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SYRIEN/098: Dominostein Damaskus - Elefantenrat ... (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 28. September 2015
(german-foreign-policy.com)

Zynische Optionen


DAMASKUS/NEW YORK/BERLIN - Der deutsche Außenminister beteiligt sich diese Woche in New York an Gesprächen über einen möglichen Interessenabgleich der Großmächte im Syrien-Krieg. Hintergrund sind parallel verlaufende Entwicklungen, die eine Beendigung oder zumindest ein Einfrieren des Kriegs für die westlichen Staaten als angeraten erscheinen lassen. Russland erstarkt und kann im Mittleren Osten nicht mehr ignoriert werden. Zugleich wünscht die US-Administration ihren lange angekündigten weltpolitischen Schwenk nach Ostasien ("Pivot to Asia") zu vollziehen und will vermeiden, sich - wie die Regierung Bush - allzu fest in Mittelost zu binden. Berlin und die EU wiederum unternehmen derzeit alles, um den Zustrom weiterer Flüchtlinge zu stoppen; man könne es sich nicht mehr leisten, den Syrien-Krieg "ausbluten" zu lassen, heißt es. Ein Interessenabgleich, wie er jetzt im Gespräch ist, wäre bereits im Februar 2012 möglich gewesen. Dies berichtet der Diplomat und ehemalige Präsident Finnlands, Martti Ahtisaari. Demnach schlug Russland dem Westen damals vor, Regierung und Opposition in Syrien zu einer Einigung zu veranlassen und Präsident Bashar al Assad nach Ablauf einer Schonfrist zum Rückzug zu zwingen. Laut Ahtisaari lehnte der Westen, Assads Sturz und die Komplettübernahme Syriens als gewiss voraussetzend, den Vorschlag ab. Auch Berlin folgte dieser Linie. Der Gegenstand der aktuellen Gespräche ähnelt Moskaus damaligem Vorschlag - dreieinhalb Jahre und hunderttausende Todesopfer später.


Gespräche in New York

Unter intensiver deutscher Beteiligung finden in diesen Tagen in New York Verhandlungen über Schritte zur Beilegung des Syrien-Kriegs statt. Den äußeren Rahmen bildet die diesjährige Generalversammlung der Vereinten Nationen, zu der zahlreiche Staats- und Regierungschefs sowie Außenminister angereist sind. An den Gesprächen beteiligt sind die westlichen Mächte, insbesondere die USA, Deutschland, Großbritannien und Frankreich, daneben Russland und die Türkei sowie die mittelöstlichen Regionalmächte Iran und Saudi-Arabien. Mehrere parallele Entwicklungen haben die aktuellen Verhandlungen, die einen Interessenabgleich aller involvierten Mächte über die Zukunft des weitestgehend kriegszerstörten Syriens anvisieren, möglich gemacht.


Russland erstarkt

Zum einen ist Russland seit geraumer Zeit dabei, seine Stellung im Nahen und Mittleren Osten zu stärken. Moskau hat im laufenden Jahr umfangreiche Verhandlungen mit der syrischen Regierung, verschiedenen Fraktionen der syrischen Opposition und den involvierten Regionalmächten über den Syrien-Krieg geführt; Präsident Wladimir Putin will auf der UN-Generalversammlung ein neues Bündnis gegen den "Islamischen Staat" (IS) vorschlagen (german-foreign-policy.com berichtete [1]). Gleichzeitig haben die russischen Streitkräfte zuletzt ihre Unterstützung für die Truppen der Damaszener Regierung sowie ihre eigene Präsenz in Syrien ausgebaut. Russische Interessen lassen sich nicht mehr so leicht ignorieren wie noch vor einigen Jahren.


Pivot to Asia

Zum anderen hat der Nukleardeal mit Iran im Westen neue politische Optionen in Mittelost eröffnet. Der Deal ist nach wie vor nicht unumstritten; sowohl in den USA wie auch in der EU, Deutschland inklusive, sprechen sich starke Kräfte im politisch-medialen Establishment gegen ihn aus. Aktuell jedoch nutzen Berlin wie auch Washington die Chance zu Gesprächen mit Teheran, ohne das eine Lösung für den Syrien-Krieg kaum denkbar erscheint. Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel ist bereits im Juli nach Teheran gereist [2]; für Oktober ist ein Besuch von Außenminister Frank-Walter Steinmeier in der iranischen Hauptstadt angekündigt. US-Außenminister John Kerry ist am Samstag in New York zu Verhandlungen mit seinem iranischen Amtskollegen Javad Zarif zusammengetroffen. Er sehe Möglichkeiten, einer Lösung im Syrien-Krieg näherzukommen, sagte Kerry anschließend. Für den heutigen Montag stehen nun Gespräche zwischen US-Präsident Barack Obama und Putin in Aussicht. Beobachtern zufolge wäre die Regierung Obama einem Abgleich über Syrien im Kielwasser des Nukleardeals mit Iran nicht abgeneigt: Sie kommt mit ihrem bereits vor Jahren offen angekündigten, gegen China gerichteten Schwenk nach Ostasien ("Pivot to Asia", german-foreign-policy.com berichtete [3]) wegen ihrer fortdauernden, dabei aber machtpolitisch weitestgehend erfolglosen Interventionen in Mittelost nicht wirklich voran.


Doch nicht "ausbluten lassen"

Schließlich haben zuletzt das Erstarken des IS und die Massenflucht aus Syrien den Druck vor allem auf die EU verstärkt, den Syrien-Krieg nach Möglichkeit zu beenden oder zumindest einzufrieren. "Die Vorstöße des sogenannten Islamischen Staates (IS) wie auch der Flüchtlingsstrom aus Syrien demonstrieren, was die zynische Option, den Konflikt dort einfach 'ausbluten' zu lassen, wirklich bedeutet", heißt es in einem aktuellen Meinungsbeitrag von Volker Perthes, Direktor der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) über die bisherige Politik der westlichen Staaten.[4] Bundeskanzlerin Merkel hat vergangene Woche künftige Gespräche mit Damaskus mit ihrer Äußerung, man müsse bei Bedarf auch mit Syriens Präsident Bashar al Assad verhandeln, quasi offiziell vorbereitet. Vorangegangen waren Gespräche von Außenminister Steinmeier mit seinem US-Amtskollegen Kerry am 20. September in Berlin. Kerry hatte nach dem Berliner Treffen mitgeteilt, einer Übergangslösung, bei der Assad eine Zeitlang im Amt bliebe, stehe aus Washingtons Sicht nichts entgegen. Die Bundesregierung schließt sich dem an.


Kein Kompromiss

Ein Abgleich ähnlichen Inhalts über Syrien wäre mutmaßlich schon Anfang 2012 möglich gewesen. Dies hat unlängst der Diplomat und ehemalige Präsident Finnlands, Martti Ahtisaari, berichtet. Wie Ahtisaari schildert, trug ihm Ende Februar 2012 in New York Witali Tschurkin, der Botschafter Russlands bei den Vereinten Nationen, einen Vorschlag für einen Interessenabgleich zwischen Russland und dem Westen über Syrien vor. Der Vorschlag habe drei Punkte umfasst: Die syrische Opposition solle nicht bewaffnet werden; Assad werde dafür zu Verhandlungen mit der Opposition veranlasst; Moskau sei bereit, all dies zu unterstützen und darüber hinaus "einen eleganten Weg für Assad zum Rückzug zu finden".[5] Ahtisaari übermittelte den Vorschlag den UN-Botschaften der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Frankreichs - ohne Erfolg: "Nichts geschah", berichtet der Diplomat; die westlichen Mächte "waren überzeugt, dass Assad in wenigen Wochen" ohnehin "sein Amt verlieren" werde. Auch die Bundesrepublik zählte zu den Staaten, die Vorkehrungen zu Assads Sturz trafen - und daher nicht bereit waren, Absprachen zur Beendigung des Krieges zu treffen: Während der Westen gemeinsam mit der Türkei und Saudi-Arabien daran ging, die Aufständischen in Syrien zu bewaffnen, und dabei letztlich die Entstehung des IS in Kauf nahm (german-foreign-policy.com berichtete [6]), bereitete Berlin im Rahmen des deutsch-amerikanischen Kooperationsprojekts "The Day After" Pläne für die Formierung Syriens nach Assads Sturz vor [7].


Diplomatie à la Verdun

Trifft Ahtisaaris Bericht zu, dann hat der Westen Anfang 2012 die Chance mutwillig verspielt, den Krieg in Syrien mit einem Interessenabgleich zu beenden. Im Februar 2012 schätzte die UNO die Zahl der Menschen, die in den bewaffneten Auseinandersetzungen in Syrien umgekommen waren, auf mehr als 7.500. Heute werden die Todesopfer dort auf mehr als 250.000 beziffert; weit über elf Millionen Menschen sind auf der Flucht. "Wir haben das verursacht", wird Ahtisaari zitiert.[8] Der Interessenabgleich, der in diesen Tagen in New York zur Debatte steht, unterscheidet sich mutmaßlich nicht sehr von Tschurkins damaligem Vorschlag: Verhandlungen mit der syrischen Opposition sind im Gange; Assads Gang ins Exil ist im Gespräch. Im Auswärtigen Amt heißt es, "der diplomatische Stellungskrieg à la Verdun, den wir in den letzten Jahren hatten", sei nun "hoffentlich vorbei".[9]


Immer größere Übel

Dabei ist keineswegs gesichert, dass der Abgleich zustande kommt und Bestand hat. Sowohl in den USA wie in der Bundesrepublik machen starke Kräfte gegen eine Einigung mobil.[10] "Im Westen kursiert die Vorstellung, man könne Assad jetzt als das kleinere Übel stützen, um ihn später nach Russland ins Exil zu zwingen", heißt es exemplarisch in der Süddeutschen Zeitung: Das sei falsch - "der syrische Diktator" sei "keineswegs das kleinere Übel" gegenüber dem IS.[11] Angestrebt werden müsse demnach unverändert der Sturz Assads. Kommt es dazu, geriete Syrien nach Lage der Dinge vollständig unter die Kontrolle des IS sowie eines salafistisch-jihadistischen Bündnisses, das unter der Führung des Al Qaida-Ablegers Jabhat al Nusra steht - ein später Triumph Osama bin Ladens, dessen Organisation einst als Hauptfeind des Westens im Mittleren Osten und als Anlass der dortigen Neuordnungskriege, nicht aber als eine künftig herrschende Kraft in Syrien galt.


Anmerkungen:

[1] S. dazu Machtkampf in Nahost
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59196

[2] S. dazu Eine neue Ära in Mittelost
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59163

[3] S. dazu Das pazifische Jahrhundert
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58203

[4] Volker Perthes: Eine Lösung für Syrien. Handelsblatt 21.09.2015.

[5] Julian Borger, Bastien Inzaurralde: West "ignored Russian offer in 2012 to have Syria's Assad step aside"
www.theguardian.com 15.09.2015.

[6] S. dazu Die Islamisierung der Rebellion
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58432
Vom Nutzen des Jihad (I)
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59123
und Ein salafistisches Fürstentum
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59122

[7] S. dazu The Day After
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58386
The Day After (II)
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58394
The Day After (III)
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58409
und The Day After (IV)
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58411

[8] Julian Borger, Bastien Inzaurralde: West "ignored Russian offer in 2012 to have Syria's Assad step aside"
www.theguardian.com 15.09.2015.

[9] Martin Schäfer, Sprecher des Auswärtigen Amts, auf der Regierungspressekonferenz vom 25. September.

[10] S. dazu Spitzendiplomat fordert Bundeswehr-Einsatz in Syrien
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59200

[11] Kurt Kister: Warum Assad kein Teil der Lösung ist
www.sueddeutsche.de 25.09.2015.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
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E-Mail: info@german-foreign-policy.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. September 2015

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