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LATEINAMERIKA/1627: Brasilien - Verletzung indigener Rechte (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 136, 2/16

Verletzung indigener Rechte
Indigene Spiele und Politik im Olympialand Brasilien

von Uta Grunert


In Brasilien leben mehr als 300 indigene Völker. Sie bilden eine Minderheit in dem kolonial geprägten Land, dessen Bevölkerungsvielfalt auf Indigene, afrikanische Sklav_innen und Europäer_innen zurückgeht. Ihr Kampf ist in der Regel kein sportlicher, sondern ein überlebensnotwendiger. Dabei geht es um den Anspruch auf eigenes Land, das ihnen nach dem Gesetz zusteht, um das sie aber mit anderen Interessengruppen kämpfen müssen.


"EM 2015 - somos todos indígenas"

"2015 sind wir alle Indigene", so lautete das Motto für die Olympischen Spiele der indigenen Völker, die vom 23. Oktober bis 1. November 2015 in Palmas im Bundesstaat Tocantíns stattfanden. Als ob die Kämpfe der Indigenen um die Anerkennung und Umsetzung ihrer Rechte mit diesen einfachen Worten zu umschreiben seien. Wie reagieren Minderheitengruppen und soziale Bewegungen auf ein Großereignis, das für multikulturelle Folklore prädestiniert zu sein scheint? Ist nicht zu befürchten, dass die politische Klasse in Brasilien geschönte Bilder verbreitet, um über die wahren Probleme der indigenen Bevölkerung hinwegzutäuschen?

Von den ursprünglich erwarteten 46 indigenen Gruppen konnten am Ende lediglich 26 an den Spielen teilnehmen. Die Übrigen fanden keine Sponsor_innen und mussten ihre Teilnahme wieder absagen. Die Infrastrukturmaßnahmen, wie Neubau von Schwimmbädern oder Verbesserungen an Unterkünften und Kantinen, scheinen nicht nachhaltig zu sein, da sie in billigster Bauweise errichtet wurden. Polizeikräfte, die die Sicherheit des Events gewährleisteten, waren alte Bekannte. Ihnen waren Indigene und Aktivist_innen bei Landbesetzungen und anderen Konflikten bereits begegnet.


Der Kampf um Land

Egon Heck vom Missionsrat der Indigenen (CIMI - Conselho Indigenista Missionário) findet, dass der brasilianische Staat auf dem Weg zu den Olympischen Spielen die Rechte der indigenen Bevölkerung zunehmend verletzt. In den vergangenen Jahren stieg die Zahl der Mordopfer unter indigenen Anführer_innen auf inzwischen Hunderte.

Der Kongress hat im vergangenen Jahr mit immer neuen Initiativen die verfassungsrechtliche Autarkie der indigenen Bevölkerung über ihr Land und die darin vorhandenen Ressourcen angegriffen. Gebietsausweisungen werden von den Behörden gezielt verschleppt. Bereits zugesicherte territoriale Rechte sollen rückwirkend erneut gelockert werden, um Land den Kapitalinteressen von Bergbau und Agrarindustrie zugänglich zu machen. Zuletzt waren der Vorschlag zur Verfassungsänderung "Proposta de Emenda Constitucional PEC 215/2000" und das Gesetzesvorhaben "Projeto de Lei 1610/96" die politischen Instrumente dafür. Anfang Oktober 2015 besetzten Indigene und Angehörige traditioneller Gemeinschaften den Plenarsaal der Abgeordnetenkammer in Brasilia, um gegen den Vorschlag zur Verfassungsänderung zu protestieren.

Laut Heck wurde Brasilien seiner demokratischen Verantwortung gegenüber der indigenen Bevölkerung historisch in zwei Momenten gerecht: 1973 mit dem "Estatuto do Índio" und 1988 mit der Bundesverfassung. Allerdings verzögern die politischen Vertreter_innen bis heute die Umsetzung der Rechte von damals. Luiz Inácio Lula da Silva, der Amtsvorgänger von Dilma Rousseff, hatte noch zugesichert, sich für die Abgrenzung und damit juristische Absicherung indigener Territorien einsetzen zu wollen. Getan hat er wenig, die jetzige Präsidentin Dilma Rousseff noch viel weniger.


Gewalt gegen Indigene

Der Missionsrat der Indigenen CIMI enthüllt in seinem jährlichen Bericht "Violência contra os povos indígenas no Brasil" alarmierende Zahlen, strukturellen Rassismus und berichtet über viele Einzelschicksale. Die Gewalt gegen Indigene hat eine wesentliche Ursache: die Auseinandersetzungen um den Rechtsanspruch auf eigene Territorien. Gleichzeitig ist die Umsetzung des Landanspruchs wesentlich für das Überleben der indigenen Kultur in Brasilien.

Die tödliche Gewalt gegen Indigene ist im Vergleich zum Vorjahr um 37,1 % angestiegen. 2014 wurden 138 Indigene Opfer tödlicher Gewalt. Der größte Anteil von ihnen gehörte zu den Guarani-Kaiowá, der zweitgrößten indigenen Gruppe Brasiliens, die unter äußerst prekären Bedingungen in provisorischen Lagern in Mato Grosso do Sul leben. Würde ihr Land ausgewiesen, wären es zwei Prozent der Fläche des Bundesstaates.

In 84 Fällen wurde in indigenes Land eingefallen, um illegal Rohstoffe auszubeuten. 135 Indigene begingen Selbstmord. 785 Kinder im Alter bis zu fünf Jahren starben. In 118 Fällen sind Demarkierungen und andere Regelungen, die indigenes Land betreffen, verzögert oder gar nicht umgesetzt worden - mehr als eine Verdoppelung gegenüber 2013. An der Spitze lag hierbei der Bundesstaat Pará, in dem das umstrittene Wasserkraftwerk Belo Monte gebaut worden ist. Der Bericht erkennt generell einen Zusammenhang zwischen staatlicher Verzögerungstaktik bei der Demarkierung indigenen Landes und dem Bau von Wasserkraftwerken.

Neben Morden hält der Bericht auch Mord- und Gewaltdrohungen fest. So erhielten indigene Führer_innen der Ka'apor wiederholt Morddrohungen, weil sie eigenständig die Überwachung und Kontrolle ihres Territoriums übernommen hatten. Indigene Führer_innen der Munduruku, die in der Stadt Jacareacanga an Protesten für eine Verbesserung der indigenen Schulbildung teilnahmen, wurden von Ortsansässigen bedroht. Sie ließen sich nicht abbringen und erzielten einen Etappensieg in ihren Kampf um Land: Am 19. April 2016, am Tag des Kampfes der Indigenen Völker Brasiliens, publizierte die Indigenenbehörde FUNAI den Anerkennungsbericht des demarkierten Landes Sawre Muybu!


Sportgroßereignisse und Indigene

Im Zusammenhang mit den Protesten im Vorfeld der WM 2014 kam es zu gewalttätigen Übergriffen durch die Polizei - auch gegen Indigene: zu rassistisch und kulturell diskriminierenden Übergriffen, aber auch zu sexueller Gewalt.

Brasilien macht derzeit mit sportlichen Großereignissen, Korruptionsskandalen und politischen Umbrüchen auf sich aufmerksam. Die Veränderungen der politischen Rahmenbedingungen haben gerade einen konservativen Staatschef mit einer wahrscheinlich noch neoliberaleren Wirtschaftspolitik, der den Ausweg aus der aktuellen Wirtschaftskrise finden soll, an die Regierungsspitze gebracht. Unternehmer_innen und Vertreter_innen des Agrobusiness sehen einem Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff mit Freude entgegen. Dies birgt für die indigene Bevölkerung die Gefahr, dass ihr Kampf ums Überleben noch härter wird.


Zur Autorin:
Uta Grunert ist beim Verein Kooperation Brasilien (KoBra) im Koordinationsteam tätig. Sie lebt in Freiburg, Deutschland.

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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 136, 2/2016, S. 18
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. September 2016

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