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LATEINAMERIKA/1592: Zeit der Entscheidung für Lateinamerikas Linke (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Internationale Politikanalyse

Zeit der Entscheidung für Lateinamerikas Linke

von Claudia Detsch
Juli 2016


• Die lateinamerikanischen Demokratien stehen vor einer Belastungsprobe. Wirtschaftliche Schwierigkeiten lassen institutionelle und programmatische Defizite deutlich zutage treten und sorgen für politische Instabilität. Nahezu das gesamte politische Spektrum der Region ist von der derzeitigen Vertrauenskrise betroffen. Im Fokus aber steht das linke Lager.

• Das Amtsenthebungsverfahren gegen Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff hat große Wirkung auf die übrige Region. Für Lateinamerikas Linke stellt der Machtverlust in Brasilien den Kulminationspunkt einer sich in den letzten Jahren verschärfenden Krise dar.

• Die Linke muss sich den Vorwurf gefallen lassen, sich in den vorgefundenen Strukturen eines defizitären politischen Systems eingerichtet und diese damit noch gefestigt zu haben. Allerdings fürchten viele Vertreter_innen des linken Lagers, mit einem selbstkritischen Diskurs über eigene Versäumnisse könnten Gräben aufgerissen werden; in der gegenwärtigen Krise würde damit die Schlagkraft noch weiter zersetzt.

• Nun gilt es aus linker Sicht, an zwei Stellen anzusetzen: zum einen intern, bei der Organisationsentwicklung und der eigenen Programmatik. Zum anderen sind Reformen des politischen und institutionellen Systems von zentraler Bedeutung, damit aus der aktuellen Krise keine Schwächung der Demokratie in der Region wird.


Inhalt

1. Euphorie unter Kommentator_innen des konservativen Lagers
2. Die Vertrauenskrise trifft das gesamte politische Spektrum
3. Die Schwächen des politischen Systems treten deutlich zutage
4. Die Bilanz bisheriger politischer Reformen ist gemischt
5. Kritische Reflexion ist nötig - im Dialog nach innen und nach außen

*

In den letzten Jahren verschwand Lateinamerika weitestgehend aus dem Fokus der internationalen Berichterstattung. Angesichts der globalen Krisen und Konflikte schien die Region politisch beneidenswert stabil. Die wirtschaftlichen Rahmendaten sahen gut aus, es wurden eindrucksvolle Erfolge bei der Bekämpfung der Armut erzielt. Die Situation hat sich seitdem radikal geändert. Insbesondere das Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff in Brasilien und die desolate Situation in Venezuela sorgen für Schlagzeilen. Sie werfen ein Schlaglicht auf die jüngere demokratische Entwicklung Lateinamerikas und die Lage der progressiven und linken Kräfte dort. In der Region häufen sich die krisenhaften Erscheinungen, der Ausgang ist ungewiss. Die lateinamerikanischen Demokratien stehen vor einer Belastungsprobe. Wirtschaftliche Schwierigkeiten lassen institutionelle und programmatische Defizite deutlich zutage treten und sorgen für politische Instabilität. Betroffen sind davon mehrheitlich linke Regierungen. Die Lesarten zu den jüngsten Entwicklungen sind dabei ganz unterschiedlich. Konservative Kommentator_innen preisen die Ereignisse als Aufbruch in eine neue Ära. Das linke Lager dagegen fürchtet nicht nur um die sozialen und gesellschaftlichen Errungenschaften des letzten Jahrzehnts, es betrauert schlechthin den Verlust einer kraftvollen Inspiration linker Ansätze und Überzeugungen weltweit.

In einem ist man sich über die ideologischen Grenzen hinweg einig - wir haben es in Lateinamerika mit dem Ende einer Epoche zu tun. Für die Linke stellt dies eine tiefgreifende Krise dar. Was aber bedeuten die Vorgänge für die demokratische Konsolidierung der Region? Und welche Aufgaben kommen nun auf das linke Lager zu?


1. Euphorie unter Kommentator_innen des konservativen Lagers

Konservative Kommentator_innen feiern die jüngsten Ereignisse in Lateinamerika: den Wahlsieg Mauricio Macris im November in Argentinien nach 12 Jahren Regierung Kirchner, den Triumph der Opposition bei den Parlamentswahlen in Venezuela im Dezember, die Niederlage des bolivianischen Präsidenten Evo Morales bei der Volksabstimmung über eine Verfassungsänderung zur unbegrenzten Wiederwahl von Präsident_in und Vizepräsident_in im Februar und nun die Suspendierung von Dilma Rousseff in Brasilien als Triumph der Demokratie. Gar von einem lateinamerikanischen Frühling (in Anlehnung an den arabischen Frühling) war die Rede. Das Volk entledige sich nun seiner korrupten und populistischen Führer_innen, so die Lesart des konservativ-liberalen Lagers. Diese Interpretation ist hinsichtlich ihrer Annahmen über Ursache und Wirkung irreführend und insbesondere im Falle Brasiliens gefährlich (abgesehen davon, dass es die Akteure des arabischen Frühlings verhöhnt). Richtig daran ist, dass die Korruption in das Zentrum der politischen Debatte zurückgekehrt ist. Doch längst geht es in Brasilien nicht mehr um die Eindämmung der Korruption - ganz im Gegenteil. Es ist tragisch, dass ausgerechnet Dilma Rousseff, die nicht intervenierte, als es an die Aufklärung des Skandals um die halbstaatliche Ölfirma Petrobas ging, die die Justiz arbeiten ließ, nun auf diese Weise entmachtet wird. Verantwortliche der Untersuchung des Korruptionsskandals fürchten, unter der neuen Regierung könne ihre Arbeit nun massiv behindert werden. Würde in Reaktion auf die Krise eine unabhängige Justiz stabilisiert und die Korruption hartnäckig bekämpft werden, so ließe sich tatsächlich vom Beginn einer neuen Ära sprechen. Was wir nun sehen, ist alles andere als der Beginn einer neuen Ära. Die alte politische Klasse hat stattdessen die Kontrolle über das Land wiedererlangt und wird versuchen, auf diese Weise der Strafverfolgung zu entgehen. Die konservative Regierung um Michel Temer hat schon vor ihrer Übernahme deutlich gemacht, dass die Untersuchung der Korruptionsaffäre schnell in den Hintergrund treten könnte. Die bereits erfolgten Ministerrücktritte sprechen hier eine klare Sprache - beide Minister mussten wegen Audiomitschnitten zurücktreten, in denen sie sich kritisch über die Untersuchung der Korruptionsaffäre äußern bzw. deutlich machen, dass die Vereitelung der Untersuchung das zentrale Motiv der Amtsenthebung darstellte. Ohnehin lässt sich die in konservativen Kreisen gern unterstellte größere Anfälligkeit der Linken für Korruption empirisch nicht belegen. Die Linke sicherte dem Staat größeren Einfluss auf Schlüsselsektoren - angesichts der RohstoffBonanza spülte dies Geld in die öffentlichen Kassen und in die staatlichen oder halbstaatlichen Konzerne. Doch auch konservative Regierungen sind anfällig für Korruption, wie Mexiko, Guatemala oder Paraguay zeigen. Außerdem ist die Behauptung, dass der Populismus ein Kennzeichen der politischen Linken in Lateinamerika sei, schlicht falsch. Klientelismus und Populismus sind Bestandteile der politischen Kultur der Region. Auch das konservative Lager ist populistisch und klientelistisch - der Wahlkampf in Peru zeugte jüngst davon.

Liberale Kommentator_innen mögen allen Grund zum Feiern sehen, da sich mit dem Amtsantritt liberal-konservativer oder technokratischer Akteure das allgemeine Geschäftsklima für ausländische Investoren verbessert. Dies aber sollte doch bitte nicht mit demokratischem Fortschritt gleichgesetzt werden. Die Alternation in der Regierung, basierend auf freien und unabhängigen Wahlen, wie in Argentinien geschehen, ist Kernbestandteil demokratischer Systeme. Dies sollte im Übrigen auch die radikale Linke innerhalb und außerhalb der Region anerkennen. Nicht jede Äußerung oder Handlung der konservativen Opposition, nicht jede Niederlage bei Abstimmungen und Wahlen stellt eine Konspiration, einen Putsch dar. Die Vorgänge in Brasilien aber verletzen demokratische Grundwerte. Sie mögen das Geschäftsklima verbessern, für die weitere demokratische Konsolidierung des Landes stellen sie eine schwere Hypothek dar. Was in Brasilien geschieht, hat großen Einfluss auf die übrige Region. Für viele Vertreter_innen des linken Spektrums ist klar, dass nun nichts mehr so sein wird wie zuvor. Die Wahlergebnisse in Argentinien und Venezuela Ende letzten Jahres haben die Linke aufgeschreckt. Was nun aber in Brasilien geschieht, determiniert ganz klar einen Wendepunkt für den Einfluss des linken Lagers in der Region und für die demokratische Konsolidierung. Zum dritten Mal in der jüngeren Vergangenheit Lateinamerikas muss ein linker Präsident unter Zwang sein Amt aufgeben. 2009 wurde der Präsident von Honduras, Manuel Zelaya, durch einen Putsch gestürzt. In Brasilien handelt es sich, wie 2012 in Paraguay, um einen neuerlichen Fall des Missbrauchs institutioneller Mechanismen zur Durchsetzung einer Amtsenthebung. Die Linke in der Region bezeichnet diese Form der Amtsenthebung eines gewählten Präsidenten durch das Parlament als »weichen Putsch«. Zweifelsohne bedeutet das Impeachment eine schwere Bürde für die weitere Entwicklung der Demokratie in Brasilien. Für Lateinamerikas Linke stellt es den Kulminationspunkt einer sich in den letzten Jahren verschärfenden Misere dar. Die Linke befindet sich in einer veritablen Krise, und das gilt in Lateinamerika von Nord nach Süd. Es handelt sich um eine radikale Niederlage historischen Ausmaßes.


2. Die Vertrauenskrise trifft das gesamte politische Spektrum

Allerdings muss die derzeitige Entwicklung in Lateinamerika differenziert betrachtet werden. Die Linke wird abgestraft, weil sie in der Region mehrheitlich in den vergangenen Jahren an der Regierung war und dort die Verantwortung für die bestehenden Missstände übernehmen muss. Nach den Jahren des sozialen Fortschritts und der wirtschaftlichen Prosperität sind die Ansprüche an die Qualität öffentlicher Güter und Dienstleistungen seitens der Bevölkerung sehr gewachsen. Zudem haben sich die verschiedenen, vor etwa zehn Jahren mit großer Euphorie gestarteten Projekte linker Kräfte tatsächlich inhaltlich und personell in den letzten Jahren erschöpft. Ihre Akteure taten sich schwer damit, eine zweite Phase ihres Reformprojekts zu entwerfen. Widersprüche zwischen Rhetorik und Praxis traten deutlich zutage. Darunter hat nicht zuletzt die Bindung der Basis an diese Projekte und die Beziehung zur Zivilgesellschaft stark gelitten. Das neo-extraktivistische Wirtschaftsmodell mit seiner übergroßen Abhängigkeit vom Weltmarkt sorgt angesichts niedriger Rohstoffpreise für leere öffentliche Kassen. Die Bevölkerung ist wegen der daraus resultierenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten schlicht nicht mehr nachsichtig gegenüber Defiziten der Regierungen. Dies gilt insbesondere für die Korruption; in fast allen Ländern der Region werden derzeit Korruptionsfälle aufgedeckt. Die bolivarianische Linke (1) rund um Venezuelas verstorbenen Präsidenten Hugo Chávez (Rafael Correa in Ecuador, Daniel Ortega in Nicaragua, Evo Morales in Bolivien) zeigte zudem von Beginn an autoritäre Tendenzen, die mit einem progressiven Projekt aufklärerischen Charakters nicht vereinbar sind. Das progressive Lager hat diese Entwicklungen nicht hinreichend kritisch begleitet und damit Glaubwürdigkeit verspielt. Die extreme Linke muss sich hier dringend von ihrer angestammten Rhetorik verabschieden, das Wichtigste sei es, dass »das Volk« regiere, und die Nichteinhaltung zentraler demokratischer Standards sei unter dieser Prämisse durchaus legitim.

Dies bedeutet aber nicht, dass sich die Zeiten für linke Politik in Lateinamerika verschlechtert hätten. Auch die konservativen und liberalen Regierungen sehen sich großen Unruhen und Unzufriedenheiten gegenüber, wie die Beispiele Kolumbien und Mexiko zeigen oder auch Guatemala, Paraguay und Honduras. Nahezu das gesamte politische Spektrum der Region ist von der derzeitigen Vertrauenskrise betroffen. Andererseits führen mit Daniel Ortega und Evo Morales zwei linke Präsidenten die Beliebtheitsskala in der Region an (gemeinsam mit Argentiniens Mauricio Macri, dessen Werte aber bereits im Fall sind, und dem soeben wiedergewählten Danilo Medina aus der Dominikanischen Republik). Bei der Überwindung der aktuellen Krise gilt es aus linker Sicht, an zwei Stellen anzusetzen: zum einen intern, bei der Organisationsentwicklung und der eigenen Programmatik. Zum anderen sind Reformen des politischen und institutionellen Gefüges von zentraler Bedeutung, damit aus der aktuellen Krise keine Schwächung der Demokratie in der Region wird.


3. Die Schwächen des politischen Systems treten deutlich zutage

Viele Ursachen der derzeitigen Krisen und Herausforderungen finden sich im politischen System selbst. In Lateinamerika haben wir es mit einem Präsidentialismus bei gleichzeitigem Vielparteiensystem zu tun; strukturelle Defizite sind so bereits vorprogrammiert. Sowohl Präsident_in als auch Legislative ziehen ihre Legitimität direkt aus dem Votum des Wählers. Es fehlen Mechanismen, die bei Konflikten zwischen beiden Instanzen Lösungswege vorgeben. Die Verfassungen sehen einige wirkungsvolle Instrumente zur Durchsetzung präsidialer Projekte vor wie beispielsweise den Erlass von Dekreten. Entsprechend kommen sie in einigen Ländern häufig zum Einsatz; ihr demokratischer Charakter ist aber naturgemäß ausgesprochen schwach ausgeprägt, immerhin werden sie zur Umgehung der Legislative genutzt. Verstärkt wird die Krisenanfälligkeit durch die starren Wahlperioden. Flexible Lösungen wie Misstrauensvoten, die Auflösung des Parlaments oder vorgezogene Neuwahlen sind nicht vorgesehen. In Lateinamerika gibt es verschiedene Ausprägungen zwischen einem starken Präsidentialismus und einem auf Mehrheiten oder Koalitionen angewiesenen Präsidentialismus. In Brasilien beispielsweise haben wir es mit einen KoalitionsPräsidentialismus zu tun. Damit lassen sich durchaus Blockaden des politischen Systems vermeiden; ohne eine stabile Koalition aber ist der Verbleib des Präsidenten oder der Präsidentin gerade in Krisenzeiten nicht gesichert. Insbesondere die linken Regierungen, die gern als sozialdemokratisch charakterisiert wurden, basierten oder basieren auf aus mehreren Parteien bestehenden Koalitionen, so in Brasilien, Uruguay und Chile. Diese Koalitionen verlangen nach einer höheren Kompromissbereitschaft. In Zeiten starker politischer Polarisierung oder sozialer und wirtschaftlicher Turbulenzen sind sie schwerer aufrechtzuerhalten. Brasiliens Parlament ist ausgesprochen zersplittert, die linken Programmparteien, wie die Partido dos Trabalhadores (PT), müssen, wollen sie Mehrheiten formen, gemeinsame Regierungen mit opportunistischen Parteien wie der Partido do Movimento Democrático Brasileiro (PMDB) des jetzigen Präsidenten Temer eingehen. Die Regierungen in Chile und Uruguay setzen sich aus homogeneren Parteien und Bewegungen zusammen; sie sind stabiler (wenngleich in Chile das nach der Diktatur geformte Bündnis zwischen Christdemokraten und Mitte-links-Parteien inzwischen eher fragilen Charakters ist und in Uruguay durchaus inhaltliche Differenzen innerhalb des linken Lagers der Frente Amplio auftreten). Die Qualität dieser Bündnisse ist jedoch eine andere als die der Koalitionen in Brasilien. In einem System wie dem brasilianischen kann die nötige Kompromissbereitschaft schnell zur programmatischen Selbstaufgabe führen. Zudem ist die Käuflichkeit der Politik im System angelegt. Ohne umfassende politische Reformen dürfte sich daran nichts ändern.

In der Region gibt es zudem eine autokratische Tradition, die in delegative Demokratien oder Hyperpräsidentialismus mündet. Beispielhaft sind hier die bolivarianischen Präsidenten Hugo Chávez, Daniel Ortega, Rafael Correa und Evo Morales. In diesen Regierungsformen untersteht die Justiz in aller Regel weitgehend der Kontrolle der Exekutive. Seine extremste Ausprägung findet sich derzeit in Venezuela, wo es inzwischen zu einem »autogolpe« gekommen ist, zu einem Putsch der Exekutive gegen andere Verfassungsorgane, in diesem Fall den von der Opposition beherrschten Kongress. Die Opposition hat die Parlamentswahlen im vergangenen Dezember für sich entscheiden können und verfügt seither über eine Mehrheit im Parlament; ihre Initiativen aber werden durch die regierungstreue Justiz durchgehend blockiert. Die Dekrete und Sondervollmachten des Präsidenten dagegen werden trotz Parlamentsvoten vom Obersten Gerichtshof für wirksam erklärt. Die Justiz agiert hier im Gleichklang mit der Exekutive, selbst wenn dadurch in der Verfassung verankerte Prinzipien verletzt werden.


4. Die Bilanz bisheriger politischer Reformen ist gemischt

In den vergangenen Jahren wurden durchaus zahlreiche politische Reformen durchgeführt. Die Macht der Präsident_innen wurde in einigen Ländern gestärkt, aber auch zuvor marginalisierte Gruppen wurden besser repräsentiert. Die linken Regierungen in Lateinamerika entwickelten darüber hinaus partizipative Elemente fort und galten auch aus diesem Grund über die Region hinaus als basisdemokratische Avantgarde. Dieser Boom direktdemokratischer Mechanismen allerdings ist inzwischen wieder abgeflaut. Die Referenden und Volksbefragungen wurden meist von oben - von der Exekutive - initiiert und gingen in der Praxis nicht selten zulasten der Legislative, sei es als Druckmittel ihr gegenüber oder um sie gleich ganz zu umgehen. Die Praxis der letzten Jahre zeigte zweierlei - zum einen bedarf es einer unabhängigen Justiz, um den Mechanismen der direkten Demokratie zur Durchsetzung zu verhelfen. Ansonsten werden die Ergebnisse gern wegen Fehler im Verfahren für ungültig erklärt. Prominente Beispiele sind die Abstimmung über die Ölbohrungen im Yasuní-Gebiet in Ecuador und ganz aktuell Venezuela. Allerdings zeigt das Beispiel Boliviens, wie es anders gehen kann. Evo Morales hat die Volksabstimmung verloren und das Ergebnis respektiert (allerdings werden derzeit Stimmen laut, die eine Wiederholung des Referendums fordern).

Das Justizsystem ist heute im Allgemeinen institutionell besser aufgestellt als noch vor zehn Jahren. Die Rolle der Justiz in der Region aber ist ambivalent. In einigen Ländern treibt sie die Aufarbeitung von Korruption und Klientelismus voran und schont dabei auch politisch und wirtschaftlich einflussreiche Kräfte nicht. In anderen Ländern stellt sich die Justiz in den Dienst politischer Akteure (auch in Brasilien muss in Teilen davon gesprochen werden) oder dient gar als verlängerter Arm der Exekutive (wie in Venezuela). Schon ist die Sprache von einer »Justizialisierung« der Politik in Lateinamerika. Das Beispiel Guatemala ist hier besonders interessant; im vergangenen Jahr mussten sowohl der Präsident als auch die Vizepräsidentin wegen eines Korruptionsskandals zurücktreten. Die »UN-Kommission gegen die Straffreiheit in Guatemala« hatte mit der guatemaltekischen Staatsanwaltschaft einen bis in die höchsten Spitzen von Staat und Gesellschaft reichenden Korruptionsskandal aufgedeckt. Erst eine internationale Kommission schien in der Lage zu sein, die ausufernde Korruption zu ahnden. Einerseits zeigt dieser Einsatz neue Möglichkeiten auf, verkrustete Strukturen zu durchbrechen. Andererseits steht selbstverständlich eine Debatte über das Verhältnis von nationaler Souveränität (freilich selbst durch die Organisierte Kriminalität bedroht) und dem Kampf gegen die Straffreiheit ins Haus.

Auch das Wahlsystem wurde in den vergangenen Jahren verbessert; Wahlen verlaufen heute in Lateinamerika effizienter und gerechter. Doch die weltweite Krise der repräsentativen Demokratie zeigt sich auch in Lateinamerika. Es herrscht verbreitet große Unzufriedenheit mit ihren zentralen Akteuren, den Parteien und Parlamenten. In den hyperpräsidentialen Systemen kommt den Parteien eine nachrangige Bedeutung zu. Die traditionellen Parteien in den Ländern der Andenregion beispielsweise sind fast gänzlich in die Bedeutungslosigkeit gerutscht. Gegenüber der eigenen politischen Bewegung der Präsidenten gilt: Kritik ist unerwünscht, absolute Loyalität wird eingefordert. Sie kreist um die Lichtgestalt des Präsidenten. Die Folge sind ultrazentrierte Regierungen. Aber auch die institutionalisierten Parteien des Cono Sur haben während ihrer Regierungszeit an Profil verloren - verbreitet schien die Unterscheidung zwischen Partei und Regierung nicht mehr klar, die Funktion der Partei als Impulsgeber, auch als Kritiker der Regierung wurde nicht mehr wahrgenommen. Beispielhaft kann hier Chile genannt werden: Das politische System ist durchaus leistungsfähig, die Entfremdung zwischen den Parteien des gesamten Spektrums und den Bürger_innen aber ist immens, die Politikverdrossenheit groß. Als einzige Ausnahme mag hier Uruguay gelten, wo die Frente Amplio sich eine lebendige und kritische Debattenkultur bewahrte, wo generell das Niveau der politischen Debatten ein anderes ist. Ein Beispiel ist hier der Ausstieg aus dem Dienstleistungsabkommen TISA, der nach eingehender Diskussion von der Basis gegen den Willen der Regierung durchgesetzt wurde. Im Allgemeinen aber gingen die Parteien zu weit in den Institutionen der Regierung auf - die Rede ist von einer »gobernalización de los partidos«. Es mündet ohnehin in eine kritische Situation, wenn die Parteien als Mittler zwischen Gesellschaft und Regierung, als kritisches Korrektiv der Regierung ausfallen. Dramatisch aber wird die Situation, wenn der Verlust der Regierungsfähigkeit droht. In den hyperpräsidentialen Systemen ist der Verlust der Macht schlicht nicht vorgesehen. Dies wird derzeit überdeutlich in Venezuela, wo die Regierung sich unter Verletzung der Verfassung an die Macht klammert. Aber auch in Bolivien und Ecuador ist ein Wechsel der Regierungsverantwortung in den Reihen der politischen Führung nicht vorgesehen. Doch auch Vertreter der PT zeigten sich noch vor einigen Jahren gewiss, auf Jahrzehnte hinaus die Regierung zu stellen. So wenig wie ein Absinken der Rohstoffpreise in den wirtschaftlichen Modellen auch nur als Möglichkeit durchgespielt wurde, so wenig hat man sich auf Zeiten in der Opposition vorbereitet. Dies wiegt umso schwerer angesichts der bereits beschriebenen Orientierungslosigkeit hinsichtlich einer zweiten Reformphase. Die Wiederwahl ist fest eingeplant, die Agenda aber unklar.


5. Kritische Reflexion ist nötig - im Dialog nach innen und nach außen

Wenig überraschend dreht sich die Debatte derzeit in Lateinamerika stark um die Frage, welche Lehren das linke Lager aus den jüngsten Entwicklungen zu ziehen hat. Die Linke muss sich den Vorwurf gefallen lassen, sich in den vorgefundenen Strukturen eines defizitären politischen Systems eingerichtet und diese damit noch gefestigt zu haben. Das gemäßigte Lager hätte größere Anstrengungen unternehmen müssen, politische und gesellschaftliche Allianzen für Reformen im institutionellen Bereich zu schmieden. Das bolivarianische Lager gestaltete die vollzogenen Reformen meist mit Blick auf den eigenen Machterhalt aus. Die Linke hat bestehende Mechanismen bespielt, weil es auf diese Weise einfacher war, an der Macht zu bleiben. Und vermutlich war in vielen Fällen ihr tatsächlicher Handlungsspielraum für tiefgreifende Reformen begrenzt. Die Rhetorik bediente die Utopie, in der Praxis wurde Realpolitik gemacht, die auch in Lateinamerika häufig als alternativlos präsentiert wird. Um wirkliche Transformationen zu realisieren, hätte es einer Veränderung der politischen Kultur bedurft. Eine solche ist nicht von heute auf morgen durchzusetzen. Doch zumindest hätten die linken Kräfte den öffentlichen Diskurs auf die nötigen Reformen lenken sollen. Unabdingbar aber für eine solche Änderung der politischen Kultur ist der kritische Dialog mit der eigenen Basis.

Dringend nötig sind zudem institutionelle Reformen zur Stärkung der Parteien und zur Neuregelung der Finanzierung von Parteien und Wahlkämpfen. Dazu bedarf es erst einmal einer öffentlichen Debatte über die Notwendigkeit einer solchen Finanzierung, die Parteien unabhängig von Unternehmensspenden und dunklen Kanälen macht. Bislang steht die Bevölkerung einer öffentlichen Finanzierung von Parteien und Wahlkämpfen meist kritisch gegenüber. Der Vertrauensverlust gegenüber den Parteien ist natürlich für die Debatte nicht hilfreich. Und doch, dieses Thema muss ins Zentrum der gesellschaftlichen Debatte gerückt werden. Es bräuchte große, überparteiliche, politische Koalitionen zur Durchsetzung struktureller Reformen. Dafür freilich ist es wenig hilfreich, dass die politische Debatte derzeit sehr polarisiert ist, das Klima regelrecht vergiftet. Es besteht die Gefahr, dass sich die Einstellung zur repräsentativen Demokratie ändert. Das Vertrauen in die Parteien ist in Lateinamerika auf einem Tiefstand. So äußern ca. 60 Prozent der brasilianischen Jugendlichen in Umfragen, dass es der Demokratie ohne Parteien besser gehen würde. Positiv ist hier fraglos, dass das Vertrauen in die Demokratie als beste Regierungsform weitgehend ungebrochen ist. Doch der Prestigeverlust von Parteien und Parlamenten ist besorgniserregend. Auch deswegen ist eine offene und selbstkritische Auseinandersetzung mit eigenen Versäumnissen und Defiziten nun so entscheidend. Noch ist offen, wie die demokratischen Institutionen aus der aktuellen Situation hervorgehen werden (beschädigt aber wurden sie bereits). Das linke Lager sollte ein wichtiger und glaubwürdiger Akteur bei der Beantwortung dieser Frage sein. Dazu müsste die Linke nun in Klausur gehen. Dazu aber scheint sie größtenteils (noch) nicht in der Lage. Allerdings fürchten viele Vertreter_innen des linken Lagers, mit einem selbstkritischen Diskurs über eigene Versäumnisse könnten Gräben aufgerissen werden, was die Schlagkraft noch weiter zersetzen würde. Und dies in Zeiten, in denen die Linke in Lateinamerika unter Druck steht wie schon lange nicht mehr. Und doch gilt es nun, an diesem Punkt anzusetzen. Die Linke kann auch aus der Defensive heraus den Diskurs und die politische Kultur beeinflussen. Dafür ist eine selbstkritische Auseinandersetzung mit den eigenen Versäumnissen und Fehlern nötig. Dazu zählt nicht zuletzt eine kritische Aufarbeitung der Haltung zur Korruption in den eigenen Reihen. In der nun anstehenden Phase der programmatischen und personellen Erneuerung müssten diese Defizite analysiert werden. Eine starke Strömung innerhalb des linken Lagers vertritt die Position, dass die Linke im wirtschafts- und sozialpolitischen Bereich nicht radikal genug agiere und damit zu ihrem eigenen Niedergang beitrage. Damit lässt sich in der Tat die eher moderate als tatkräftige Unterstützung sozialer Bewegungen für die bedrängten linken Regierungen erklären. Und tatsächlich wurde die bestehende Vermögensverteilung nicht wirklich angetastet. Allerdings lässt diese Interpretation die bestehenden Machtverhältnisse außer Acht. Wenn es denn die Möglichkeiten für eine profunde Reform des Wirtschaftssystems gegeben hätte (wie es viele Linke heute sehen, wenn sie die Nicht-Durchsetzung ebendieser Reformen als Ursache der jetzigen Misere ausmachen), warum hätte es dann nicht möglich sein sollen, die Verkrustungen des politischen Systems zu thematisieren und auf diesem Feld tiefgreifende Reformen anzustreben? Interessanterweise dreht sich die derzeitige Debatte um einen radikaleren Wirtschaftskurs kaum um das zentrale Instrument der Umverteilung - ein progressives Steuersystem. Würde sich die Diskussion nun diesem Punkt zuwenden, so wäre noch etwas gewonnen. Stattdessen wird Revolutionsromantik der alten Schule bedient. Konkrete Ansätze zur Verbesserung der institutionellen unsozialen Situation aber fehlen.

Die bürgerlichen Kräfte der Region taugen nicht als Hoffnungsträger. Häufig eint sie lediglich die Opposition gegen die Linke, eine programmatische Erneuerung des politischen Systems ist von ihnen sicher nicht zu erwarten. Sie erfreuen die ausländischen Anleger, dies ohne Zweifel. Argentiniens Präsident Mauricio Macri ist als Hoffnungsträger für die Rechte der Region angetreten - allerdings zeigt sich bereits nach wenigen Monaten, dass es naiver Irrglaube ist, anzunehmen, nach einem Regierungswechsel lösten sich infolge des gestiegenen Vertrauens ausländischer Anleger die wirtschaftlichen Probleme in Luft auf. Die Anleger lassen auf sich warten, währenddessen verschlechtern sich soziale Indikatoren. Macri nutzt zudem dasselbe Instrumentarium wie seine Vorgängerin, umgeht mit Dekreten das Votum des Kongresses und gebraucht zudem, anders als angekündigt, seine Macht durchaus für eine Umverteilung von unten nach oben. Sein Ton ist ein anderer, er setzt auf Dialog und rhetorische Mäßigung und unterscheidet sich damit angenehm von der schroffen Arroganz seiner Vorgängerin. Nach politischen Strukturreformen aber sieht es nicht aus. Und angesichts steigender Arbeitslosigkeit, einer weiterhin hohen Inflation und anschwellender Proteste infolge der Kürzung öffentlicher Mittel dürften ihm unruhige Monate bevorstehen. Die Linke in der Region hat während ihrer Amtszeit auf Kompromisse mit der Oligarchie gesetzt - es bleibt abzuwarten, ob die Rechte auf Kompromisse mit den sozial Benachteiligten setzen wird. Es wurde in den letzten Jahren viel über die Rolle der Mittelschicht bei den Protesten gegenüber den Regierungen diskutiert. Seit 2002 hat sich die Zahl der zur Mittelschicht zählenden Menschen verdoppelt, was ein Zeichen des sozialen Fortschritts der vergangenen Dekade darstellt. Doch wie in Europa oder den USA, so ist ihre soziale Verankerung auch in Lateinamerika fragil. Doch es sind jetzt insbesondere die ärmeren Schichten, denen harte Zeiten bevorstehen. Es wird sich schon in naher Zukunft zeigen, dass es - bei aller Enttäuschung - eben doch einen Unterschied macht, ob das linke Lager an der Macht ist oder die Liberal-Konservativen regieren.


Anmerkung

(1.) Gerade die extreme Linke bezieht sich gerne auf den südamerikanischen Freiheitskämpfer Simón Bolívar.


Über die Autorin

Claudia Detsch ist Direktorin der Zeitschrift Nueva Sociedad der Friedrich-Ebert-Stiftung mit Sitz in Buenos Aires, Argentinien.


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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Juli 2016

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