Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → AUSLAND


LATEINAMERIKA/2101: Kolumbien - Vollständiger Frieden, eine Verpflichtung der gesamten Gesellschaft (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Kolumbien
Vollständiger Frieden - eine Verpflichtung der gesamten Gesellschaft

von Paulina Cwiartka


Über 50 Jahre bewaffneter Konflikt, sieben Jahre Friedensvertrag. Wie steht es um den Friedensprozess und den Wunsch nach Wiedergutmachung?

(Berlin, 02. Februar 2023, npla) - Nach über 50 Jahre bewaffnetem Konflikt in Kolumbien wurde 2016 der Friedensvertrag zwischen der kolumbianischen Regierung und der Guerillabewegung FARC von beiden Seiten unterschrieben. Seitdem bemühen sich verschiedene Institutionen darum, die Überlebenden des Konflikts zu entschädigen und die Wahrheit über die Gräueltaten aufzudecken, die während des bewaffneten Konfliktes die kolumbianische Bevölkerung immer aufs Neue erschüttert haben. Paulina Cwiartka hat sich mit der Kommunikationwissenschaftlerin María Carolina Herrera Irurita und der Menschenrechtsverteidigerin Virgelina Chará unterhalten. Sie berichtet von der Organisation UBPD, die nach verschwundenen Personen sucht.

Die Hauptgewalttaten gegen die Kolumbianerinnen

Im Interview mit María Carolina Herrera Irurita, die als Dozentin an der Pontificia Universidad Javeriana in Bogotá arbeitet, sprachen wir über die Entschädigung der Frauen in Kolumbien. Die kolumbianische Kommunikationswissenschaftlerin und Journalistin hat sich auf Menschenrechte und Friedenskultur spezialisiert und ist Mitglied der Wahrheitskomission, wodurch sie täglich einen direkten Blick in die Entschädigungs- und Wiedergutmachungsprozesse bekommt. "Von circa 9 Millionen Opfern, die wir in Kolumbien haben, sind fast die Hälfte Frauen (...) In das Opferschutzgesetz wurden drei Hauptgewalttaten aufgenommen: Zwangsvertreibung, sexualisierte Gewalt und gewaltsames Verschwindenlassen. Das sind die relevantesten Gewalttaten".

Die Relevanz der intersektionalen Perspektive

Viele Kolumbianerinnen durchlebten ähnliche Schicksale, jedoch wäre es falsch, alle Fälle gleich zu behandeln. Carolina betont, wie wichtig der intersektionale Blick im Prozess der Wiedergutmachung ist: "Es wird erkannt, dass die Auswirkungen des Konflikts auf die Opfer differenziert und unverhältnismäßig waren und die Entschädigung dementsprechend differenziert sein muss. Um in der Lage zu sein, dies zu tun, ist eben die intersektionale Perspektive wichtig. Es ist von großer Bedeutung, dass die Wiedergutmachung z.B. für schwarze Frauen, die Teil des Kollektivs sind, oder für indigene Frauen differenziert wird. Deshalb ist das Gesetz 1257 so innovativ, weil es von Wiedergutmachungselementen spricht, die sowohl individuelle Personen als auch Gruppen, die sich hier in Kolumbien als Kollektive verstehen, entschädigen sollen."

Die Rolle der Übergangsjustiz

Das Ziel ist, allen Opfern eine möglichst komplette Wiedergutmachung zu gewähren; deshalb einigte man sich in Kolumbien auf eine Übergangsjustiz. In Deutschland kennen wir diese Form der Justiz aus den Nürnberger Prozessen. Sie wird eingesetzt, wenn man mit Gräueltaten zu tun hat, bei denen die konventionelle Justiz an ihre Grenzen stößt, und sie dient unter anderem der Aufarbeitung eines systematischen Verbrechens. Dazu Carolina: "Die Priorität der Übergangsjustiz ist, die Opfer in den Mittelpunkt zu stellen. In Kolumbien ist diese Justizform ganz besonders. Wir begannen mit der Übergangsjustiz im Gerechtigkeits- und Friedensprozess gegen die paramilitärischen Gruppen. Später, mit dem Gesetz 1257 von 2011, leiteten wir die Prozesse der Wiedergutmachungsjustiz und des Friedensabkommens ein, die auch im Rahmen der Übergangsjustiz geführt werden." Um die Übergangsjustiz umsetzen zu können, wurden offizielle Institutionen ins Leben gerufen: die Wahrheitskommision, die für das Aufarbeiten der vergangenen Jahrzehnte verantwortlich ist, sowie die Sucheinheit (UBPD) für verschwundene Personen. Nach Angaben der UBPD waren Ende November 2022 mehr als 90.000 Personen im Kontext des bewaffneten Konfliktes als verschwunden gemeldet.

Die Romantisierung der Wiedergutmachung

Wir fragten unsere Interviewpartnerin, wie sie die Entschädigungsprozesse wahrnimmt. Sie gab zu, einige Zweifel zu haben: "Es ist wichtig, die Entschädigungen nicht zu romantisieren, weil es viele Opfer gibt, die nie das Gefühl haben werden, vollständig entschädigt zu sein. Unabhängig davon, in welchem Umfang entschädigt wird, wie oft die Schuldigen um Verzeihung bitten, wie oft man öffentliche Anhörungen durchführt und dass die Unterzeichner/innen des Friedensvertrags ihre Pflichten erfüllen - die Opfer werden sich nie entschädigt fühlen, so grausam waren die Ereignisse in unserem Land. Ihnen wurden ihre Söhne, Töchter und Ehemänner weggenommen, und die Leichen der Verschwundenen wurden bislang nicht gefunden. Der Schmerz sitzt tief und ist sehr individuell."

Die Wiedergutmachungsmaßnahmen

Die Opfer des bewaffneten Konfliktes haben das Recht auf fünf verschiedene Maßnahmen: Wiederherstellung ihrer Rechte, finanzielle Entschädigung, professionelle Unterstützung bei rechtlichen, gesundheitlichen, psychischen und sozialen Angelegenheiten, Genugtuung und Garantien für die Nichtwiederholung. Abhängig von dem Ausmaß und der Art der Gewalttaten haben die Kolumbianer*innen einen Anspruch auf eine oder mehrere dieser Maßnahmen. Herrera hält vor allem die finanzielle Entschädigung für nötig, aber nicht ausreichend: "In finanzieller Hinsicht ist es nicht möglich, jemanden vollständig zu entschädigen. Es verschafft nur eine kurzfristige Erleichterung. Dass der Staat dir Geld zahlt, ist keine Garantie dafür, dass dir die Schuldigen die Wahrheit sagen, warum sie das getan haben, was sie getan haben. Für die Nichtwiederholung und einen Schutz gibt es dir ebenfalls keine Garantie."

Die Rolle der Frauen im Friedensprozess

Wir haben Carolina gefragt, welche Rolle die Aussagen und Erfahrungsberichte der Frauen in dem Friedensprozess gespielt haben: "Wir sehen die Frauen nicht nur als Opfer, sondern als Friedensstifterinnen. Wie ich bereits erwähnt habe: Der Krieg hat ihnen viel weggenommen, aber wir sehen sie heute nicht nur als Opfer, sondern als politisch aktive Personen, die für ihre Rechte einstehen, die andere inspirieren und nicht nur darauf warten, dass man ihnen nun alles gibt. Dank diesen Frauen haben wir heute die Organisation, die nach Vermissten sucht. Sie haben die Suche nach ihren vermissten Familienmitgliedern nie aufgegeben. Ihr Widerstand ist absolut inspirierend und wichtig." Eine der mutigen und inspirierenden Frauen ist die kolumbianische Menschenrechtsverteidigerin Virgelina Chará. Sie und ihre Familie wurden während des bewaffneten Konflikts vertrieben und bekamen mehrmals Morddrohungen. Virgelina widmete mehr als 35 Jahre ihrer Arbeit gefährdeten Gruppen in Kolumbien. Heute ist sie eine angesehene soziale Aktivistin und wurde sogar im Jahr 2005 für den Friedensnobelpreis nominiert. Wir fragten sie, ob die Entschädigungs- und Wiedergutmachungsleistungen in Kolumbien ausreichend sind, um den Opfern eine Genugtuung zu gewähren: "Es ist unverhältnismäßig, so einen kleinen Beitrag zu bekommen. Man verlor seine Familienangehörigen, und was man bekommt, sind höchstens 40 Millionen Pesos. Man darf dabei nicht die Familie der entschädigten Person vergessen, denn das bißchen Geld, das die Frau bekommt, muss sie mit ihrer ganzen Familie teilen. Als der Beamte damals zu mir sagte, dass er mir 12 Millionen geben würde und dass ich damit entschädigt sei, antwortete ich ihm, dass ich vollständig entschädigt werden möchte, daraufhin meinte er, das sei nicht möglich. Also sagte ich: 'Dann entschädigen Sie mich wenigstens auf politischer und kultureller Ebene, das kostet Sie doch keinen einzigen Peso'. Auch dies sei nicht möglich, sagte er."

Der vollständige Frieden: Eine Verpflichtung der gesamten kolumbianischen Gesellschaft

Der aktuelle Präsident Gustavo Petro, der erste progressiv-linke Regierungschef Kolumbiens, träumt von einem vollständigen Frieden und arbeitet mit seiner Regierung an der kompletten Umsetzung des Friedensabkommens. Wir haben Virgelina gefragt, ob sie an die paz total, also an den vollständigen Frieden glaube: "Wenn der Tag kommt, an dem die Verfassung von 1991 erfüllt wird, an dem wir aufwachen und die Medien nicht von 5, 6, 10 Toten berichten, an diesem Tag, an dem wir aufwachen und hören, dass es an einem Tag, an zwei Tagen, innerhalb einer Woche, innerhalb eines Monats keinen Toten mehr gegeben hat, erst dann beginnt der vollständige Frieden. Wenn es garantierte Rechte gibt, wenn die Entführungen aufhören, wenn es eine institutionelle Säuberung gibt, wenn die Guerilla komplett entwaffnet ist und der Paramilitarismus verschwindet. An diesem Tag können wir anfangen, über den vollständigen Frieden zu sprechen. Und es ist eine Verpflichtung von uns allen, nicht nur des Präsidenten oder seines Kabinetts. Es ist eine Verpflichtung der gesamten kolumbianischen Gesellschaft."

Hoffnung auf eine friedvolle Zukunft

Sicherlich ist es noch nicht angemessen, über einen Post-Konflikt in Kolumbien zu sprechen, während viele Kolumbianer*innen immer noch unter Gewalt leiden und keine Garantien auf ihre Grundrechte haben. Der Prozess der Entschädigung weist auch einige Schwächen auf und erreichte bis jetzt noch nicht alle Opfer des Konflikts, dennoch haben viele Kolumbianer*innen unter der neuen Regierung von Gustavo Petro Hoffnung auf eine bessere und sichere Zukunft in ihrem Land und vor allem auf paz total, also den vollständigen Frieden, der von dem aktuellen Regierungschef versprochen wurde.


Einen onda-Beitrag (zum Hören) zu diesem Thema ist zu finden unter:
https://www.npla.de/thema/memoria-justicia/hoffnung-auf-einen-vollkommenen-frieden/


URL des Artikels:
https://www.npla.de/thema/politik-gesellschaft/vollstaendiger-frieden-eine-verpflichtung-der-gesamten-gesellschaft/


Der Text ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.
https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/

*

Quelle:
poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen
Herausgeber: Nachrichtenpool Lateinamerika e.V.
Köpenicker Straße 187/188, 10997 Berlin
Telefon: 030/789 913 61
E-Mail: poonal@npla.de
Internet: http://www.npla.de

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 7. Februar 2023

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang