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FINANZEN/309: "Wirtschaftskrise und Zukunft öffentlicher Bildung und Wissenschaft" (GEW/BdWi/Memo)


Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik
Presseerklärung GEW, BdWi, Memo vom 28. Juni 2009

"Wirtschaftskrise und Zukunft öffentlicher Bildung und Wissenschaft"


Am 27.6.2009 fand in Berlin eine gemeinsame Veranstaltung der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, des Bundes demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi) und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) statt.

Ergebnis der Tagung war die Befürchtung, dass es in Anbetracht der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise nach der Bundestagswahl Ende September zu einem großen "Kassensturz" kommen wird. Vor dem Hintergrund der Grundgesetzänderung bezüglich der Neuverschuldungsregelungen für Bund und Länder ("Schuldenbremse") sind drastische Kürzungen im Bereich öffentlich finanzierter Bildungsausgaben zu erwarten. "Dies hätte angesichts der bereits heute bestehenden strukturellen Unterfinanzierung im Bildungssektor katastrophale Folgen für die gesamte gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland" erklärte Prof. Dr. Heinz-J. Bontrup einer der Sprecher der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik und Mitglied des BdWi. "Wir wollen vor der Wahl wissen, welche Partei die Forderung der Erhöhung der öffentlichen Bildungsausgaben auf 7 Prozent des BIP unterstützt" forderte der Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Ulrich Thöne.

Die Veranstalter verabschiedeten die beigefügte gemeinsame Erklärung.


Erklärung
- der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (Memorandumgruppe)
- des Bundes demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi) und
- der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW)

anlässlich der gemeinsamen Fachtagung
"Wirtschaftskrise und Zukunft öffentlicher Bildung und Wissenschaft"
in Berlin am 27. Juni 2009


Die gegenwärtige tiefgreifende Wirtschafts- und Gesellschaftskrise ist auch ein Ausdruck eines defizitären Bildungs- und Wissenschaftssystems. Damit ist nicht nur die seit Jahrzehnten anhaltende strukturelle Unterfinanzierung in allen Bereichen öffentlicher Bildung gemeint; es handelt sich auch um eine Krise der Politik, d.h. es fehlt an einer koordinierten gesamtgesellschaftlichen politischen Regulierung und Bildungsplanung, welche die Lösung der eng miteinander verzahnten Probleme in Angriff nimmt. Stattdessen wird die politische Verantwortung vernebelt, zwischen verschiedenen Entscheidungsebenen ständig hin und her geschoben. Schließlich führt eine ruinöse "wettbewerbsföderalistische" Konkurrenz der einzelnen Bundesländer dazu, dass diese sich noch gegenseitig knappe Ressourcen und Fachkräfte (Lehrerinnen und Lehrer) abwerben, um eigene finanzielle Anstrengungen in Grenzen halten zu können.

In der Verwahrlosung des deutschen Bildungssystems kommt vor allem die Vernachlässigung von Investitionen in die öffentliche Infrastruktur während der letzten 10-15 Jahre zum Ausdruck. Dieses Versäumnis ist die logische Kehrseite einer Shareholder-value-orientierten wettbewerbsstaatlichen Politik, die kurzfristige Konkurrenzvorteile etwa auf dem Exportmarkt vor allem durch eine umfassende Kostensenkungsstrategie erkaufen wollte: im Hinblick auf Löhne, soziale bzw. staatliche Ausgaben, auf öffentliche Aufgaben generell, die stattdessen zunehmend für Privatisierungsstrategien geöffnet wurden, welche die bestehende Chancenungleichheit verstärken.

Die aktuelle Krise muss der Anlass sein, eine grundsätzliche Wende in der Bildungspolitik und -finanzierung zu erzwingen. Das ergibt sich schon daraus, dass, je länger mit einer überfälligen Sanierung gezögert wird, umso höher die Kosten sind, um später ein bestimmtes Niveau zu erreichen.

Die strukturelle Unterfinanzierung von Bildung und Wissenschaft führt nicht nur dazu, dass ein bestimmtes, im internationalen Vergleich niedriges, durchschnittliches gesellschaftliches Leistungsniveau festgeschrieben wird; viel schlimmer: die Kernprobleme eines der ohnehin sozial selektivsten Bildungssysteme werden verschärft. Einkommensstarke Familien können nicht nur auf private Bildungseinrichtungen ausweichen, sie können auch die Defizite des öffentlichen Systems finanziell kompensieren (private Nachhilfe). Alle Erfahrungen der Bildungsforschung belegen, dass jemand, der einmal im Bildungssystem einen Startvorteil erworben bzw. durch soziale Herkunft mitbekommen hat, diesen während seiner gesamten Bildungslaufbahn immer weiter ausbaut. Die Konzentration finanzieller Zuwächse auf die Förderung von "Exzellenz" und "Elite" im Bereich der höheren Bildung verstärkt diesen "Matthäus-Effekt" noch einmal. Solange etwa unterfinanzierte Hochschulen materielle Zuwächse nur in der so genannten Spitzenforschung erwirtschaften können, führt dies in der Tendenz dazu, dass Mittel, die für das grundständige Studium verfügbar sein müssten, zur Verbesserung der Forschungsinfrastruktur "umverteilt" werden.

Der Anteil öffentlicher Bildungsausgaben am BIP stagniert in Deutschland seit langem um 4,5 Prozent, während allein der OECD-Durchschnitt bei 5,4 Prozent liegt (Schweden und Norwegen: jeweils 7 Prozent). Um allein den OECD-Mittelwert zu erreichen, wären pro Jahr 22 Milliarden Euro an öffentlichen Mitteln mehr erforderlich. Um darüber hinaus grundlegende Defizite zu beseitigen und politisch anerkannte Aufgaben, wie etwa die flächendeckende Einführung von Ganztagsschulen, zu realisieren und ein zukunftsfähiges Bildungssystem zu schaffen, müsste das vom Bildungsgipfel im Herbst 2008 gesetzte Ziel von Bildungsausgaben in Höhe von sieben Prozent des BIP schnellstmöglich umgesetzt werden. Im Vergleich zu diesen zusätzlich notwendigen jährlich 45 Milliarden Euro sind die im Konjunkturpaket II zu Verfügung gestellten Mittel von 8,7 Milliarden Euro (verteilt auf zwei Jahre) geradezu lächerlich.

Der Problembefund ergibt außerdem, dass eine überfällige Zuwachsfinanzierung in einer solchen Höhe unmittelbar mit einer Veränderung der politischen Prioritäten und Regulierungsansätze in der Bildungsökonomie verbunden werden muss. Strategisches Ziel einer neuen Bildungspolitik muss es sein, einer größtmöglichen Zahl von Menschen ein höchstmögliches Bildungsniveau zu ermöglichen. Dabei geben die folgenden Grundsätze den Ausschlag:

Massenqualifikation statt "Elitenförderung": Statt mediale Events um "Exzellenz" und "Elite" zu inszenieren, d.h. knappe Zusatzmittel auf wenige Bereiche zu konzentrieren, muss der Ausbau des Bildungssystems in der Fläche aller grundständigen Einrichtungen unbedingten Vorrang haben. Ein hohes Bildungsniveau in der Breite ist die Voraussetzung für gesellschaftlich relevante Spitzenleistungen in Bildung, Wissenschaft und Forschung. Das beginnt bei einer Stärkung frühkindlicher Bildungseinrichtungen mit Ganztagskindergärten in kleinen Gruppen, geht über eine flächendeckende Versorgung mit Ganztagsschulen, die auch eine pädagogische Ganztagsbetreuung gewährleisten, und mündet in den Ausbau der Hochschulen durch eine drastische Vermehrung vollfinanzierter Studienplätze.

Soziale Ausgrenzung verhindern: Im internationalen Vergleich der OECD-Staaten wird ein Studium zunehmend zum Regelberufsabschluss (OECD-Durchschnitt: 55 Prozent eines Altersjahrganges; skandinavische Länder: 70 Prozent). Dem steht vor allem die traditionelle, im Wesentlichen aus dem 19. Jahrhundert stammende berufsständische Gliederung des deutschen Bildungssystems, die soziale Selektion auf bleibend hohem Niveau stabilisiert, entgegen. Vorrang hat daher der Aufbau eines inklusiven Schulsystems in Verbindung mit gezielten Fördermaßnahmen des Bildungsaufstiegs. Dazu müssen beispielsweise Erfahrungen der beruflichen Praxis und Abschlüsse des dualen Systems als Hochschulzugangsberechtigung anerkannt werden. Erforderlich ist die Wiedereinführung des SchülerInnen-BaföGs und die deutliche Ausweitung des Studierenden-BAföG. Alle privaten Gebühren für die reguläre Beteiligung in öffentlichen Bildungseinrichtungen müssen abgeschafft werden. Kinder mit Migrationshintergrund brauchen unabhängig von Aufenthaltsdauer und Status eine spezifische institutionelle Unterstützung sowie den freien Zugang zu frühkindlicher und schulischer Bildung. Schließlich ist die stärkere politische Regulierung des Weiterbildungsbereiches durch ein Bundesgesetz erforderlich, welches Rechtsansprüche auf Teilhabe, rechtlich garantierte Lernzeiten und zusätzliche öffentliche Finanzierung regelt.


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Quelle:
Presseerklärung vom 28. Juni 2009
Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik
Postfach 33 04 47, 28334 Bremen
E-Mail: memorandum@t-online.de
Internet: www.memo.uni-bremen.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Juni 2009