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LATEINAMERIKA/2015: Brasilien - Zehn Botschaften der indigenen Völker an die Welt (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Brasilien

Zehn Botschaften der indigenen Völker an die Welt


Der "Marco Temporal" hätte verheerende Folgen - nicht nur für Indigene, sondern für die ganze Welt. Warum, erklärt der Indigenenverband APIB.

(Brasilia, 27. August 2021, Brasil de fato/poonal) - Das Oberste Bundesgericht befasst sich derzeit mit der Frage, wie über die Anerkennung indigener Landrechte entschieden werden soll. Die zur Debatte stehende "Stichtagsregelung" (Marco Temporal [1]) sieht vor, dass nur diejenigen Gebiete als indigene Territorien anerkannt werden sollen, die bereits vor dem 5. Oktober 1988 von Indigenen bewohnt wurden. An diesem Tag war die brasilianische Verfassung in Kraft getreten. Alle Gebiete, die seither zurückerkämpft wurden, sollen entsprechend nicht mehr als indigene Territorien gelten. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs sollte am 25.8. getroffen werden, wurde jedoch auf den 1.9. verschoben. Um zu zeigen, wie bedeutungsvoll die Entscheidung über den Marco Temporal für das Leben der indigenen Völker ist, hat der Verband "Articulação dos Povos Indígenas do Brasil" [2] einen offenen Brief mit zehn Botschaften verfasst, die an den Bundesgerichtshof und an die Welt gerichtet sind:

1) Die Geschichte der indigenen Völker Brasiliens beginnt weder im Jahr 1500 noch im Jahr 1988.

Die indigenen Völker kamen in dieses Land, noch bevor der Begriff der Zeit überhaupt erfunden wurde, und wir sind die Nachfahren dieser Menschen, die als erste ihren Fuß auf das Land setzten, das ihr Brasilien nennt. Eure Uhren und Kalender können weder unsere Zeit bemessen oder bestimmen noch können sie unsere Vorfahren ignorieren.

2) Unser Land ist unser Leben und keine Profitquelle.

Während Grundbesitzer, illegale Landbesetzer und Ausbeuter das Land an sich gerissen und zerstört haben, pflegen wir, die indigenen Völker, eine tiefe, spirituelle Beziehung zu unserem Land, die sich über Generationen gehalten hat. Ohne Land gibt es für uns kein Leben. Wir erforschen und untersuchen unsere Gebiete nicht, um den maximalen Profit zu erzielen, sondern um uns zu ernähren, um unsere Kultur zu erhalten und unsere Traditionen und unsere Spiritualität zu bewahren.

3) Wir kümmern uns um die Wälder, und die ganze Welt kann froh darüber sein.

Mehr als einmal wurden die indigenen Völker als die besten Hüter*innen der Wälder anerkannt. In unseren Territorien bleibt die Natur intakt. In den indigenen Gebieten gibt es intakte Wälder, sauberes Wasser und eine lebendige Tierwelt. Wie gut und wichtig das für alle ist, zeigen die heutigen Klima- und Umweltkrisen, die das Überleben der Menschheit bedrohen.

4) Unsere Vielfalt und die Verbindung mit unseren Vorfahren vereinen uns.

Die Feinde der indigenen Völker versuchen um jeden Preis, künstliche Gräben zwischen uns aufzubauen und uns zu spalten. Sie wollen anscheinend nicht begreifen, dass das Erbe unserer Vorfahren stärker und mächtiger ist als jeder Versuch, uns auseinanderzubringen.

5) Die Grundbesitzer beanspruchen den größten Teil des Landes und zerstören ihn gnadenlos!

Das Argument, es gebe "zu viel Land für die paar Indianer", wurde bereits mehrfach widerlegt. Der größte Teil der Flächen in Brasilien wird bereits landwirtschaftlich genutzt. Ein kleiner Teil davon ist indigenes Land, und was davon als indigenes Gebiet anerkannt wurde, ist in einem hervorragenden Zustand!

6) Unser Kampf ist auch ein Kampf für die Zukunft der Menschheit.

Die Kultur der indigenen Völker pflegt die Verschiedenheit und das Willkommenheißen. Wir kämpfen für den Erhalt der Umwelt und der biologischen Vielfalt. Wir sind die Schützer*innen der Wälder, und wir sind gern bereit, unser Wissen zu teilen - zum Wohle aller Menschen.

7) Seit 521 Jahren kämpft die indigene Bevölkerung um ihr Leben. Offensichtlich ist hier etwas ganz und gar nicht in Ordnung.

Seit die Europäer in unser Land eindrangen, müssen wir tagtäglich um unser Überleben kämpfen: gegen eingeschleppte Krankheiten wie COVID-19, an der mehr als 1.100 Menschen aus unserer Familie starben, gegen Völkermord, gegen Übergriffe. Auch heute noch gibt es viele Menschen, für die unser Leben keinen Pfifferling wert ist. Das muss ein Ende haben, sofort!

8) Wir haben ein Konzept entwickelt, das die gesamte Welt betrifft, und wir wollen, dass die ganze Welt davon erfährt!

Wir haben über Jahrtausende unsere eigenen Produktionstechnologien entwickelt. Daher können wir heute mit freiem Blick über eine Gesellschaft ohne Ungleichheiten nachdenken, die auf einem guten Leben und dem Schutz der Erde beruht und das freie Zusammenleben der Völker ermöglicht. In unserem Gesellschaftskonzept wird Nahrung ohne Gift und ohne Raubbau an der Natur produziert. Unsere Welt braucht ein solches Konzept, um uns vor der Zerstörung zu retten!

9) Wir sind hier, und hier werden wir bleiben.

Wir haben die Kolonisierung überlebt, den Völkermord und die Krankheiten. Unser Volk ist widerstandsfähig, wir haben immer einen Weg gefunden, um zu überleben und uns zu schützen, selbst unter den schlimmsten Bedingungen. Wir werden am Leben bleiben und für unsere Rechte kämpfen, und wir hoffen, dass die Welt begreift, dass unser Leben wichtig ist. Die indigenen Völker fordern ein erfülltes und friedliches Leben, denn das ist es, was wir wollen und brauchen.

10) Brasilien ist ein indigenes Land, die Mutter Brasilien ist indigen!

Seit 521 Jahren wird versucht, die indigene Abstammung dieses Landes, das sie Brasilien nennen, auszulöschen. Wir haben dieses Land als allererste betreten. Wir pflegen den Boden, halten die Wälder in Ordnung und verehren die jahrtausendealten Vorfahren. Wir sind viele, wir sind stark und wir sind stolz auf unsere Geschichte, und niemand wird uns das je nehmen können!


Anmerkungen:
[1] https://amerika21.de/2020/05/239773/stf-stopp-verfahren-gegen-tis
[2] https://apiboficial.org/?lang=en


URL des Artikels:
https://www.npla.de/thema/repression-widerstand/zehn-botschaften-der-indigenen-voelker-an-die-welt/


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https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/

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Quelle:
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veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 14. September 2021

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