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GEWERKSCHAFT/019: Potenzial zur Inspiration - Der Streik der Lehrer in Chicago (Sozialismus)


Sozialismus Heft 10/2012

Potenzial zur Inspiration
Der Streik der Lehrerinnen und Lehrer in Chicago

von Sam Putinja



Der Streik der Lehrergewerkschaft CTU in Chicago zeigt, dass mit kreativen Gewerkschaftsstrategien der öffentliche Sektor auch im Austeritätszeitalter erfolgreich verteidigt werden kann, und das auch gegen die gesamte politische Klasse. Sam Putinja zeigt warum.


Die Nachrichten aus und in den USA werden in den letzten Tagen und Wochen durch zweierlei Antiamerikanismen überschattet: einerseits die weltweiten antiamerikanischen Proteste infolge eines islamfeindlichen Videos aus dem rechtsreligiösen Milieu und andererseits die Nachwirkungen eines anderen Videos, in dem Mitt Romney seine antiamerikanischen Gefühle in Richtung der 47% seiner Landsmänner und Landsfrauen kundtut, die er für hoffnungslose, unselbstständige "Sozialschmarotzer" hält.

Nicht nur in den deutschen, sondern auch in den US-amerikanischen Medien ging deswegen beinahe unter, dass am 10. September in Chicago etwa 29.000 LehrerInnen und Schulbedienstete in den Streik traten. Die Brisanz dieser Aktion ergab sich nicht nur aus der Tatsache, dass dies auf dem Höhepunkt des Präsidentschaftswahlkampfes geschah, kurz nach Abschluss der Parteitage von Republikanern und Demokraten. Chicago ist zudem eine wichtige Machtbasis der Demokraten und darüber hinaus die Heimatstadt Barack Obamas. Bei dem Streik der LehrerInnen ging es dabei nicht vornehmlich um höhere Löhne, sondern um die Arbeitsbedingungen, die Arbeitsplatzsicherheit und die Verteidigung des öffentlichen Bildungssystems gegen rechte Privatisierungsversuche, die im vergangenen Jahrzehnt in vielen US-Städten schon durchgesetzt wurden.

Die Tarifgespräche zwischen den Mitgliedern der Lehrergewerkschaft Chicago (CTU) und der städtischen Schulbehörde Chicagos (CPS), die die 68' Grund- und weiterführenden Schulen in Amerikas drittgrößter Stadt überwacht, endeten Sonntagabend, dem 9. September, nach einer zehnmonatigen Laufzeit ohne eine Einigung. Die Arbeitsniederlegung erfolgte infolge des Scheiterns der Verhandlungen.

Der Chicagoer Lehrerstreik ist der erste dieser Art seit 25 Jahren. Er vollzog sich vor dem politischen Hintergrund, dass die Demokratische Partei, die traditionell der politische Verbündete der US-Gewerkschaftsbewegung gewesen ist, sich auf eine neoliberale Transformation des Bildungssektors in den USA festgelegt hat. Die Republikanische Partei verficht diesen Ansatz schon lange.


Neoliberale Reformen im Bildungssektor

Seit Jahren laufen die Reformbemühungen im Bildungssektor in Richtung öffentlich subventionierter Privatschulen, der so genannten Charter-Schulen, und der Einführung von standardisierten Leistungstests, die die Leistungen der SchülerInnen und - ganz entscheidend - auch der LehrerInnen vergleichbar machen sollen. Ziel ist, die "schlechten" LehrerInnen auszusortieren und durch neue ersetzen zu können. Die Befürworter solcher neoliberalen Reformen im Bildungssektor nehmen an, dass die Leistungen der SchülerInnen hauptsächlich durch die Qualität der LehrerInnen und ihres Unterrichts bestimmt werden. Der sozioökonomische Status der Kinder, die Divergenzen in der öffentlichen Mittelvergabe an die Schulen, die Unterschiede bei den Arbeitsbedingungen der LehrerInnen wie z.B. der Personalschlüssel, d.h. die Klassengrößen, spielen in den Augen der Neoliberalen allenfalls eine untergeordnete Rolle. In der ideologischen Kampagne zugunsten eines solchen Umbaus der Schulen sind die Lehrergewerkschaften der Buhmann. Mit ihren kollektiven Tarifverträgen und dem darin verankerten Kündigungsschutz werden sie als Hemmschuh dargestellt; mit ihren Interessen stünden sie den Interessen der SchülerInnen und ihrer Eltern entgegen. Dieser Mythos ist durch die langjährigen Kampagnen mittlerweile weit in den Alltagsverstand der Bevölkerung vorgedrungen. Dies ist nicht zuletzt Folge davon, dass eine Reihe von teilweise kultisch verehrten Persönlichkeiten mitgeholfen hat, ihn zu verbreiten. So soll der Apple-Gründer Steve Jobs nach Angaben seines Biografen Walter Isaacson Präsident Obama bei einem Treffen gesagt haben: "Solange die Macht der Lehrergewerkschaften nicht gebrochen ist, besteht eigentlich keine Hoffnung auf eine Reform des Bildungssystems."(1)

"In der ideologischen Kampagne zugunsten eines neoliberalen Umbaus der Schulen sind die Lehrergewerkschaften der Buhmann."

Der politische Gegner der Gewerkschaften ist Chicagos Bürgermeister Rahm Emanuel. Emanuel war lange Obamas Stabschef im Weißen Haus und verließ seinen Posten, um sich um das jetzt von ihm bekleidete Amt zu bemühen. Wenige Monate nach seinem Wahlerfolg im Februar 2011 behauptete Emanuel, Chicago gehe einem Haushaltsdefizit von mehr als 630 Mio. US-Dollar entgegen. Dasselbe Muster, das im Zuge der Krise in zahlreichen anderen Städten und Bundesstaaten angewendet worden ist, kam auch bei Emanuel zum Tragen: Dieser nahm nun die Beschäftigten im öffentlichen Dienst ins Visier, um sie die Kosten der Krise bezahlen zu lassen. Nach seinem Amtsantritt kamen die üblichen neoliberalen Reformen zum Einsatz (Verlängerung des durchschnittlichen Schultags, größere Klassen, standardisierte Leistungstests für alle Studierenden, Schließung von Schulen bzw. teilweise Ersetzung durch Charter-Schulen).

Bürgermeister Emanuel verfügte dabei über die nötigen Machtressourcen, denn sein Vorgänger hatte im Rahmen seiner eigenen Bildungsreform wichtige demokratische Mitbestimmungsinstanzen beseitigt. In den USA werden Schulen normalerweise von gewählten, kommunalen Schulbehörden vertreten. In der Amtszeit von Emanuels Vorgänger, des Demokraten Richard J. Daley, wurde diese Schulbehörde 1995 jedoch abgeschafft und für alle Chicagoer Schulen durch ein Amt ersetzt, dessen Mitglieder vom Bürgermeister selbst ernannt werden. Pikanterweise ist die öffentliche Bildung seit dieser Entscheidung signifikant schlechter geworden. Dies betrifft - nicht nur in Chicago, sondern überall in den USA - besonders die Qualität der Schulen von Kindern aus armen und Minderheitenhaushalten, weshalb viele Kritiker heute von einer neuen Klasse sprechen und einer Resegregation der Schulen nach "Rasse"-Kriterien.

Vor diesem Hintergrund konnte Emanuel sich einigermaßen sicher fühlen, vonseiten der LehrerInnen, SchülerInnen und Eltern Chicagos keinen Widerstand beim neoliberalen Umbau des Bildungssystems heraufzubeschwören. In dieser Einschätzung irrte er sich jedoch. Die Lehrergewerkschaft begehrte gegen Emanuels Pläne auf Dabei profitierten die LehrerInnen von frischem Wind, der durch die Wahl einer neuen Führungsspitze in die Organisation gekommen ist. Im Jahre 2008 gründete eine Reihe von CTU-Mitgliedern in Opposition zur bisherigen Gewerkschaftsführung den Basisdemokratischen Lehrerausschuss (Caucus of Rank and File Educators, CORE). Zwei Jahre später wählten die LehrerInnen ein CORE-Mitglied, die Chemielehrerin Karen Lewis, zur neuen CTU-Präsidentin. Zusammen mit den anderen gewählten reformorientierten CORE-Führungskadern brachte Lewis eine neue Dynamik in die Interessensvertretung. Der alle Vorstand hatte einen Anpassungskurs gegenüber der CPS verfolgt, anstatt die Mitglieder gegen Konzessionen und Privatisierungen zu mobilisieren. Nach dem Amtsantritt suchte der neue Vorstand aktiv das Bündnis mit Elternvertretungen und anderen lokalen Institutionen und Bewegungen, um die Macht- und Verhandlungsposition der LehrerInnen in den Tarifverhandlungen mit der CPS und der Kommunalregierung zu verbessern. Die CTU verfolgte dabei den Ansatz, die Argumente der Gegner aller gewerkschaftlich organisierten LehrerInnen in den USA präventiv zu entkräften. Diese stellten den bösen "greedy teachers" die guten "needy children" gegenüber, d.h. sie argumentierten, "gierige LehrerInnen" würden ihre eigenen Interessen über die "Bedürfnisse der Kinder" stellen.


Breite Bündnispolitik der Gewerkschaften

Die breite Bündnispolitik der Gewerkschaften nahm dieser Rhetorik jedoch den Wind aus den Segeln. Eine Umfrage der Tageszeitung Chicago Tribune vom dritten Streiktag ergab, dass 47% gegenüber 39% der "Wahlberechtigten" den Streik unterstützten (Chicago Tribune, 13.9.2012). Einen Tag später lag laut einer weiteren Umfrage des einflussreichen Politikberichterstatters Capitol Fax der Prozentsatz der Unterstützer in Chicago bereits bei 55,5 zu 40%. Von den Eltern mit Kindern in öffentlichen Schulen in Chicago unterstützten derselben Umfrage zufolge sogar eine Mehrheit von 66 zu 31% den Streik. Während der laufenden Verhandlungen, die Emanuel bewusst mied, demonstrierten Zehntausende CTU-Mitglieder und Unterstützer in den Straßen Chicagos. Nach Ende der ersten Streikwoche kommentierte ein Kolumnist der Chicago Sun-Times (14.9.2012): "Diese Woche ist die Chicago Teachers Union schon jetzt der ziemlich klare Sieger."

Im Vorfeld des Streiks hatte die CTU die Forderung aufgestellt, dass die Kürzungen der letzten Jahre im Bildungsbereich rückgängig gemacht werden und höhere Ausgaben die öffentliche Versorgung sicherstellen sollen. Lewis bezeichnete den Kampf um den öffentlichen Bildungssektor als "die wichtigste Bürgerrechtsschlacht unserer Generation". Von den Neoliberalen ist diese Rhetorik interessanterweise übernommen worden.

Die LehrerInnen lieferten jedoch eine alternative Interpretation, warum so viele Schulen schlecht sind und so viele SchülerInnen im US-Bildungssystem versagen: Die Unterfinanzierung der letzten Jahre hat zahlreiche Fächer zusammengestrichen. In vielen Schulen gibt es heute weder Sport- noch Kunst-, Musik- oder Fremdsprachenunterricht. Mehr als 160 Schulen verfügen über keine Bibliotheken. Etliche sind baufällig und dringend überholungsbedürftig. Viele verfügen nicht einmal über eine Klimaanlage. Diese Zustände spiegeln den niedrigeren sozioökonomischen Status vieler der 350.000 SchülerInnen und der Stadtviertel, in denen sie wohnen, wider. Die LehrerInnen argumentieren, dass die je nach Wohlstand ihres Standortes stark auseinandergehenden und ungleichen Ausstattungen der einzelnen Schulen standardisierte Tests zu keinem geeigneten Mittel machen, um die "Leistung" der einzelnen Schulen und LehrerInnen adäquat zu messen. Armut, zerrüttete Familienverhältnisse, Obdachlosigkeit und Gewalt seien Faktoren, die das erfolgreiche Lernen der Schülerinnen noch zusätzlich negativ beeinflussten. Die Schulbehörde Chicagos lehne aber jede Debatte über diese strukturellen Ungleichheiten ab. Tatsächlich berichtete Karen Lewis in einem Interview nach dem Ende des Streiks, Rahm Emanuel habe ihr persönlich gesagt, dass aus 25% der Chicagoer SchülerInnen nie etwas Anständiges werden würde, weshalb er auch nicht bereit sei, für sie Geld zu verschwenden.(2)

"Der Streik ist eine prekäre Situation für Obama - vor allem auch, weil dieser neoliberale Reformen im Bildungssektor generell unterstützt."

Gesetzlich ist das Tarifverhandlungsrecht der CTU auf die Aushandlung der Gehälter und Lohnzusatzleistungen (Rente, Krankenversicherung) beschränkt. Klassengrößen oder die allgemeine Bildungspolitik der CPS können demzufolge von der CTU nicht beeinflusst werden. Trotzdem versuchte die Gewerkschaft, den Bereich des Verhandelbaren zu erweitern. Das Wall Street Journal (11.9.2012) bezeichnete den Streik in einem Herausgeberkommentar deshalb als illegal.

Dass der Streik überhaupt zustande gekommen ist, kommt einem Wunder gleich. Monate vor dem Streik hatte Bürgermeister Emanuel da; Bundesstaatsparlament überzeugt, ein speziell für Chicago geltendes Gesetz zu verabschieden. Seitdem müssen in einer Urabstimmung über einen Streik 75% aller CTU-Mitglieder mit "Ja" stimmen. Nichtabgegebene Stimmen werden als Nein-Stimmen registriert. Die CTU hielt ihre Urabstimmung im Juni ab und erzielte ein Ergebnis von 90% für den Arbeitskampf. Von allen abgegebenen Stimmen stimmten 98% für den Streik. Lediglich 482 CTU-Mitglieder sprachen sich gegen die Arbeitsniederlegung aus. Dieses kämpferische Erdrutschergebnis mag der Grund gewesen sein, warum Emanuel sich bald sehr gesprächsoffen zeigte und das Zugeständnis machte, im August, d.h. vor Beginn des neuen Schuljahres, 500 neue LehrerInnen einzustellen, um die Ausdehnung des durchschnittlichen Schultages auszugleichen.

Während der republikanische Präsidentschaftskandidat Mitt Romney sich gegen den Streik wandte, drückte sich Obama davor, sich in dem Arbeitskonflikt zu positionieren. Seinem Parteikollegen in den Rücken fallen, konnte Obama nicht. Emanuel hat sich offiziell aus der Wiederwahlkampagne des Präsidenten zurückgezogen, um damit legal berechtigt zu sein, Wahlkampfspenden für Obama zu sammeln. Ebenso wenig durfte Obama die Mitglieder der Gewerkschaften im öffentlichen Dienst gegen sich aufbringen, auf deren Stimmen und Gelder die Demokraten angewiesen sind.

Eine prekäre Situation also für Obama - vor allem auch, weil dieser neoliberale Reformen im Bildungssektor generell unterstützt. Der von ihm ernannte Bildungsminister, Arne Duncan, war zuvor Geschäftsführer der CPS und setzte "Reformen" durch, in deren Folge mehr als 100 öffentliche Schulen mit dem Verweis auf ihre schlechte Performance geschlossen und durch "Charter Schools" ersetzt wurden. Die in den Charter-Schulen angestellten Lehrer und Lehrerinnen verfügen in der Regel fast nie über eine gewerkschaftliche Interessensvertretung und den dementsprechenden Arbeitsschutz und kollektive Tarifverträge. Dass die Demokraten und die Republikaner im Bildungsbereich eine neoliberale Einheitspartei bilden, lässt sich auch an der Tatsache ablesen, dass der antigewerkschaftliche Film "Won't Back Down" ("Wir geben nicht nach!") auf den Parteitagen beider Parteien gezeigt worden ist.


Der Kompromiss

Der Streik in Chicago hat das Potenzial, LehrerInnen in anderen amerikanischen Städten zu inspirieren. Überall im Land sehen sich Lehrergewerkschaften einem ähnlichen Druck vonseiten demokratischer und republikanischer Politiker ausgesetzt. Die Amerikanische-Lehrerföderation ATF, der Dachverband zahlreicher Lehrergewerkschaften und auch der CTU, hat dem Streik in Chicago offiziell seine Unterstützung ausgesprochen. In anderen Städten hat die ATF jedoch auch Privatisierungsmaßnahmen zugestimmt. Der ATF-Präsident Randi Weingarten verfolgt einen Ansatz der Partnerschaft zwischen Schulbehörden und Gewerkschaften zwecks Arbeitsplatzsicherung.

Die CTU kritisiert diesen Ansatz und argumentiert, dass die aus solchen Konstellationen hervorgehenden Tarifverträge keine Arbeitsplätze sichern, sondern lediglich das Einfallstor für mehr Kürzungen und Privatisierungen darstellen. Die Wucht des Streiks in Chicago scheint tatsächlich auf die neue Führungsspitze zurückzuführen sein. Sie kürzte den höheren Gewerkschaftsfunktionären übermäßig hohe Gehälter und kanalisierte die dadurch gewonnenen Einsparungen in die Mobilisierung der Mitglieder. Bündnisse mit Gruppen wie Parents 4 Teachers und Occupy Chicago unterstrichen dabei die Botschaft, dass die LehrerInnen nicht bloß eigene Interessen vertreten, sondern für die Bildungschancen und die Bildungsbedingungen ihrer SchülerInnen kämpfen.

Am späten Freitagabend, den 14. September, wurde bekannt, dass eine baldige Einigung möglich sein werde. Beide Tarifparteien erklärten, dass ein Rahmen gefunden worden sei, in dem der Arbeitskampf beendet werden könne. Die Details werde man über das Wochenende ausarbeiten. Schon vor Streikbeginn hatte sich nach Angaben der CTU-Präsidentin Karen Lewis abgezeichnet, dass auch eine Einigung in Bezug auf die Gehälter naherücke. Außerdem scheint sich die CPS bereit erklärt zu haben, in einigen Schulen wieder Kunst-, Musik-, Fremdsprachen- und Sportunterricht einzuführen. Der am Wochenende nach der ersten Streikwoche ausgehandelte, vorläufige Tarifvertrag wurde noch am Sonntag, den 16. September, einem Sonderausschuss aus 700 Gewerkschaftsdelegierten vorgelegt. Dieser sollte Angaben der CTU zufolge dann Empfehlungen abgeben, ob der Streik fortgesetzt werden soll oder nicht. Eine Urabstimmung würde danach wiederum über diese Empfehlung entscheiden.

"Der Streik wird von vielen als ein dringend benötigter und überwältigender Erfolg gefeiert, der kämpferische Aktionen nach sich ziehen könnte."

Die Delegiertenversammlung der Gewerkschaften stimmte zunächst für eine Fortsetzung des Streiks, um den CTU-Mitgliedern eine Auseinandersetzung mit dem vorläufigen Verhandlungsergebnis zu ermöglichen. Dieses sieht eine nach Dienstjahren und Lehrerausbildungsqualifikationen gestaffelte Gehaltsstruktur vor. Eine Gehaltserhöhung von 16% bei einer Tarifvertragslaufzeit von drei Jahren ist veranschlagt worden. Die Einführung eines leistungsbezogenen Entgeltsystems, wie von der CPS vorgesehen, wurde erfolgreich bekämpft und ist gescheitert. Den LehrerInnen scheint es zudem gelungen zu sein, das prioritäre Berücksichtigungsrecht bei Wiedereinstellungen für zukünftig entlassene LehrerInnen zu gewinnen - allerdings nicht für alle, sondern nur für einen Teil. Dies war ein Knackpunkt der Verhandlungen, weil die Abschaffung dieses Rechts eine zentrale Forderung Emanuels war. Die CTU signalisierte ihre Konzessionsbereitschaft mit ihrer Zustimmung zu einer komplizierten Vertragsklausel, die standardisierte Tests für einen Teil der Lehrerevaluationen zulässt, aber den Zusatz vorsieht, dass LehrerInnen deren Ergebnisse reklamieren können. Kleinere Klassengrößen konnten von der CTU nicht durchgesetzt werden, aber immerhin das Versprechen, mehr Sozialarbeiter, Krankenpfleger und Schulpsychologen einzustellen - indes nur unter der Voraussetzung, dass das Budget der Stadt das hergebe.

Der Kompromiss konnte auch nicht die geplanten Schulschließungen verhindern. Etwa 80-120 Schulen sollen weiterhin geschlossen und die dort angestellten LehrerInnen entsprechend entlassen werden.

Auf die Ankündigung der Delegiertenversammlung, den Streik fortzusetzen, reagierte CPS am Montag, den 17. September, mit einer Klage vor Gericht. Ziel: die Illegalisierung des Streiks. In der Klage wurde argumentiert, die LehrerInnen würden nicht-ökonomische Forderungen wie kleinere Klassengrößen und die Nichteinführung von Lehrerevaluationen vertreten. Dies mache den Streik illegal. Zudem sei der Streik eine "Waffe", die eine "eindeutige Gefahr für die öffentliche Sicherheit" darstelle, weil er die SchülerInnen vom Schulbesuch abhalte. Interessant dabei: Die CPS erkannte an, dass sage und schreibe 84% der Kinder im Schulbezirk Chicago so arm seien, dass sie auf Dienstleistungen wie vergünstigte oder kostenlose Schulmahlzeiten angewiesen sind. "Eine verletzliche Bevölkerung" sei "durch die CTU-Entscheidung, die Schulen zu schließen, beiseite gestoßen worden."

Der vorsitzende Richter lehnte es ab, sofort eine Entscheidung zu fällen, und vertagte diese auf Mittwoch, den u. September. Dazu kam es jedoch nicht mehr, weil die Delegiertenversammlung der Gewerkschaften am Vorabend dafür stimmte, den Streik zu beenden. Eine offizielle Abstimmung über den Tarifabschluss, bei der alle Mitglieder beteiligt worden wären, wäre ansonsten in den nächsten Wochen abgehalten worden.


Demokratische Mitgestaltung und klassenkämpferischer Kurs

Auch wenn die Gewerkschaften es nicht vermochten, alle ihre Forderungen durchzusetzen, wird der Streik von vielen als ein dringend benötigter und überwältigender Erfolg gefeiert. Ähnlich kämpferische Aktionen könnten folgen. Die strategische Entscheidungen der CTU werden von vielen Gewerkschaftsaktivisten als Modell für andere Gewerkschaften angesehen insbesondere für die Gewerkschaften im öffentlichen Dienst, die in der Krise harschen Angriffen ausgesetzt sind, weil sie sich - im Gegensatz zu den Gewerkschaften im Privatsektor - eine höhere Gewerkschaftsdichte erhalten haben. So schreibt Peter Brogan, ein CTU-Unterstützer, der sich zur Zeit des Streiks in Chicago aufhielt: "Die CTU bietet den Gewerkschaften im öffentlichen Dienst ein neues Modell für Widerstand und kollektive Interessenvertretung" (Socialist Project, 21.9.2012).(3) Der wichtigste Aspekt dieses neuen Modells ist der Kurswechsel der CTU-Gewerkschaftsführung 2010. Dieser stellt eine radikale Kehrtwende in der politischen und strategischen Orientierung der Gewerkschaft dar. Anstatt einfach im Namen der Mitglieder zu verhandeln und diesen ein paar Dienste zu leisten, wurde die Entscheidungsmacht an die Gewerkschaftsbasis zurückgegeben und die Mitglieder zur täglichen demokratischen Mitgestaltung des Kurses der Gewerkschaft animiert. Darüber hinaus verfolgte die CTU einen breiteren, klassenkämpferischen Ansatz in ihrer politischen Strategie. Indem die Gewerkschaft die Verteidigung und die Verbesserung der öffentlichen Bildung als ihr erklärtes Ziel ausgaben, zeigte sie zweierlei: ihre Interessen beschränken sich erstens nicht allein auf die Gehälter und die Arbeitsbedingungen ihrer Mitglieder; zweitens versteht sie sich als Interessensvertretung auch der Ausbildungsbedingungen der Kinder der Chicagoer Arbeiterklasse. Dies unterstrich die CTU, indem sie sich mit Elternvertretungen und linken sozialen Bewegungen verbündete - eine Allianz, die sich insofern auszahlte, als die Stadtbehörden schließlich einsehen mussten, dass die Strategie, einen Keil zwischen die LehrerInnen und die Arbeiterklasse Chicagos zu treiben, nicht funktionieren würde. Kurzum: Der Chicagoer Lehrerstreik ist ein praktisches Musterbeispiel für einen bewegungsorientierten Ansatz in der Gewerkschaftspolitik.

"Der Chicagoer Lehrerstreik ist ein praktisches Musterbeispiel für einen bewegungsorientierten Ansatz in der Gewerkschaftspolitik."

Ein weiterer wichtiger Faktor, auf den auch Brogan hinweist, ist die Tatsache, dass der Basisdemokratische Lehrerausschuss CORE sich nach der Wahl Karen Lewis zur CTU-Präsidentin nicht auflöste, sondern als unabhängige Organisation fortbestand. Damit war gewährleistet, dass eine Gruppe von Aktivisten existierte, die die neue Führung zwar unterstützte, aber zugleich das Recht und die Möglichkeiten für sich reklamierte, die Führung, wo immer nötig, zu kritisieren und zu Kurskorrekturen zu bewegen.

Zu hoffen ist, dass der Sieg der CTU andere LehrerInnen in den USA inspirieren wird, die sich ähnlichen Kürzungen und Bildungs-"Reformen" ausgesetzt sehen. Neue Gewerkschaftsführungen in ihren lokalen Organisationen zu ersetzen, wird hierfür häufig der erste notwendige Schritt sein. Auf lange Sicht wird auch der Führung des Dachverbands, der American Federation of Teachers (AFT), neues Leben einzuhauchen sein, wenn der Kampf gegen den neoliberalen Umbau des Bildungssektors auf nationaler Ebene koordiniert erfolgreich bekämpft werden soll. Die AFT verfolgt gegenüber den Kommunalregierungen im Land einen Ansatz der "Partnerschaft". In der aussichtslosen Hoffnung, durch Konzessionen Arbeitsplätze zu sichern und den gewerkschaftlichen Organisierungsgrad zu erhalten, wurden der Vormarsch der Charter-Schulen und die Einführung der standardisierten Leistungsüberprüfungen für LehrerInnen in Kauf genommen.

Die LehrerInnen in den USA werden sich auch mit der Tatsache auseinandersetzen müssen, dass die Demokratische Partei sich genauso dem Neoliberalismus verschrieben hat wie die Republikaner. Damit drängt aber die Frage der politischen Repräsentation. Hinzu kommt, dass auch die linksliberalen Medien, wie die New York Times, dem Widerstand der LehrerInnen keinerlei Sympathie entgegenbringt. Als Aussicht auf die Zukunft mögen die Signale gedeutet werden, dass selbst so traditionell gewerkschaftsfreundliche Zeitschriften wie The Nation sich mehr und mehr hinter die Neuen Demokraten als dem kleineren Übel stellen. Die The Nation-Kolumnistin Melissa Harris-Perry z.B. ignorierte das während des Streiks geschmiedete klassenbasierte Bündnis und die gemeinsamen Interessen der LehrerInnen und Eltern für ein verbessertes und bedürfnisorientiertes öffentliches Bildungssystem und interpretierte den Streik dahingehend, dass die SchülerInnen ins Kreuzfeuer eines Kampfes zwischen den LehrerInnen und den Politikern geraten seien. Damit suggerierte sie gleichzeitig, dass die LehrerInnen nicht das Wohl ihrer SchülerInnen im Blick hätten.(4) Die Vorsitzende der AFT, Randi Weingarten, nimmt offenbar dieselbe Haftung ein, als sie den Link zum Artikel von Harris-Perry über ihr Twitter-Konto mit dem Hinweis weiterleitete, dies sei die beste und "nüchternste" Analyse der so genannten Schulkriege. Weingarten würde gut daran tun, sich einmal mit den nüchternen Analysen von Abertausenden einfacher LehrerInnen auseinanderzusetzen, die auf zig Jahren an Schulerfahrungen beruhen.


Sam Putinja ist Politikwissenschaftler. Er wohnt in Toronto und war von 1995 bis 2006 Betriebsrat in der Logistikindustrie und Mitglied und Aktivist in der International Brotherhood of Teamsters und Teamsters for a Democratic Union. Politisch betätigt er sich heute im Rahmen des Greater Toronto Workers' Assembly. Aus dem Amerikanischen von Ingar Solty.


Internet-Nachweise

(1) Zitiert in http://www.chicagomag.com/Chicago-Magazine/Felsenthal-Files/November-2011/CTU-President-Karen-Lewis-Race-Class-at-Centerof-Education-Debate/

(2) http://www.democracynow.org/2012/9/19/chicago_teachers_union_president_karen_lewis

(3) http://www.socialistproject.ca/bullet/697.php

(4) http ://www.thenation.com/article/170037/casualties-education-reform-wars

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Quelle:
Sozialismus Heft 10/2012, Seite 59 - 63
Redaktion Sozialismus
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. November 2012