Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → AUSLAND

OSTEUROPA/285: Informelle Arbeit sichert Existenz in Serbien (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 107, 1/09

Überleben
Informelle Arbeit sichert Existenz in Serbien

Von Majda Sikosek


Informelle Arbeit gilt als ein zentraler Bereich der Wirtschaft Serbiens und stellt ein zwiespältiges Problemfeld dar. Einerseits bedeutet sie unsichere Arbeitsbedingungen, andererseits ist sie eine wichtige Einnahmequelle für einen Großteil der Bevölkerung und somit auch förderlich für Serbien. Staatliche Interventionen laufen daher nicht zwangsläufig auf eine Bekämpfung der informellen Arbeit hinaus, wie der folgende Beitrag analysiert.


*


Die Definition der International Labour Organisation(1) für den Begriff der informellen Beschäftigung lautet: "Informelle Erwerbsarbeit ist Beschäftigung ohne jede Form von Verträgen, Beihilfen und ohne soziale Sicherheit für die Beschäftigten." Das heißt, dass die Arbeitenden überhaupt keinen Schutz oder keine arbeitsrechtliche Absicherung haben, was normalerweise durch das Arbeitsgesetz garantiert wird. Dieser Trend der Kostenreduzierung durch Informalisierung ist ein globaler.


Profite auf Kosten informeller Erwerbstätigkeit

In Serbien kommen 37% des BNP aus dem informellen Wirtschaftssektor. 1999 waren es noch 55% oder mehr. Zwischen 2000 und 2002 zeigte der informelle Sektor mit 28% eine fallende Tendenz, er stieg 2007 aber wieder auf 37%. Die erste große Welle der informellen Wirtschaft in Serbien fand während der 1990er Jahre statt und war gekennzeichnet von Kriegen, wirtschaftlichen Krisen und besonders von den wirtschaftlichen Sanktionen der UN von 1992 bis 1995. Die informelle Wirtschaft und der "Cross-border"-Handel (Schmuggel) wurden zur einzigen Einnahmequelle für fast jede Familie in Serbien, vor allem aber für Flüchtlingsfamilien. Es entwickelten sich zwei Grundformen der informellen Wirtschaft: einerseits die informelle Arbeit im informellen Bereich und andererseits die informelle Arbeit im formellen Bereich.


Informelle Arbeit im informellen Bereich

Heimarbeit, Straßenverkauf, landwirtschaftliche Arbeit und Dienstleistungen sind jene Sektoren mit der höchsten Zahl an informell Beschäftigten. Die Landwirtschaft verzeichnet dabei den größten Anteil. Laut serbischer Gesetzgebung müssen landwirtschaftliche Haushalte als Unternehmen angemeldet werden. Sozialabgaben und Pensionsabgaben sollten für alle, die im landwirtschaftlichen Bereich arbeiten, bezahlt werden. Allerdings sind kaum Haushalte angemeldet und wenn Abgaben bezahlt werden, dann nur für eine Person.

Viele Frauen, die in Heimarbeit tätig sind, haben informelle Werkstätten für Kunsthandwerk. In den meisten Fällen scheinen sie in den Listen des Nationalen Arbeitsamtes auf oder sie sind offiziell immer noch bei Unternehmen angestellt, die bereits vor dem Bankrott stehen. Maria S., Kosmetikerin aus Belgrad, hatte bis 1992 ihren eigenen Schönheitssalon, musste ihn aber aufgrund der wirtschaftlichen Probleme schließen. Seither kämpft sie um das Überleben ihrer Familie: Als Alleinerzieherin mit einer 19-jährigen Tochter arbeitet sie teilweise informell als Kosmetikerin. Seit vier Jahren hat sie eine kleine Werkstätte für Makramé(2) und Weben. Als sie ihre Werkstätte anmelden wollte, musste sie aufgrund der hohen Steuervorschreibungen und der enormen administrativen Anforderungen dieses Vorhaben aufgeben. Maria S.: "Wie ist es möglich, dass man im informellen Sektor so viele Möglichkeiten haben kann, während man kaum eine Chance hat, Teil der formellen Wirtschaft zu werden?"


Kein Wirtschaftszweig ist ausgeschlossen

Informelle Beschäftigung im formellen Sektor findet man in jedem Wirtschaftsbereich, sowohl im privaten als auch öffentlichen. Grob gesprochen gibt es vier verschiedene Arbeitsverhältnisse: 1. Das Arbeitsverhältnis basiert auf Vertrauen, es gibt keine schriftliche Vereinbarung und die Bezahlung erfolgt bar. 2. Das Arbeitsverhältnis basiert auf einem formalen Vertrag, Sozialabgaben und Pensionsbeiträge werden aber nicht bezahlt. 3. Die Hälfte des Lohns wird offiziell ausbezahlt und alle Abgaben werden auf einer 50%-Basis berechnet. Die andere Hälfte des Lohns erhalten die Arbeitenden bar, ohne dass Abgaben und Steuern dafür bezahlt werden. 4. Dieser Bereich umfasst die unbezahlten und unregistrierten Überstunden im formalen Arbeitssektor.

Das Baugewerbe, die Textil- und Kleidungsindustrie sind die Bereiche mit den höchsten informellen Beschäftigungszahlen und den meisten unbezahlten Überstunden. "Überstunden sind sehr schwer zu kontrollieren", sagt Radmila Bukumiric-Katic, die stellvertretende Arbeitsministerin. "Laut Gesetz sind ArbeitgeberInnen nicht dazu verpflichtet, die Zahl der Überstunden der ArbeiterInnen zu registrieren. Auch wenn das gesetzlich vorgesehen wäre, würde sich das Problem der Kontrolle stellen." Die Arbeitnehmenden sind selten bereit, die Verstöße ihrer ArbeitgeberInnen zu melden.

Beispielhaft dafür ist die Situation in Pancevo, einer Stadt in der Nähe von Belgrad. Von den insgesamt 127.162 EinwohnerInnen sind 88.821 im arbeitsfähigen Alter, 37.700 Personen sind offiziell als Arbeitende gemeldet. Geschätzte 500 bis 600 Menschen arbeiten zu Hause für die Schuh- und Bekleidungsindustrie. Die Mehrzahl dieser Heimarbeitenden ist zwar formell angestellt, das Gehalt reicht aber nicht zur Bestreitung des Lebensunterhalts. Zusätzliche Arbeit suchen sie im informellen Sektor. Pancevo hat einen der größten offenen Märkte in Serbien mit einem großen Angebot an Kleidung. Folglich ist informelle Arbeit in der Bekleidungsindustrie besonders häufig. Es handelt sich dabei um Arbeit für lokale ArbeitgeberInnen, die Verkaufsstände im offenen Markt besitzen, nicht um Arbeit für große Marken ausländischer Firmen.


Ambitionierte Pläne

Das Ministerium für Arbeit und Soziales plant für das erste Halbjahr 2009 einen Aktionsplan, um die informelle Beschäftigung in allen Wirtschaftsbereichen zu reduzieren, und sieht bei Vergehen hohe Geldstrafen vor. Darüber hinaus ist eine "schwarze Liste der UnternehmerInnen" geplant. Hier angeführte Unternehmen sollen keine staatlichen Unterstützungen mehr bekommen und können sich nicht an Ausschreibungen beteiligen. Der Aktionsplan der Gewerkschaften für die erste Hälfte des Jahres 2009 sieht eine Informationskampagne zur Organisierung der informell Arbeitenden vor. Sie sollen juristische Beratung und - falls nötig - auch finanzielle Unterstützung erhalten. Geplant ist auch die Information über Arbeitsrechte und den sozialen Dialog in den Berufsschulen.


Finanzkrise: ein Strich durch die Rechnung

Miladin Kovacevic, stellvertretender Manager des Staatlichen Statistischen Instituts und Berater des Wirtschaftsinstituts meint: "Nur die informelle Wirtschaft kann die dunklen Tage, die vor uns liegen, erhellen. Auf der Basis grundlegender Standards ist Serbien der kommenden wirtschaftlichen Krise gegenüber besser gewappnet als entwickelte Länder. Der Grund dafür ist die hohe informelle Beschäftigung am lokalen Markt. Das ist nur in wirtschaftlich weniger entwickelten Ländern möglich, die nicht auf eine spezielle Produktion oder Dienstleistung spezialisiert sind, die nicht industrialisiert sind und keine extensive Produktion haben."

Trotz vieler Pläne und Ideen zur Reduktion der informellen Beschäftigung fragt sich Radmila Bukumiric-Katic, ob es die richtige Zeit für die Umsetzung dieses Aktionsplans ist, da es aufgrund der ökonomischen Krise starke Einbußen geben wird. Offenbar sind weder Staat noch Gewerkschaften darauf vorbereitet, das Problem tatsächlich zu bekämpfen und den Menschen, die im informellen Sektor beschäftigt sind, zu helfen. Alles scheint auf eine Schlussfolgerung hinauszulaufen: Der informelle Sektor ist die Überlebensstrategie des serbischen Staates und wird es auch noch lange bleiben. Niemand sieht darin ein Problem. Wichtig ist, dass Menschen Arbeit haben und ihr Überleben zumindest teilweise selbst sichern können.

Frauen sehen angesichts dieser Aussagen schwierigen Zeiten entgegen. Die Finanzkrise wird bereits jetzt von einigen Unternehmen als Grund angeführt, ArbeitnehmerInnen zu entlassen, und Frauen sind dabei die ersten, die gekündigt werden. Die ambitionierten Maßnahmen zur Reduzierung der informellen Wirtschaft werden bereits als Wünsche abgetan und die Implementierung der Aktionspläne hintangestellt. Felicitas(3) wird in Anbetracht der momentanen Situation in ihrer Arbeit verstärkt ihre Advocacy-Tätigkeit mit den VertreterInnen von Regierung und Gewerkschaft intensivieren, um bessere Positionen von Frauen im serbischen Arbeitsmarkt zu garantieren.


Anmerkungen:
(1) international Labour Organisation ILO (www.ilo.org).
(2) Macramé ist eine spezielle Technik des Knüpfens.
(3) Felicitas ist eine serbische NGO, die in erster Linie Frauen, die in der informellen Wirtschaft - vorrangig als Heimarbeiterinnen - tätig oder arbeitslos sind, organisiert.

Zur Autorin:
Majda Sikosek ist Chefkoordinatorin und Gründungsmitglied von Felicitas sowie Regionalkoordinatorin eines Heimarbeiterinnennetzwerkes in Südosteuropa.

Übersetzung aus dem Englischen: Elisabeth Freudenschuß


*


Quelle:
Frauensolidarität Nr. 107, 1/2009, S. 30-31
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
Berggasse 7, 1090 Wien,
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
Telefax: 0043-(0)1/317 40 20-355
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
http://www.frauensolidaritaet.org

Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
Einzelpreis: 5,- Euro;
Jahresabo: Inland 20,- Euro; Ausland 25,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Juni 2009