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SYRIEN/063: Dominostein Damaskus - vertrieben und gemieden ... (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 8. September 2014

Syrien: Mutterschaft, Krieg und Lagerleben

von Shelly Kittleson


Bild: © Shelley Kittleson/IPS

Überreste einer Straße in Aleppo
Bild: © Shelley Kittleson/IPS

Gaziantep, Türkei, 8. September (IPS) - Die Frau, die das Medienbüro der Islamischen Front (IF) nahe der Grenze zur Türkei betrat, war wegen der Hitze einer Ohnmacht nahe. Doch die junge Syrerin machte sich in dem Moment nur Gedanken um ihr Baby. Sie gehört zu den mehr als drei Millionen, von den Vereinten Nationen registrierten syrischen Flüchtlingen, die nur mit größter Mühe für das Wohl ihrer Kinder sorgen können. Denn in den Kriegsgebieten und Flüchtlingslagern drohen ihnen zahllose Gefahren.

Die junge Mutter, der IPS Anfang August begegnete, lebte zu dem Zeitpunkt in dem Lager Bab Al-Salama im Norden Syriens. Zuvor war sie aus einem heftig umkämpften Bürgerkriegsgebiet vertrieben worden. Ihr Sohn war erst wenige Wochen alt. Die Frau, die ihr Gesicht hinter einem Schleier verborgen hielt, suchte einen Raum, in dem sie ihr Kind fernab der Blicke der Männer stillen konnte.

Sie habe Nierenprobleme und könne deshalb nicht sitzen, sondern nur stehen oder liegen, erzählte sie IPS, nachdem ein 22-jähriger ehemaliger Kämpfer den Raum verlassen hatte, der nun zur Registrierung ausländischer Journalisten vor dem Grenzübertritt diente. Ärztliche Hilfe finde sie aber weder für sich noch für ihren fiebernden Säugling. Obwohl es sehr warm war, wollte sie das lange schwarze Gewand, 'Abaya' genannt, und den Nikap, den Schleier, aus Vorsicht nicht ablegen. "Schließlich haben wir Krieg."

Das Gebiet rund um das Camp Bab Al-Salama, das in unmittelbarer Nähe zur Türkei liegt, wurde bereits mehrmals bombardiert. Bei der Explosion einer Autobombe starben im Mai Dutzende von Menschen. Auf der anderen Seite der Grenze hat die türkische Regierung für mehr als 800.000 von den UN registrierte syrische Flüchtlinge Lager errichtet, die offenbar aber nur knapp 300.000 Menschen aufnehmen können.


Viele Flüchtlinge staatenlos

In formellen und informellen Flüchtlingslagern in aller Welt sind Frauen bekanntermaßen in Gefahr, Opfer sexueller Übergriffe zu werden. Viele Eltern auf beiden Seiten der Grenze nennen dies neben finanziellen Schwierigkeiten als Grund dafür, weshalb sie ihre Töchter jung verheiraten, um ihre 'Ehre' zu schützen und einen Ernährer für sie zu finden. Die Kinder, die aus solchen Verbindungen hervorgehen, sind oft staatenlos, so wie viele syrische Kurden und Angehörige anderer Volksgruppen, denen das syrische Regime von Präsident Baschar al-Assad die Staatsbürgerschaft verweigert.

Mohamed war Offizier in der syrischen Armee, bevor er und seine Familie, Mitglieder einer recht großen Volksgruppe in Idlib, zu Beginn des Bürgerkriegs ins Visier des Regimes gerieten. In den vergangenen Jahren hat er in verschiedenen Brigaden der Rebellenorganisation Freie Syrische Armee gekämpft. Als er hörte, dass Frauen von Shabiha-Milizionären vergewaltigt worden waren, brachte er seine junge Frau, seine Mutter und seine Schwestern über die Grenze in die Türkei. Seitdem besucht er sie dort heimlich, wenn er nicht im Gefechtseinsatz ist.

Derzeit sucht er nach Wegen, um nach Europa zu kommen. Als IPS Mohamed zuerst im Herbst 2013 traf, hatte er noch nicht die Absicht, sein Land zu verlassen. Inzwischen hat er jedoch einen Sohn, der staatenlos ist.


Die einen wollen weg, die anderen bleiben

Das syrische Regime stellte Offizieren bereits vor dem Volksaufstand 2011 keine Ausweise mehr aus, um zu verhindern, dass sie desertierten. Kein Mitglied seiner Familie besitzt Papiere. Mohamed sieht sich nicht in der Lage, für seine Angehörigen zu sorgen. Von der Armee bezieht er keinen Sold mehr, und moderate Rebellengruppen bezahlen ihre Kämpfer nicht angemessen. Extremistischen Gruppierungen, die oftmals besser zahlen, will sich Mohamed nicht anschließen. "Hier gibt es keine Zukunft", sagt er.

Auf der türkischen Seite der Grenze betont Ahmad, der aus der syrischen Industriestadt Aleppo stammt, dass er keinesfalls die Region verlassen werde. "Ich habe meine Frau gefragt, in welches Land der Welt sie gehen würde, wenn sie die Wahl hätte", sagt er. "Und sie hat 'Syrien' geantwortet." Seit seine Frau ihr gemeinsames Kind geboren hat und sich die Lage in Aleppo verschlechtert hat, ist Ahmad nicht mehr als Medienhelfer zwischen beiden Seiten unterwegs.

Bild: © Shelley Kittleson/IPS

Straßenszene in der von Rebellen beherrschten Stadt Aleppo
Bild: © Shelley Kittleson/IPS

Als sich ein kleines Mädchen nähert, um zu betteln, weist er es schroff zurück. Sie solle lieber arbeiten, selbst wenn dies bedeute, dass sie nur Taschentücher auf der Straße verkaufen könne, meint er. "Sie müssen lernen zu arbeiten, statt nur nach Geld zu fragen. Die Türken werden langsam sauer, weil wir hier sind."


Türken protestieren gegen Flüchtlinge aus Syrien

Mehr als 200.000 Syrer leben außerhalb der Lager in Gaziantep, wo sich die Mietpreise seit Beginn des massiven Flüchtlingszustroms in etwa verdreifacht haben. Mitte August kam es zu ersten Protesten der türkischen Bevölkerung in dem Gebiet. Seitdem werden die Flüchtlinge zunehmend zur Zielscheibe von Gewalt. Unterdessen wird versucht, Geld für Schulen in Syrien aufzubringen, die wie Bunker gebaut sein müssten, um den häufigen Angriffen des Regimes auf Schulen und Krankenhäuser standzuhalten.

Neben der Gefahr von Fassbombenangriffen durch die syrischen Truppen des Regimes droht den Menschen die Belagerung der Stadt durch die Armee oder die Einnahme durch die radikal-islamische IS-Miliz. Auch Scharfschützen sind unterwegs. Nachmittags finden sich kleine Jungs auf der Straße zum Fußballspielen ein. Nur durch eine Zeltplane des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR vor potenziellen Heckenschützen abgeschirmt, vergessen sie für eine kurze Zeit die düstere Realität. (Ende/IPS/ck/2014)


Link:

http://www.ipsnews.net/2014/09/no-easy-choices-for-syrians-with-small-children/

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IPS-Tagesdienst vom 8. September 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. September 2014