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LATEINAMERIKA/1667: In Kuba bleibt alles anders (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Internationale Politikanalyse

In Kuba bleibt alles anders

von Sarah Ganter, Februar 2017


• Mit der Ankündigung einer Normalisierung der Beziehungen zwischen Kuba und den USA am 17. Dezember 2014 (17D) hat sich auf der Insel alles und nichts verändert. Doch bei aller Euphorie über das Ende der Eiszeit wurde die Hoffnung auf ein baldiges Ende der Sanktionen und eine beschleunigende Auswirkung der außenpolitischen Veränderungen auf den Reformprozess und die innenpolitischen Entwicklungen enttäuscht.

• Mit dem Rechtsruck in Lateinamerika und den politischen Verwerfungen in Brasilien und Venezuela entfällt für Kuba die Unterstützung wichtiger regionaler Partner. Fortschritte gibt es hingegen in den Beziehungen zu Europa und Asien. Das neue Abkommen mit der EU über politischen Dialog und Zusammenarbeit wurde am 12. Dezember 2016 in Brüssel unterzeichnet. Auch China und Japan haben ihre Beziehungen zu Kuba intensiviert.

• Auch im Zuge der Normalisierung der Beziehungen zwischen den USA und Kuba scheint es den Regierungen auf beiden Seiten nicht zu gelingen, alte Handlungsmuster und ideologische Reflexe hinter sich zu lassen. Aufgeweicht wird die alte Freund-Feind-Dichotomie zwischen »Offiziellen« und »Dissident_innen« hingegen zunehmend in den zivilgesellschaftlichen Debatten. In der neuen kubanischen Blogosphäre vermischen sich die Perspektiven von der Insel längst mit denen der Exilkubaner_innen.

• Ohne Zweifel sind viele Probleme des tropischen Sozialismus hausgemacht und das Ergebnis von Missmanagement, mangelndem politischem Willen oder dem Streben nach Machterhalt. Doch auch die Wirtschaftsblockade der USA bleibt einer der zentralen Gründe für den wirtschaftlichen Stillstand im Land. Erst nach einem Ende der Blockade liegt die Zukunft Kubas bei den Kubaner_innen und erst dann wird sich zeigen, wie es um die politische und wirtschaftliche Nachhaltigkeit des tropischen Sozialismus unter fairen äußeren Bedingungen bestellt ist.


Inhalt

Qué bola, Trump?
Partner in der Region, Europa und Asien
Konsens über den Dissens: Menschenrechte und Zivilgesellschaft
Pause statt Eile: von der Aktualisierung zum Reformstau
Abschied von Fidel auf dem VII. Parteitag
Einbruch des Wirtschaftswachstums
Investoren kamen, sahen ... und gingen wieder
Währungsreform - war da was?
Legalisierung von privaten Kleinunternehmen?
Gewinner_innen und Verlierer_innen
Sozialismus 2030?

*

Kuba hat Abschied genommen von Fidel Castro, dem charismatischen und umstrittenen Comandante, der ein halbes Jahrhundert die Geschicke des Karibikstaates bestimmte. Wie kein anderer stand seine Person im Guten wie im Schlechten für das Projekt der kubanischen Revolution. Er galt weltweit als Ikone der Linken in der Politik des 20. Jahrhunderts und war gleichzeitig bei seinen Gegner_innen erbittert verhasst. Sein Tod markiert das symbolische Ende einer Ära, hat allerdings kaum politische Bedeutung. Bereits vor zehn Jahren hatte er die Regierungsgeschäfte an seinen jüngeren Bruder Raúl Castro übertragen. Dessen Regierung hat in der Folge einen umfassenden Reformkurs beschritten. Mit den Worten »Entweder wir ändern uns oder wir gehen unter« forderte Raúl dazu auf, den tropischen Sozialismus einem reality check zu unterziehen. Doch der Versuch, die sozialistische Planwirtschaft durch die beschränkte Einführung von Marktelementen zukunftsfähig zu machen, ist mit enormen Herausforderungen verbunden. Gleichzeitig dürfte das Ende der ObamaAdministration größere politische Implikationen haben als der Tod Fidels.

Mit der Ankündigung einer Normalisierung der Beziehungen zwischen Kuba und den USA am 17. Dezember 2014 (17D) hat sich auf der Insel alles und nichts verändert. Dem historischen Schritt folgten die Eröffnung von Botschaften in Havanna und Washington sowie eine Reihe von weiteren Maßnahmen, um das Ende der Eiszeit zu besiegeln. Im März 2016 besuchte Barack Obama schließlich selbst als erster amtierender US-Präsident nach fast neun Jahrzehnten Havanna. Der Beginn der Normalisierung bescherte der Insel einen nie dagewesenen Besucheransturm. Die Touristenzahlen schnellten in die Höhe, auch die der US-Besucher_innen, die aufgrund des Embargos die Insel zunächst weiterhin nur im Rahmen von Bildungsreisen besuchen durften. Hochrangige Gäste gaben sich die Klinke in die Hand, unter ihnen zahlreiche Staatsoberhäupter und Minister_innen mit Unternehmerdelegationen im Schlepptau. Auch der Papst, der eine wichtige Mediationsrolle in den Geheimverhandlungen im Vorlauf des 17D innehatte, besuchte Kuba und internationale Größen aus dem Kunst- und Kulturbetrieb bespielen zunehmend die Bühnen Havannas.

Die Annäherung der beiden ungleichen Nachbarn hat in Kuba wie im Ausland große Erwartungen geschürt, und Obama nutzte seine präsidialen Vollmachten, um die Wirtschaftssanktionen gegen den sozialistischen Staat zu lockern. Doch bei aller Euphorie über das Ende der Eiszeit wurde die Hoffnung auf ein baldiges Ende der Sanktionen und eine beschleunigende Auswirkung der außenpolitischen Veränderungen auf den Reformprozess und die innenpolitischen Entwicklungen enttäuscht. Auch nach dem historischen Besuch Barack Obamas bleibt die US-Wirtschaftsblockade in Kraft; und mit Donald Trump im Weißen Haus ist das Gefängnis in Guantanamo von einer Schließung weiter entfernt denn je. Auch der von Raúl Castro initiierte Reformprozess ist im Zuge des Kuba-Booms eher ins Stocken geraten. Der VII. Parteikongress im April 2016 war politisch vor allem von personeller Kontinuität und Intransparenz geprägt und brachte nicht die dringend erwarteten Antworten auf die Fragen nach einer langfristigen Gestaltung des politischen Systems und Entwicklungsmodells.

2018 wird Raúl den Stab des Präsidentenamts weiterreichen. Bis dahin soll eine Verfassungsreform auf den Weg gebracht werden, um den Veränderungen im Land Rechnung zu tragen. Doch während in einem landesweiten Konsultationsprozess über die Zukunft des Sozialismus bis 2030 diskutiert wurde, machte sich Katerstimmung breit. Die soziale Schere ist in den letzten Jahren sichtbar auseinandergegangen und die Hoffnungen schwinden, dass sich die prekären Lebensbedingungen großer Teile der Bevölkerung in absehbarer Zeit verbessern werden. Zwar boomt der Tourismussektor, dennoch wird für 2016 inzwischen offiziell von einem negativen Wirtschaftswachstum ausgegangen.(1)

Vor allem die Krise im Bruderstaat Venezuela, aber auch der Beginn der regelmäßigen Rückzahlung der kubanischen Auslandsschulden haben zu einer Verschärfung der Liquiditätsprobleme geführt und erschweren dringend benötigte Investitionen in Infrastruktur und wirtschaftliche Innovation. Die Rationierung in der Energieversorgung im Sommer 2016 weckte böse Erinnerungen an die periodo especial, die traumatische Wirtschaftskrise nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Angesichts der politischen und wirtschaftlichen Stagnation suchen viele Kubaner_innen ihr Glück in privaten Projekten oder nutzen die neue Reisefreiheit, um ins Ausland zu gehen.


Qué bola, Trump?

Die Veränderungen in den Beziehungen zu den USA sind in der Summe hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Der zukünftige US-Kurs zum Ende der Regierungszeit Obamas bleibt somit ungewiss. Im Zuge der Normalisierung waren zunächst politische Gefangene ausgetauscht worden, darunter die in Kuba verehrten »Fünf Helden«, die in den USA unter dem Vorwurf der Spionagetätigkeit zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden waren, sowie der US-Bürger Alan Gross, der ebenfalls wegen Spionage in Kuba inhaftiert war. Infolgedessen wurde Kuba von der Liste der »Schurkenstaaten« gestrichen und schließlich wurden Botschaften in Havanna und Washington eröffnet. Aufgrund des Widerstands im US-Senat konnte jedoch noch kein US-Botschafter entsandt werden.

Sukzessive hoben die USA die Reisebeschränkungen auf, die bislang für ihre eigenen Bürger_innen galten. Seit kurzem können US-Amerikaner_innen daher auch privat auf die Insel reisen. Die Höhe der jährlichen Summe an Rücküberweisungen an Familienangehörige wurde deutlich angehoben, die Beschränkungen für den Schiffsverkehr gelockert und der direkte Flugverkehr wieder aufgenommen. In Zukunft sollen täglich 120 Direktflüge aus den USA auf der Insel landen; allerdings arbeiten die Flughäfen Kubas schon längst jenseits ihrer Kapazitätsgrenzen und ein weiterer Ausbau setzt umfangreiche Investitionen voraus. Im Kontext des Obama-Besuchs wurde auch der direkte Postversand mit den USA wieder aufgenommen. Die gleichzeitige Ankündigung, dass der US-Dollar zukünftig für internationale Transaktionen mit Kuba nutzbar werde, wurde bis dato allerdings nicht umgesetzt.

Die Obama-Administration setzte klar auf einen Wandel durch Annäherung und hat die Zukunft des Landes in die Hände des kubanischen Volkes gelegt, dabei aber zunächst keinen Zweifel daran gelassen, dass mit dem politischen Kurswechsel keine Abkehr vom Ziel eines Regimewechsels einherginge.(2) Vor diesem Hintergrund sorgte Obamas Charmeoffensive auch für erneutes Misstrauen und Verunsicherung bei den kubanischen Autoritäten.(3) Und möglicherweise ist eine solche Umarmungsstrategie tatsächlich das effektivere Mittel zum alten Zweck. In Kombination mit der Intensivierung des Austauschs zwischen Insel- und US-Kubaner_innen könnte sie eine größere Destabilisierungswirkung für den tropischen Sozialismus entfalten als die konfrontativen und repressiven Maßnahmen früherer US-Regierungen. Nachdem sich das historische Zeitfenster von Obamas Präsidentschaft geschlossen hat, wird sich zeigen, welche Priorität der Kubapolitik in der zukünftigen US-Agenda eingeräumt und ob das Embargo, wie von Obama angekündigt, tatsächlich fallen wird.

Donald Trump hatte im Wahlkampf angekündigt, die Normalisierung rückgängig machen zu wollen, und hat mit General John Kelly als Heimatschutzminister und Reince Priebus als Chief of Staff im Weißen Haus kubakritische Hardliner in seinen engsten Kreis berufen. Die kubanische Regierung reagierte auf Trumps Wahlsieg ihrerseits mit landesweiten Truppenübungen, um auf »feindliche Aktionen« vorbereitet zu sein - eine Maßnahme, die erstmals nach der Wahl Ronald Reagans zum US-Präsidenten ergriffen wurde. Bei aller Unberechenbarkeit der zukünftigen US-Regierung scheint der Beginn einer erneuten Eiszeit in den Beziehungen ein naheliegendes Szenario.


Partner in der Region, Europa und Asien

Auch in der Region sind die Aussichten für Kuba weniger rosig als noch vor einem Jahr. Die lateinamerikanischen Nachbarn hatten sich im letzten Jahrzehnt geschlossen hinter Havanna gestellt. Die Regierung Raúl Castros war Gastgeber des zweiten CELAC-Gipfels und durfte nicht zuletzt aufgrund des unermüdlichen Drängens der befreundeten Regierungen in der Region 2015 in Panama erstmalig wieder am OAS-Gipfel teilnehmen. Auch die Schlüsselrolle der kubanischen Regierung als Mediator in den Friedensverhandlungen zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC brachte Kuba, trotz des negativen Ausgangs des Referendums, in der Region und darüber hinaus große Anerkennung ein. Doch mit dem Rechtsruck in Lateinamerika und den politischen Verwerfungen in Brasilien und Venezuela fällt nun die Unterstützung wichtiger regionaler Partner weg.

Fortschritte gibt es hingegen in den Beziehungen zu Europa und Asien. Der Beginn der Normalisierung mit den USA war ein wichtiger Impuls für die Verhandlungen eines Abkommens mit der Europäischen Union, um den »Gemeinsamen Standpunkt« (posición comun) zu ersetzen. Dieser hatte in den letzten beiden Dekaden die Beziehungen blockiert, indem er Verbesserungen in den Beziehungen an Fortschritte in der Menschenrechtslage und Marktöffnung knüpfte. Das neue Abkommen über politischen Dialog und Zusammenarbeit wurde am 12. Dezember 2016 in Brüssel von der Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik Federica Mogherini und ihrem kubanischen Amtskollegen Bruno Rodríguez Parrilla unterzeichnet.

Auch China und Japan haben ihre Beziehungen zu Kuba intensiviert. Im Rahmen des Besuchs des chinesischen Premierministers Li Keqiang wurden im September 2016 zwölf Abkommen unterzeichnet, um die Kooperation in den strategischen Bereichen Erneuerbare Energien, medizinische Forschung, Informatik, Industriepolitik, Zollsicherheit, Bank- und Finanzwesen sowie im Umweltschutz zu verbessern. Russland hatte dem Inselstaat bereits im Sommer 2014 90 Prozent der Schulden aus Sowjetzeiten erlassen und angekündigt, den Rest für Investitionen in Kuba zu nutzen. Auch in den Verhandlungen mit den Gläubigerstaaten des Pariser Clubs konnte ein außenpolitischer Erfolg erzielt werden, der in einem vollständigen Erlass der seit den 1980er Jahren aufgelaufenen Zinsen resultierte. Hauptgläubiger sind Frankreich, Spanien, Japan und Italien, zudem Australien, Österreich, Belgien, Kanada, Dänemark, Finnland, die Schweiz und Großbritannien. Kuba schuldete dem Pariser Club 10.081,6 Millionen Euro von denen 7.731,3 Millionen Zinsen waren, die jetzt erlassen wurden. Die kubanische Regierung hat sich im Gegenzug zur Rückzahlung der verbleibenden ursprünglichen Schuldensumme von 2.364,9 Millionen Euro innerhalb der nächsten 18 Jahre verpflichtet.


Konsens über den Dissens: Menschenrechte und Zivilgesellschaft

Obwohl die kubanische Regierung immer wieder ihre Bereitschaft unterstreicht, auch über kritische Punkte zu verhandeln, solange die Gespräche in einer Atmosphäre des wechselseitigen Respekts stattfinden, bleiben Menschenrechte ein sensibles Thema in den Beziehungen zu den USA und der EU. Im Dialog über das Abkommen mit der EU ist es den Verhandlungspartner_innen zwar gelungen, sich auf ein Menschenrechtskapitel zu einigen, allerdings bemängeln Kritiker_innen, dass der Text keine klaren Konsequenzen im Falle von Verstößen vorsieht.

In den Beziehungen zu den USA ist das Thema weiterhin mit Misstrauen behaftet. Zu oft wurden Menschenrechte zur Rechtfertigung anderer politischer Zwecke oder für interventionistische Politik gegenüber der Insel instrumentalisiert. Bis jetzt konnte vor allem Einigkeit über die grundsätzliche Uneinigkeit in der Auslegung und Schwerpunktsetzung der Rechte erzielt werden. Die USA stellen zivile und politische Rechte in den Vordergrund, während die kubanische Regierung wirtschaftliche und soziale priorisiert. Ohne Frage werden menschenrechtliche Fragestellungen auch in Zukunft ein zentraler Punkt in der Auseinandersetzung zwischen den beiden ungleichen Nachbarn bleiben.

Während sich die kubanische Regierung an der Einrichtung des neuen Büros für Demokratie, Menschenrechte und Arbeitsbeziehungen (DRL) im U.S. Department of State stört, da sie darin die Fortführung des altbekannten subversiven Ansatzes sieht,(4) berichtet die internationale Presse über erneute Menschenrechtsverletzungen auf der Insel. So äußerte sich im Oktober 2016 die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte besorgt über die repressiven Maßnahmen, die von den kubanischen Autoritäten gegenüber Mitgliedern der nichtstaatlichen Rechtsberatungsorganisation Cubalex ergriffen wurden, nachdem diese einen Bericht über die Meinungsfreiheit in Kuba vor den Vereinten Nationen vorgestellt hatten.(5) Auch die erneute Inhaftierung des Graffiti-Künstlers Danilo Maldonado, auch bekannt als El Sexto, sorgte im Ausland für Befremden. Dieser hatte nach Bekanntwerden des Todes Fidel Castros die Fassaden mehrerer öffentlicher Gebäude mit dem Schriftzug »Se fue« (»Er ist weg«) versehen. Maldonado wurde erst im Herbst 2015 nach zehn Monaten aus der Haft entlassen, nachdem er 2014 für eine künstlerische Performance verhaftet worden war, bei der er die Rücken zweier lebender Ferkel mit den Namen »Raúl« und »Fidel« besprüht hatte.

Auch im Zuge der Normalisierung der Beziehungen scheint es den Regierungen auf beiden Seiten nicht zu gelingen, alte Handlungsmuster und ideologische Reflexe hinter sich zu lassen. Aufgeweicht wird die alte Freund-Feind-Dichotomie zwischen »Offiziellen« und »Dissidenten« hingegen zunehmend in den zivilgesellschaftlichen Debatten. In der neuen kubanischen Blogosphäre vermischen sich die Perspektiven von der Insel längst mit denen der Exilkubaner_innen. Dabei entstehen immer mehr Diskussionsforen und virtuelle Ideenwerkstätten, die sich weder in dem einen noch in dem anderen Extrem verorten, sondern vor allem an kritischen, aber konstruktiven Debatten über die Zukunft des Landes interessiert sind.


Pause statt Eile: von der Aktualisierung zum Reformstau

Auf den von Raúl Castro initiierten Reformprozess entfalten die außenpolitischen Entwicklungen seit dem 17D bislang keine katalysierende Wirkung. Vielmehr scheinen sie ihn zunächst überrollt zu haben. Nachdem der VI. Parteitag 2011 umfassende »Leitlinien für die Aktualisierung des kubanischen Wirtschafts- und Sozialmodells« beschlossen hatte, wurde in den Folgejahren eine Reihe von Reformen verabschiedet, die darauf abzielten, den tropischen Sozialismus durch die beschränkte Einführung von Marktmechanismen zukunftsfähig zu machen. Das Steuergesetz, das Arbeitsgesetz und das Gesetz für ausländische Investitionen wurden reformiert. Neben den Agrargenossenschaften wurden Service- und Produktionsgenossenschaften zugelassen und die Liste der Berufe erweitert, die von den neuen Selbstständigen, den sogenannten Cuentapropistas (»die auf eigene Rechnung arbeiten«) ausgeübt werden dürfen. Seit 2012 ist zudem der beschränkte Kauf und Verkauf von Wohnimmobilien unter Kubaner_innen erlaubt, was zu einem regelrechten Renovierungsboom geführt hat. Einschneidende Veränderungen brachte auch die Anfang 2013 erlassene Reisefreiheit, die die bis dahin existierenden Beschränkungen für Reisen ins Ausland aufhob.

Auch wenn die Veränderungen für viele Kritiker_innen nicht schnell genug gingen und in der Praxis viele Fragen offen ließen, wurde doch - wie von Raúl Castro verkündet - »ohne Pause, aber auch ohne Eile« (»sin pausa pero sin prisa«) an der Umsetzung der Leitlinien gearbeitet. Mit der Annäherung zwischen Kuba und den USA ist der Prozess jedoch ins Stocken geraten. Die schon vor längerer Zeit angekündigte Währungsreform, welche die beiden Parallelwährungen des Landes zusammenführen sollte, scheint auf unbestimmte Zeit verschoben; ebenso ein Gesetz, das die Rolle in- und ausländischer Nichtregierungsorganisationen definieren sollte. Das Fehlen eines funktionierenden Kreditwesens behindert die Entwicklung im neuen Privatsektor, und viele der städtischen Genossenschaften haben Startschwierigkeiten, weil sie sich nicht als freiwillige Kollektive zusammengefunden haben, sondern ehemalige Staatsbetriebe sind, denen die solidarische Wirtschaftsform oft von einem Tag auf den anderen von höherer Stelle verordnet wurde. Auch die Bewilligungen für Investitionen in der viel beworbenen Sonderwirtschaftszone des neuen Industriehafens von Mariel lassen auf sich warten.

Diese Verzögerung des ohnehin schon langsamen Reformprozesses lässt sich auf unterschiedliche Faktoren zurückführen. Erstens dürfte die Ungewissheit über die Entscheidungsbedingungen eine bremsende Wirkung haben. Die Annäherung mit den USA lässt viele Fragen in der Schwebe, die für die Definition weiterer Schritte relevant sind. Wie weit die Aufweichung der Handelssanktionen gehen wird und ob sich der Annäherungskurs überhaupt fortführen lässt, wird sich erst zeigen, wenn die Karten in Washington von der Trump-Regierung neu gemischt werden. Zweitens spielt die Angst vor Machtverlust und Destabilisierung eine Rolle. Von Beginn an bestand die Sorge, dass die Veränderungen bei zu starker Beschleunigung eine eigene Dynamik entwickeln und der Kontrolle des politischen Apparats entgleiten könnten. Die Auswirkungen der sowjetischen Perestroika sind im Gedächtnis der kubanischen Führungselite noch sehr präsent. Diese Angst vor dem politischen Kontrollverlust dürfte im Zuge der Annäherung an die USA noch zugenommen haben. Drittens wurde im Rahmen des Parteikongresses deutlich, dass in der politischen Führung keineswegs nur Einigkeit über Raúls Reformkurs und die Normalisierung der Beziehungen zu den USA herrscht; und viertens dürften auch schlicht Kapazitätsprobleme ein Teil der Erklärung sein. Der massive Ansturm von Besucher_innen und Delegationen sowie der gleichzeitige Exodus qualifizierter Kräfte ins Ausland haben zu Engpässen in den öffentlichen Institutionen geführt, die an der Umsetzung der Leitlinien beteiligt sind.


Abschied von Fidel auf dem VII. Parteitag

Die Mehrheit der kubanischen Bevölkerung ist in der fast 50-jährigen Regierungszeit Fidel Castros geboren oder erwachsen geworden. Sein Ableben stellte für sie eher ein emotionales als ein politisches Ereignis da. Wie seine Person und wie sein Leben polarisierte auch sein Tod. Große Trauer herrschte bei den Fidelistas, deren ältere Generation selbst noch Erinnerungen aus erster Hand an den Triumph der Revolution hat oder in jungen Jahren an der landesweiten Alphabetisierungskampagne beteiligt war. Bei den Dissident_innen und Exilkubaner_innen überwog hingegen die unverhohlene Freude über den Abgang eines aus ihrer Sicht verhassten Despoten, der in Miami mit Autokorsos und ausgelassener Feierstimmung begangen wurde. Für die allermeisten Kubaner_innen dürfte es sich aber so anfühlen, als ob ein altes Familienoberhaupt verstorben ist, das immer da war, mit dem man nicht immer einer Meinung war oder unter dem man sogar gelitten hat, das aber die eigenen Lebensumstände maßgeblich mitbestimmt hat und dem man trotz allem Respekt für sein Lebenswerk zollt.

Vom politischen Publikum hatte sich der greise Comandante bereits auf dem Parteitag der kommunistischen Partei Kubas im Frühjahr 2016 mit einer, wie er selbst sagte, wahrscheinlich letzten großen öffentlichen Rede verabschiedet. Während im Zeitraum von 1997 bis 2011 überhaupt keine Kongresse der kommunistischen Partei stattfanden, hat die Regierung Raúl Castros deren regelmäßige Durchführung im Fünfjahresrhythmus wieder aufgenommen. Im Vergleich zum VI. Parteikongress, dem ein umfassender Konsultationsprozess mit der Bevölkerung vorausgegangen war, waren die Vorbereitungen des VII. Kongresses im Frühjahr 2016 allerdings von Geheimhaltungen und Intransparenz geprägt. Die nationale und internationale Medienaufmerksamkeit konzentrierte sich in den Wochen davor auf den Trubel um den Obama-Besuch und das Konzert der Rolling Stones; nur den 1.000 Delegierten waren die Kongressdokumente im Vorfeld bekannt.

Die Unzufriedenheit über die mangelnde Einbeziehung der Bevölkerung wurde schließlich von einem bekannten kubanischen Journalisten und Blogger in einem offenen Brief an Raúl Castro zum Ausdruck gebracht, in dem er eine Verschiebung des Kongresses um drei Monate für einen entsprechenden Konsultationsprozess vorschlug.(6) Zu einer solchen Verschiebung kam es zwar nicht, doch wurde die Verabschiedung der Dokumente für eine nachträgliche Diskussion mit der Bevölkerung verschoben. Bis Ende September 2016 wurde in landesweiten Foren über das zukünftige Modell des kubanischen Sozialismus debattiert.

Der Kongress selbst brachte keine großen Veränderungen. Raúl Castro, der bereits Anfang 2014 angekündigt hatte, 2018 für eine Wiederwahl im Präsidentenamt nicht mehr zur Verfügung zu stehen, schlug die Einführung von Altersgrenzen für Neuzugänge in Politbüro und Zentralkomitee vor. Tatsächlich ist das neue Zentralkomitee deutlich jünger und diverser zusammengesetzt, was auch daran liegt, dass seit den letzten Wahlen vor 19 Jahren mehr als 50 Prozent der Mitglieder ausgeschieden sind.(7) Aber auch eine Reihe von wichtigen Figuren war auf der neuen Liste nicht mehr vertreten, wie beispielsweise der bisherige Leiter der Ideologie-Abteilung, Rolando Alfonso Borges, in dessen Verantwortlichkeit die Kontrolle der Medien und Kommunikationsmittel stand.

Im Politbüro beschränkten sich die Veränderungen auf die Erweiterung um einige jüngere Mitglieder, während sowohl der inzwischen 85-jährige Raúl Castro als auch der noch einige Monate ältere und als Hardliner geltende José Ramón Machado Ventura als erster und zweiter Vorsitzender bestätigt wurden. Eine zentrale Funktion des Kongresses bestand in der nachträglichen Legitimierung des eingeschlagenen außenpolitischen Kurses gegenüber den USA. Dass hier durchaus Uneinigkeit besteht, wurde in zum Teil widersprüchlichen Interventionen der Delegierten deutlich. Fidel war zwar selbst einer der zentralen Kritiker, gleichzeitig aber auch eine wichtige Legitimationsquelle der Politik seines Bruders, dem er in seiner Parteitagsrede demonstrativ den Rücken gestärkt hatte. Nach seinem Tod könnten die Gegner_innen des Reform- und Öffnungskurses erneuten Aufwind bekommen.


Einbruch des Wirtschaftswachstums

Der Tourismussektor boomt, doch der Plan, das Wirtschaftswachstum auch in anderen Sektoren durch ausländische Investitionen vor allem in der neu geschaffenen Sonderwirtschaftszone rund um den Industriehafen von Mariel in Schwung zu bringen, konnte bislang nicht realisiert werden. Nachdem die kubanische Regierung in den Vorjahren optimistischere Prognosen über das Wirtschaftswachstum zum Jahresende regelmäßig nach unten korrigieren musste, brachte die Besucherflut 2015 endlich das erwünschte Wachstum von vier Prozent. Hotels und Pensionen waren langfristig ausgebucht und die Anhebung der erlaubten Summe der Rücküberweisungen aus den USA schwemmte willkommene Devisen ins Land. Laut der Havanna Consulting Group sind die privaten Zuwendungen von Familienangehörigen im Ausland 2015 auf die Rekordzahl von 3.354 Millionen US-Dollar gestiegen.(8)

Umso größer war der Schock, als Anfang 2016 offizielle kubanische Stellen ein Wirtschaftswachstum von nur zwei Prozent voraussagten; inzwischen wird sogar von einem negativen Wachstum gesprochen. Hintergrund dürften vor allem die Krise in Venezuela und der Verfall des Rohölpreises sein. Schätzungen zufolge lag der Anteil der Einnahmen aus dem Wiederverkauf des Rohöls, das Venezuela im Rahmen des Petrocaribe-Abkommens im Gegenzug für die Endsendung von kubanischen Ärzt_innen an die Insel lieferte, bei bis zu 20 Prozent des kubanischen BIP. Auch der niedrige Preis des Nickels, das in Kuba abgebaut und exportiert wird, spielt eine Rolle. Ein weiterer Grund für die pessimistischen Prognosen könnte in der Wiederaufnahme der systematischen Tilgung der Auslandsschulden liegen. Dabei bedarf es dringender Investitionen, um die marode Infrastruktur des Landes zu erneuern und attraktive Arbeitsplätze für Kubas gut ausgebildete Bevölkerung zu schaffen.


Investoren kamen, sahen ... und gingen wieder

Die Wohnungsvermietungsplattform AirBnB hat den kubanischen Markt im Nu erobert, Kreuzfahrtschiffe legen wieder täglich in der Bucht von Havanna an und das erste von einer US-Firma administrierte Hotel sorgte international für Schlagzeilen. Darüber hinaus zeigen sich die vielen ausländischen Unternehmer_innen, die seit dem 17. Dezember 2014 eigenständig oder als Teil von Delegationen das Land bereisten, um den kubanischen Markt zu sondieren, aber eher zurückhaltend. In der neuen Sonderwirtschaftszone in Mariel, die sich zu einem zentralen Dreh- und Angelpunkt des regionalen Handels entwickeln sollte, steht bislang nicht viel mehr als der von der brasilianischen Firma Odebrecht erbaute Container-Terminal. Die Zukunft der Kooperation mit Brasilien ist angesichts der dortigen politischen Krise ungewiss. Neben dem US-Embargo dürften die ausstehende Währungsreform, die weiterhin hohen bürokratischen Hürden in Kuba sowie die Unsicherheit über die langfristige Entwicklung zentrale Hinderungsgründe für Investor_innen sein. Insbesondere für wenig risikobereite kleinere und mittelständische Unternehmen, die nicht über eigene juristische Abteilungen verfügen oder eine umfangreiche private Beratung in Auftrag geben können, sind die Bedingungen wenig einladend.

Im Zuge der Normalisierung der Beziehungen hatte Obama auch die Unterstützung der USA bei der Verbesserung des Internetzugangs auf der Insel versprochen. Tatsächlich wurden 2015 die Kosten für die Internetnutzung durch den staatlichen Anbieter ETECSA von fünf auf zwei CUC die Stunde gesenkt und neue Internethotspots auf vielen öffentlichen Plätzen eingerichtet, auf denen sich nun ganze Familien unter freiem Himmel versammeln, um mit ihren Angehörigen im Ausland zu sprechen. Darüber hinaus nutzt ein Großteil der Bevölkerung das sogenannte »Paquete«, eine von offizieller Seite geduldete wöchentliche Zusammenstellung digitalen Materials, die auf externen Festplatten nach Hause geliefert wird. Dennoch zählt Kuba weiterhin zu den Ländern der Welt mit der schlechtesten Internetanbindung.(9) Es wird geschätzt, dass nur fünf Prozent der Bevölkerung Zugang zum Netz haben, was der Attraktivität des Landes als Unternehmensstandort zusätzlich abträglich ist. Neue Hoffnungen weckte Ende 2016 ein Pilotprojekt, mit dem 2.000 Haushalte in der Altstadt Havannas Zugang zum Internet erhalten sollen.(10)

Abschreckend wirkt auf viele der potenziellen Investor_innen zudem, dass sie lokale Mitarbeiter_innen nicht direkt, sondern nur über zwischengeschaltete staatliche Beschäftigungsagenturen unter Vertrag nehmen dürfen. Die Gehälter werden an die Agentur in der devisenkonvertiblen Währung CUC gezahlt. Die Agentur erhält davon einen Anteil und zahlt darüber hinaus die Gehälter im Wechselkurs 1:10 zur nationalen Währung CUP aus, während der Tauschkurs in den staatlichen Wechselstuben bei 1:25 liegt. Bei den Mitarbeiter_innen kommt dadurch nur ein Bruchteil des vom ausländischen Unternehmen gezahlten Betrags an. Die zwischengeschalteten Agenturen sind einerseits eine lukrative Einnahmequelle für den Staat, gleichzeitig sollen sie garantieren, dass Investitionsprojekte Arbeitsplätze für kubanische Arbeitskräfte schaffen. In dieser Hinsicht sorgte allerdings im Sommer 2016 die Präsenz indischer Arbeiter_innen auf einer Großbaustelle in Havanna für Verwunderung.


Währungsreform - war da was?

Im Hinblick auf die dringend benötigte Zusammenführung der beiden parallel existierenden Währungen CUC und CUP scheint die kubanische Regierung den Moment verpasst zu haben. Schon 2013 wurde hierfür ein Plan vorgestellt und 2014 begonnen, in den Geschäften Preise in beiden Währungen auszuzeichnen. Doch seitdem ist es um das Thema still geworden. Die Reform würde eine realistischere Einschätzung der tatsächlichen Lage und Produktivität der kubanischen Wirtschaft und der Kaufkraft der Gehälter zulassen. Gleichzeitig sind die Auswirkungen der Reform nicht absehbar. Neben dem offiziellen Tauschkurs wird in den unterschiedlichen Wirtschaftssektoren im Land mit mehr als zehn verschiedenen Wechselkursen operiert, die vereinheitlicht werden müssten. Unklar sind auch die Konsequenzen für den neuen Privatsektor, in dem die Einnahmen vor allem in CUC erfolgen. Immer wieder aufkommende Gerüchte über das unmittelbare Bevorstehen der Reform führten zwischenzeitlich zu hektischen Tauschbewegungen der Bevölkerung. Doch der kubanische Staat, der kein Mitglied in den internationalen Finanzinstitutionen ist, verfügt nicht über ausreichende Reserven, um die möglichen sozialen Effekte einer notwendigen Abwertung der Währung sowie einer Inflation abzufedern, obwohl die erfolgreiche Neuverhandlung der Schulden langfristig die Aufnahme neuer Kredite erleichtern dürfte.


Legalisierung von privaten Kleinunternehmen?

Die 2011 angekündigten Massenentlassungen von einer Million Angestellten aus den staatlichen Betrieben vollziehen sich langsamer als ursprünglich geplant. Im neuen Privatsektor, der die freigesetzten Arbeitskräfte auffangen soll, arbeiten zwar inzwischen mehr als 500.000 Personen, aber nur ein kleiner Teil davon deckt sich mit den ehemaligen Staatsangestellten. Viele waren vorher in der informellen Wirtschaft tätig und haben sich als Cuentapropistas legalisiert. Mit dem neuen Arbeitsgesetz von 2014 ist auch die Anstellung von Lohnarbeiter_innen im Privatsektor legal geworden, obwohl die kubanische Verfassung die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen grundsätzlich verbietet. Tatsächlich sind die abhängig Beschäftigten im Privatsektor oft weitgehend ungeschützt der Willkür der Arbeitgeber_innenseite ausgesetzt. Das neue Arbeitsgesetz sieht zwar Instrumente des Arbeitnehmer_innenschutzes für die neuen privaten Arbeitsbeziehungen vor, doch greifen diese zu kurz und bleiben aufgrund von Unkenntnis der Betroffenen oder aus Ablehnung und Misstrauen gegenüber einer gewerkschaftlichen Interessenvertretung ungenutzt. Die kubanische Einheitsgewerkschaft wird von vielen mit der Regierung assoziiert. Dabei gibt es auch in der Gewerkschaft eine zunehmende Sensibilisierung für die Herausforderungen des neuen Privatsektors und das Interesse, Kollektivverhandlungsmechanismen in staatlichen und privaten Unternehmen auszubauen.

In der Folge des VII. Parteikongresses wurde die seit langem erwartete Legalisierung der privaten Kleinunternehmen angekündigt. Damit erhalten die de facto schon seit Jahren existierenden Initiativen im Privatsektor einen Rechtsrahmen. In den vielen neuen privaten Restaurants arbeiten bislang Selbstständige, die von den Besitzer_innen der Lokale - ebenfalls selbstständig - unter Vertrag genommen werden. Mit der juristischen Anerkennung findet nun auch die Rolle von Privatunternehmen für die Dynamisierung der kubanischen Wirtschaft Anerkennung. Die Initiativen könnten sinnvoll in das Abgabensystem integriert werden und Importerlaubnisse erhalten. In Ermangelung eines Großmarkts und der bisher fehlenden Importmöglichkeiten sind die privaten Unternehmen jedoch wie die individuellen Konsument_innen auf die staatlichen Verkaufsstellen angewiesen. Infolge der gestiegenen Touristenzahlen hatte dies Anfang 2016 dazu beigetragen, dass die Preise bestimmter Lebensmittel des täglichen Verbrauchs in die Höhe schnellten und sogar über eine generelle Preisdeckelung einer Reihe von Produkten diskutiert wurde.

Im September wurde in Havanna die Vergabe neuer Lizenzen an private Restaurants zeitweise eingestellt. Die Maßnahme sorgte für Gerüchte über bevorstehende Schließungen der beliebten Paladares, wie die privaten Restaurants in Kuba genannt werden. Als Begründung gab die öffentliche Verwaltung der Stadt mangelnde Disziplin der Unternehmen in Bezug auf Öffnungszeiten, Steuerhinterziehung und andere Unregelmäßigkeiten an.(11) Es bestehe Anlass zur Sorge, dass die gastronomischen Einrichtungen sich zu Orten von Prostitution, Drogenhandel und Geldwäsche entwickelten. Aber gerade diese Gefahren zeigen einmal mehr, wie dringend eine solide und kohärente Rechtsbasis für die neuen Geschäftsmodelle benötigt wird.

Die Legalisierung des privaten Kleinunternehmens ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, wird sich allerdings auf die wirtschaftlichen Aktivitäten beschränken, die von Cuentapropistas ausgeübt werden dürfen, und damit kaum neue Perspektiven für Kubas gut ausgebildetes Personal eröffnen. Architekt_innen können zwar als Taxifahrer_innen oder im Gastronomiebereich arbeiten, aber keine private Baufirma gründen. Die niedrigen staatlichen Gehälter von durchschnittlich 20 US-Dollar im Monat reichen auch in Kombination mit den Vorteilen der universellen Sozialsysteme und den staatlichen Subventionen für Konsumgüter längst nicht mehr aus, um den Lebensunterhalt in Kuba zu bestreiten. Viele staatliche Angestellte gehen deshalb einer privaten Zweitbeschäftigung nach. In der Tourismusbranche übersteigen die Einnahmen der Trinkgelder oft das Gehalt um ein Vielfaches. Gerade den Hochqualifizierten bleibt daher oft nichts anderes übrig, als ihr staatliches Gehalt durch private Nebentätigkeiten aufzubessern.


Gewinner_innen und Verlierer_innen

Immer deutlicher zeigt sich, dass die wirtschaftlichen Veränderungen soziale Gewinner_innen und Verlierer_innen generieren. Die Trennlinie verläuft zwischen denen, die durch Rücküberweisungen, Tätigkeiten im Privatsektor oder Trinkgelder in der Tourismusbranche Zugang zur Devisenwährung CUC haben, und denen, die ihren Lebensunterhalt weitgehend auf der Grundlage staatlicher Gehälter und Subventionen bestreiten müssen. Rentner_innen, alleinerziehende Mütter und die Bewohner_innen der Landesteile, die nicht auf den klassischen Tourismusrouten liegen, drohen abgehängt zu werden. In Ermangelung wirksamer Mechanismen zur Vermeidung von Diskriminierung bei der Einstellung und am Arbeitsplatz geraten im neuen Privatsektor die sozialen Errungenschaften der Revolution in Gefahr. Frauen sind unter den neuen Selbstständigen immer noch deutlich unterrepräsentiert. In den neuen privaten Restaurants arbeiten in der Regel meist junge Menschen weißer Hautfarbe. Auch die familiären Rücküberweisungen begünstigen bestimmte Bevölkerungsgruppen und reproduzieren die soziale Zusammensetzung der im Exil lebenden Kubaner_innen, unter denen der Anteil der Afrokubaner_innen um ein Vielfaches geringer ist als auf der Insel. Bislang fehlt es jedoch an Politikansätzen, die die soziale Situation der benachteiligten und gefährdeten Bevölkerungsgruppen gezielt ins Visier nehmen. Diesbezüglich könnten sich im Nachgang des Parteikongresses Veränderungen ergeben, auf dem angekündigt wurde, in Zukunft stärker auf Chancengleichheit zu setzen.

Neben der Euphorie über ein mögliches baldiges Ende der jahrzehntelangen Feindschaft mit den USA hat die Ankündigung vom 17D bei vielen Kubaner_innen auch die Sorge geweckt, dass damit die Sonderbehandlung wegfallen könnte, die kubanische Einwander_innen bislang in den USA genossen. Kubanische Staatsbürger_innen, die das Festland der USA auf dem See- oder Landweg erreichten, erhielten bislang im Gegensatz zu Immigrant_innen aus anderen Ländern umgehend eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. Der Sogeffekt einer möglichen baldigen Abschaffung dieser von Kuba und den Embargo-Gegner_innen immer wieder kritisierten Privilegien hatte in Kombination mit der von vielen empfundenen Perspektivlosigkeit auf der Insel zum größten Exodus seit den 1990er Jahren geführt. Das neue kubanische Migrationsgesetz erleichtert die legale Ausreise und erlaubt Auslandsaufenthalte von bis zu zwei Jahren.(12)

Wie viele tatsächlich nach dieser Zeit zurückkehren, lässt sich noch nicht absehen. Insbesondere die junge Generation macht sich angesichts der wirtschaftlichen und politischen Stagnation auf den Weg, um anderswo ihr Glück zu suchen. Allein 2015 sind über 40.000 Kubaner_innen in die USA eingewandert; 40 Prozent mehr als im Vorjahr und in etwa dreimal so viele wie im Jahr 2013.(13) Die meisten nutzten die liberale Visumspolitik Ecuadors, um von dort auf dem Landweg durch Zentralamerika weiterzureisen. Internationale Aufmerksamkeit erfuhren die kubanischen Transitmigrant_innen, als das mit Kuba befreundete Nicaragua seine Grenzen zur Weiterreise dicht machte und tausende Kubaner_innen wochenlang an der Grenze zu Costa Rica festhingen.

Tatsächlich hat die Obama-Regierung nur acht Tage vor der Übergabe der Regierungsgeschäfte als eine der letzten Amtshandlungen der 1995 von Bill Clinton eingeführten sogenannten »Wet feet, dry feet«-Politik ein Ende gesetzt. Auch die Abwerbung medizinischen Personals von kubanischen Missionen in Drittstaaten soll in Zukunft unterlassen werden. Für die kubanische Regierung stellt dieser Schritt einen der größten Erfolge in den Verhandlungen mit den USA dar. Seinen Nachfolger bringt Obama damit in eine schwierige Lage. Die Maßnahme stößt bei den Exilkubaner_innen auf wenig Gegenliebe. Gleichzeitig steht die Abschaffung der Sonderbehandlung aber im Einklang mit der von Trump im Wahlkampf propagierten Verschärfung der Einreisebestimmungen aus den lateinamerikanischen Nachbarländern.


Sozialismus 2030?

Vor dem Hintergrund all dieser Herausforderungen vollzieht sich der Diskussionsprozess über die Zukunft des sozialistischen Modells. Bis zum Abschied Raúl Castros aus dem Präsidentenamt 2018 soll eine Verfassungsreform auf den Weg gebracht und mit einem Referendum verabschiedet werden, die den normativen Rahmen mit den Veränderungen in der Praxis in Einklang bringt. Der geltende Verfassungstext verbietet nicht nur die private Anstellung von Arbeitskräften, er sieht auch kein Privateigentum von Produktionsmitteln vor, wie es in den neuen Kleinunternehmen besteht. Dass auch moderate politische Veränderungen ins Haus stehen, lässt sich schon deshalb vermuten, weil die aktuelle Mitgliederzahl der Nationalversammlung das Fassungsvermögen des Sitzungssaals im aufwändig sanierten Capitolio übersteigt, in welches das politische Gremium gerade wieder eingezogen ist. Die kubanische Politik soll in Zukunft dezentraler gestaltet und die revolutionären Partizipationsmechanismen wiederbelebt werden, ohne sich vom Einparteiensystem zu verabschieden.

Kuba stehen aufgrund seiner gebildeten Bevölkerung andere Entwicklungspfade offen als vielen Ländern der Region. In einem kürzlich veröffentlichten Bericht der Organisation Save the Children über die Entwicklungschancen von Mädchen und weiblichen Jugendlichen in Lateinamerika und der Karibik rangiert Kuba an erster Stelle.(14) Dass die Kubaner_innen in Krisensituationen solidarisch weiterhin zusammenstehen, haben die jüngsten Beispiele der erfolgreichen Eindämmung des Zikavirus und der exemplarische Umgang mit Hurricane Matthew gezeigt. Der Hurricane war Anfang Oktober 2016 durch die Karibik gezogen und hatte den Osten Kubas mit verheerender Wucht getroffen. Doch während auf den Nachbarinseln und in den USA zahlreiche Menschen ums Leben kamen, gelang es den kubanischen Katastrophenschützer_innen wieder einmal, die Schäden auf das Materielle zu beschränken. Trotzdem haben die Energierationierung in öffentlichen Gebäuden und die Verknappung von Medikamenten(15) die Angst vor einer erneuten Wirtschaftskrise vom Typ der periodo especial geschürt. Noch einmal wird die kubanische Bevölkerung die in den 1990er Jahren durchlittenen Strapazen nicht auf sich nehmen.(16)

Angesichts der überwältigenden Herausforderung vor denen das Land steht, wurde bis September 2016 in landesweiten Versammlungen über die »Konzeptualisierung des kubanischen Wirtschafts- und Sozialmodells der sozialistischen Entwicklung« und den dazugehörigen »Plan für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung bis 2030«(17) diskutiert. Doch die Zeit läuft und der theoretische Entwurf der Modellanpassungen ist von seiner Umsetzung meilenweit entfernt.

Ohne Zweifel sind viele der Probleme des tropischen Sozialismus hausgemacht und das Ergebnis von Missmanagement, mangelndem politischem Willen oder dem Streben nach Machterhalt. Doch auch die Wirtschaftsblockade der USA bleibt einer der zentralen Gründe für den wirtschaftlichen Stillstand im Land. Erst nach einem Ende der Blockade kann die Zukunft Kubas bei den Kubaner_innen liegen - und erst dann wird sich zeigen, wie es um die politische und wirtschaftliche Nachhaltigkeit des tropischen Sozialismus unter fairen äußeren Bedingungen bestellt ist.

Angesichts des Fortbestehens der republikanischen Kongressmehrheit wäre es auch Hillary Clinton kaum gelungen, diesem letzten Relikt des Kalten Krieges ein Ende zu setzen. Mit Donald Trump sind alle möglichen (und unmöglichen) Szenarien denkbar. Auch wenn er ein Rassist und Sexist ohne Prinzipien und Moral sein mag, hoffen viele, dass er als Geschäftsmann ein offenes Ohr für die Interessen der US-amerikanischen Unternehmerund Agrarlobby haben wird, die sich rechtzeitig ihren Anteil am kubanischen Markt sichern wollen. Letztere hatte sich bereits vor Trumps Amtseinführung in einem offenen Brief an den gewählten Präsidenten gewandt, in dem sie ihn um eine Fortführung des von Obama eingeschlagenen Kuba-Kurses aufrufen.(18)

Um die Gunst der Exilkubaner_innen in Miami buhlend, hatte Trump im Wahlkampf angekündigt, die von der Vorgänger-Administration ergriffenen Maßnahmen rückgängig zu machen, sollte es nicht zu einem »echten Deal« mit Kuba kommen. Was das konkret bedeutet, führte er nicht weiter aus. Ebenso wenig äußerte er sich zur Embargopolitik. Doch auch unter den US-Kubaner_innen wird die Wirtschaftsblockade zunehmend kritisch gesehen, zumal mit Fidel Castros Tod die zentrale Symbolfigur weggefallen ist, auf die sich der Hass der Revolutionsgegner_innen bislang konzentrierte. Bleibt zu hoffen, dass die Möglichkeit, die Insel selbst zu besuchen, und der wachsende Austausch zwischen beiden Ufern der Floridastraße langfristig einer breiten Bevölkerungsmehrheit in den USA die Absurdität der Sanktionspolitik vor Augen führen.


Anmerkungen

(1) In seiner Jahresendansprache vor der kubanischen Nationalversammlung bezifferte Raúl Castro das Wirtschaftswachstum mit -1 Prozent.

(2) Erst in der im Oktober 2016 vom Weißen Haus erlassenen Presidential Policy Directive 43 über die Beziehungen zwischen den USA und Kuba steht explizit, dass kein Regimewechsel angestrebt werde, es den USA gar nicht möglich sei, ein anderes Modell gegen den Willen des kubanischen Volkes zu installieren, die US-Regierung aber, weiter Demokratie fördernd, mit ihren Partner_innen in der kubanischen Zivilgesellschaft zusammenarbeiten werde:
https://cu.usembassy.gov/es/directiva-presidencial-de-politicas-para-la-normalizacion-entre-los-ee-uu-y-cuba/ Vgl. hierzu: Carlos Alzugaray Treto: La Directiva Política Presidencial 43 y la política hacia Cuba, in: www.cubaposible.org, 17.10.2016.

(3) Dafür sprechen unter anderem die Mobilisierungen gegen das US-Programm World Learning; vgl. hierzu: Lauren Céspedes Hernández: Todo por Cuba y la voluntad de conquistar un mismo sueño, in: Granma, 24.9.2016.

(4) Sergio Alejandro Gómez: Estados Unidos mantiene su receta subversiva contra Cuba, in: Granma, 23.10.2016.

(5) OAS: Pressemitteilung R149/16, 13.10.2016.

(6) Paquito el de Cuba: Carta abierta a Raúl Castro o Aplazar hasta julio el vii Congreso del Partido, 27.3.2016;
https://paquitoeldecuba.com/2016/03/28/carta-abierta-a-raul-castro-o-aplazar-hasta-julio-el-viicongreso-del-partido/.

(7) William M. LeoGrande: Análisis del nuevo Comité Central, in: Cartas desde Cuba, 28.4.2016.

(8) Emilio Morales: Cuba: The Fastest Growing Remittances Market in Latin America, in: The Havana Consulting Group, 23.6.2016.

(9) Abel Fernández: Cuba reporta casi cuatro millones de usuarios con acceso a internet, in: El Nuevo Herald, 26.10.2016.

(10) Jeniffer Rodríguez Martinto: Se prepara Etecsa para prueba piloto de internet en los hogares, in: Trabajadores, 26.10.2016.

(11) Karina Marrón González: Esclarecen situación sobre restaurantes en La Habana, in: Granma, 20.10.2016.

(12) Seitdem dürfen Kubaner_innen in den USA leben, ohne die kubanische Staatsbürgerschaft und ihre Besitztümer auf der Insel zu verlieren. Während sie in anderen Ländern ihren Lebensunterhalt verdienen, können sie auf der Insel auch weiterhin die Leistungen des kostenlosen Gesundheitssystems in Anspruch nehmen.

(13) Angaben der Oficina de Operaciones en el Terreno del Servicio de Aduanas y Protección de Frontera de Estados Unidos, zitiert in: René Camilo García: El flujo migratorio hacia Estados Unidos no se detiene, in: OnCuba, 13.10.2016.

(14) Save the Children lanza informe sobre mejores y peores países para ser una niña, in: Save the Children, 11.10.2016.

(15) Lisandra Fariñas Acosta: Informan BioCubaFarma y Salud Pública sobre inestabilidad de medicamentos, in: Granma, 13.10.2016.

(16) Siehe hierzu die Rede der stellvertretenden Direktorin der kubanischen Tageszeitung Granma auf der VI. Versammlung der kubanischen Journalistenvereinigung (Nacional de la Unión de Periodistas de Cuba, upec) vom 28. Juni 2016. Nora Gámez Torres: Subdirectora de Granma alerta sobre protestas en Cuba si vuelven »apagones«, in: El Nuevo Herald, 1.7.2016.

(17) VII. Parteitag der Kommunistischen Partei Kubas: Conceptualización del modelo económico y social cubano de desarrollo socialista;
www.granma.cu/file/pdf/gaceta/Copia%20para%20el%20Sitio%20Web.pdf.

(18) Vgl. U.S. farmers ask Trump to stay the course on Cuba, in: reuters.com, 12.1.2017.


Über die Autorin

Sarah Ganter studierte Politikwissenschaft, Philosophie und Informatik an der Technischen Universität Dresden und der Complutense in Madrid. Bis Ende 2016 leitete sie das Auslandsbüro der Friedrich-Ebert-Stiftung für Kuba und die Dominikanische Republik mit Sitz in Santo Domingo.


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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Februar 2017

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