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LATEINAMERIKA/1569: Vizepräsident will nach Amtsenthebung der Präsidentin Brasiliens Wirtschaft umkrempeln (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Brasilien
Vizepräsident will nach Amtsenthebung der Präsidentin Brasiliens Wirtschaft umkrempeln

Von Andreas Behn


(Rio de Janeiro, 11. Mai 2016, npl) - Noch ist Michel Temer nicht Präsident Brasiliens, doch bastelt er bereits fleißig an einem neuen Kabinett und plädiert für eine Kehrtwende in der Wirtschaftspolitik. Der Vizepräsident hofft, schon am 11. Mai De Facto-Interimspräsident zu werden, da der Senat an diesem Tag endgültig über die Aufnahme eines Amtsenthebungsverfahrens abstimmen wollte. Das erwartete Ja-Votum würde Präsidentin Dilma Rousseff für bis zu 180 Tage suspendieren und Temer, dessen Zentrumspartei PMDB erst im März mit der Regierung brach, mit allen Vollmachten des höchsten Staatsamts ausstatten.


Gewerkschaften fürchten Rückschritte bei Arbeitsrechten

Seit Wochen protestieren Gewerkschaften, soziale Bewegungen und Unterstützer*innen der noch regierenden Arbeiterpartei PT gegen die Amtsenthebung. Für sie handelt es sich um einen Staatsstreich, mit dem die Opposition mit Unterstützung von Medien, Unternehmerverbänden und Teilen von Justiz und Polizei eine gewählte Regierung aus dem Amt treibt. Und sie befürchten, dass Arbeiterrechte und Sozialmaßnahmen abrupt zurückgestutzt werden.

Laut Vagner Freitas, Präsident des Gewerkschaftsdachverbands CUT, wird die neue Rechtsregierung "die Lohnzuwächse der vergangenen Jahre und viele Rechte der arbeitstätigen Bevölkerung rückgängig" machen. "Aufgrund der materiellen Besserstellung der Arbeiter unter Rousseff und davor unter Ex-Präsident Lula wird der Präsidentin jetzt der Prozess gemacht", betonte Freitas am 1. Mai. Auch PT-Präsident Rui Falcão griff Vizepräsident Temer scharf an und bezeichnete ihn als "Verräter". Dessen geplantes Wirtschaftsprogramm kritisierte Falcão als "gefährlichen Rückschritt".


Sparmaßnahmen, Senkung der Lohnkosten und Erleichterungen für Unternehmen

Für den wichtigen Job des künftigen Finanzministers wird der frühere Zentralbank-Chef Henrique Meirelles gehandelt. Das Dringendste sei, das Vertrauen von Investor*innen und Konsument*innen in die nationale Wirtschaft zurückzugewinnen, erklärte Meirelles am Montag. "Eine der ersten Maßnahmen wird die Begrenzung der öffentlichen Ausgaben sein", so der Ministerkandidat. Die jüngste Erhöhung der Sozialhilfe "Bolsa familia" müsse eingehend geprüft werden, ergänzte Meirelles.

Temer selbst hat nach einem Treffen mit Unternehmensvertreter*innen bereits zugesagt, dass er von Steuererhöhungen zur Sanierung des Haushalts absehen werde. Das Rezept zur Krisenüberwindung enthält die bekannten neoliberalen Instrumente: Sparmaßnahmen, Senkung der Lohnkosten und Erleichterungen für Unternehmen. Letzteres umfasst auch die Wiederaufnahme von Privatisierungen und einen vereinfachten Zugang zur Ausbeutung von Bodenschätzen auch für Privatinvestoren. Die Gewerkschafter*innen besorgt vor allem eine Änderung bei den Konzessionsvergaben zur Erschließung der gigantischen Offshore-Erdölreserven im sogenannten Presal (unter der Salzschicht im Meeresboden).


Brasiliens Wirtschaft schrumpft

Besonders umstritten ist die Ankündigung von Temers Partei, die derzeitige gesetzlich vorgeschriebene prozentuale Koppelung der Ausgaben für Bildung und Gesundheit an das Bruttoinlandsprodukt bzw. regionale Etats aufzuheben. Auch eine Rentenreform, die insbesondere Geringverdiener*innen, die schon früh ins Arbeitsleben einsteigen mussten, benachteiligt, steht auf dem Programm.

Unbestritten ist nur, dass etwas getan werden muss. 2015 schrumpfte die Wirtschaft Brasiliens um 3,5 Prozent, die Prognose für 2016 ist ähnlich düster. Die Inflation liegt bei rund zehn Prozent, die Arbeitslosigkeit kletterte vergangenen Monat auf 10,9 Prozent, nachdem sie Ende 2014 noch bei 6,5 Prozent lag. Für die Opposition ist allein Rousseffs Politik Schuld an der ernsten Lage: Zu hohe Staatsausgaben insbesondere im sozialen Bereich, zu wenig Investitionsanreize und zu viele Auflagen bei Großprojekten. Die Regierung hingegen macht die internationale Krise mit sinkender Nachfrage nach Rohstoffen und die Blockadepolitik des Kongresses für die desaströse Lage verantwortlich.


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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Mai 2016

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