in abhängigen Beschäftigungsverhältnissen in den neuen privaten Kleinunternehmen, in denen Instrumente zum Schutz von Arbeitnehmer_innenrechten bislang kaum etabliert sind.

In Kuba existiert kein funktionierendes Kreditwesen und für kleine Unternehmensgründungen oder Investitionen in den neuen Immobilienmarkt fehlt den meisten Kubaner_innen das notwendige Startkapital. An der Entwicklung haben in der Regel nur diejenigen Teil, die in den Genuss von remesas (Rücküberweisungen) aus dem Ausland kommen. Daher basiert der dynamischste Bereich der kubanischen Wirtschaft heute auch ausgerechnet auf finanziellen Zuwendungen derjenigen, die das Land in Ablehnung der Revolution verlassen hatten. Kubaner_innen ohne Verbindungen ins Ausland bleiben außen vor. Diese Tendenz wird sich weiter verstärken. Durch die Anhebung der zugelassenen Überweisungssumme im Zuge der Entspannungspolitik wird mit einer Verdoppelung der remesas auf eine jährliche Gesamtsumme von über 1.700 Millionen US-Dollar gerechnet.

Eine weitere Ankündigung des 17. Dezember war die Unterstützung der USA bei der Gewährleistung von Internetzugängen. Die kubanische Regierung verspricht, bis 2020 50 Prozent aller Privathaushalte ans Netz zu bringen. Bislang sind es noch nicht einmal fünf Prozent. Dafür wird unter der Hand mit dem sogenannten »Paquete« längst eine Art wöchentliche Zusammenfassung des Internets mit dem Besten aus sozialen Netzwerken und Privatfernsehen auf USB-Sticks und externen Festplatten gehandelt. Internetgestützte Geschäftsideen lassen sich nur durch Mittelspersonen im Ausland realisieren, welche die Anfragen - wie beispielsweise Mitwohngesuche - telefonisch an die Anbieter_innen von Privatzimmern weitergeben. Die tausend Listeneinträge von AirBnB werden somit von einer Hand voll Personen kontrolliert. Auch hier sind Familienangehörige oder anderweitige Kontakte im Ausland der limitierende Faktor für den Marktzugang.

Den Übergang gestalten

Der Reformprozess lässt viele Fragen offen. Die kubanische Regierung betont immer wieder, dass es nicht um eine Abschaffung des Sozialismus geht und strategische Produktionsmittel in staatlicher Hand verbleiben werden. Aber welche Produktionsmittel sind strategisch? Und wie viel Kapitalismus verträgt der kubanische Sozialismus, ohne sich selbst abzuschaffen? Noch ist unklar, welches Verhältnis von Markt und Staat das zukünftige Entwicklungsmodell bestimmen soll. Flankierende Sozialreformen, welche die gesellschaftlichen Folgen der Wirtschaftsreformen abfedern könnten, lassen auf sich warten.

Das Weiße Haus macht keinen Hehl daraus, dass die USA trotz des Strategiewechsels am grundsätzlichen Ziel eines Regimewechsels festhalten. Soziale Spaltungen, welche die Legitimität des kubanischen Sozialismus untergraben, könnten dabei auch in Zukunft Mittel zum Zweck sein.

Für die EU sollte es bei allen Differenzen mit der kubanischen Führung nicht darum gehen, das Regime durch die Erosion des Sozialmodells zu Fall zu bringen. In der Menschenrechtsdiskussion können bürgerlich-politische Rechte nicht gegen soziale Rechte ausgespielt werden. Stattdessen sollte die EU auf ein »Sowohl-als-auch« setzen und sich nicht von der Polarisierung zwischen Dissidenz und offizieller Zivilgesellschaft einnehmen lassen. Ratsam wäre es, sich an die gesellschaftlichen Initiativen und Akteure zu halten, die versöhnliche Töne anstimmen und sich an der Gestaltung eines eigenen nachhaltigen, solidarischen und demokratischen Entwicklungsmodells für Kuba beteiligen wollen.

Das Ziel sollte sein, die wirtschaftliche mit der sozialen Entwicklung zu verbinden und zukünftiges Wirtschaftswachstum an die Schaffung qualitativer Arbeitsplätze zu koppeln. Die Erfahrungen der europäischen Sozialmodelle können für diesen Prozess eine zentrale Rolle spielen. Um zu verhindern, dass die soziale Spaltung weiter zunimmt, sollten die Sozialsysteme - begleitend zu den Wirtschaftsreformen - auf ein mögliches Ende des Embargos vorbereitet und die in sozialen Marktwirtschaften erprobten Schutzmechanismen in der Arbeitswelt etabliert werden. Andernfalls könnten die Kräfte des Marktes die Oberhand gewinnen. Vom Sozialismus blieben dann irgendwann nur noch Revolutionssouvenirs in den All-Inclusive-Hotels, während Niedriglohnarbeiter_innen den Tourist_innen Mojitos servieren.


Über die Autorin

Sarah Ganter ist Landesvertreterin der Friedrich-Ebert-Stiftung für Kuba mit Sitz in der Dominikanischen Republik.

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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juni 2015

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