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FISCHEREI/264: Aquakultur - Schmuddelkind als Zukunftshoffnung (Leibniz)


Leibniz-Journal - Das Magazin der Leibniz-Gemeinschaft 3/2015

Aquakultur - Schmuddelkind als Zukunftshoffnung

von Tim Schröder


Zerstörte Mangroven und verschmutzte Küstengewässer haben ihr ein denkbar schlechtes Image eingebracht. Tatsächlich aber könnte die Aquakultur eine der wichtigsten Nahrungsquellen der Zukunft werden - wenn es gelingt, sie nachhaltig zu betreiben.


Seegurken sind dicke schwarze Würste am Meeresgrund. Sie sind nicht besonders schön, doch sie haben es in sich. Wie Staubsauger der Ozeane durchwühlen sie den Sand nach Fressbarem und verwerten vieles von dem, was von oben herabrieselt - abgestorbeness, biologisches Material und sogar Kot.

In Asien und ganz besonders in China sind Seegurken beliebte Lebensmittel - nicht zuletzt, weil ihre Trockenmasse zur Hälfte aus wertvollem Protein besteht. Einigen Seegurkenarten ist diese Beliebtheit zum Verhängnis geworden. Fischer haben sie zu Millionen vom Meeresboden geklaubt. In vielen asiatischen Küstengebieten sind ihre Bestände eingebrochen. China und andere Länder stecken deshalb viel Energie in die Entwicklung von Zuchtanlagen. Weil die Nachfrage groß ist und sich Seegurken zu einem guten Preis verkaufen lassen, werden trotzdem noch immer viele im Meer gefangen.

Zur Rettung der Seegurke könnte ein vermeintliches Schmuddelkind beitragen: Die Aquakultur beziehungsweise Marikultur - die Züchtung im Meer - ist in der Vergangenheit immer wieder in die Kritik geraten, aber sie könnte helfen, den Bedarf an Seegurken auch ohne Wildfang zu decken.

Doch es geht nicht nur um schwarze Würste. Aqua- und Marikultur gelten vielen Experten heute als Hoffnungsträger, wenn es darum geht, die wachsende Weltbevölkerung satt zu machen. Fische und Meeresfrüchte könnten in Zukunft erheblich zur Eiweißversorgung der Menschheit beitragen. Schon heute werden weltweit jährlich 44 Millionen Tonnen Fisch und 15 Millionen Tonnen Muscheln und Schnecken in Aquakultur gezüchtet. Allerdings müsste sich die Produktion bis 2050 noch einmal verdoppeln. "Voraussetzung dafür ist, dass es gelingt, die Aquakultur nachhaltig zu betreiben", sagt Andreas Kunzmann, Leiter der Arbeitsgruppe Ökophysiologie am Leibniz-Zentrum für Marine Tropenökologie (ZMT) in Bremen.


Krankheitserreger aus Monokulturen

Kunzmann spielt damit auf Fehler an, die in den vergangenen Jahrzehnten in der Aquakultur gemacht wurden. Für Shrimps-Anlagen wurden in den 1990er Jahren an den Küsten Indonesiens Hunderte Kilometer Mangrovenwälder gerodet. An ihrer Stelle entstanden Monokulturen, in denen sich Krankheitserreger ausbreiteten, die ganze Ernten vernichteten. Antibiotika kamen in großen Mengen zum Einsatz. Anderswo überdüngten Nährstoffe und der Kot der Garnelen die Gewässer und zerstörten so ganze Meereslebensräume.

Inzwischen hat an vielen Orten ein Umdenken hin zu einer umweltschonenden Aquakultur eingesetzt. Andreas Kunzmann trägt seinen Teil dazu bei. Als Ökophysiologe beschäftigt er sich mit dem Stoffwechsel von Tieren. Im Labor und im Freiland untersucht er, wie viel Energie oder Sauerstoff ein Organismus benötigt - und vor allem auch, wie verschiedene Organismen aufeinander wirken, wenn sie zusammenleben.

Das sind fundamentale Erkenntnisse für die Aquakultur der Zukunft. "Letztlich müssen wir weg von Monokulturen wie den Shrimps-Farmen in Indonesien", sagt Kunzmann. "Ideal sind gemischte Aquakulturen, in denen verschiedene Organismen gemeinsam gehalten werden und in denen die Ausscheidungen einer Art den anderen Organismen als Nahrung dienen."


Zukunftsmodell gemischte Aquakultur

Integrierte Multitrophe Aquakultur (IMTA) werden solche Anlagen genannt. Darin lassen sich beispielsweise Fische, Algen, Muscheln und Seegurken gemeinsam züchten. Die Fische werden gefüttert, die Seegurken ernähren sich vom überschüssigen Futter und dem Kot der Fische, die Algen wiederum von sogenannten anorganischen Substanzen, die die Fische ausscheiden. Und dann sind da noch die Muscheln. Sie filtrieren alle möglichen Partikel aus dem Wasser und halten so die Zuchtanlage sauber. Das Futter wird optimal ausgenutzt.

Weltweit gibt es bereits einige IMTA-Projekte. In vielen Fällen aber müssen die Bedürfnisse der Tiere noch genau erforscht werden, ehe man sie erfolgreich in so einer Anlage züchten kann. Mit Forschern in Tansania arbeitet Andreas Kunzmann an einer Methode, Meeresalgen und Seegurken gemeinsam zu halten.

Algen werden dort seit geraumer Zeit für den Export nach Asien und die Nahrungs- und Kosmetikindustrie angebaut. Da sie im Land selbst aber nicht zu hochwertigen Produkten weiterverarbeitet werden, sind die Gewinne gering, das Interesse an der Algenkultur schwindet. "Züchtet man in den Tangwäldern zusätzlich Seegurken in nennenswerter Menge, kann man auf derselben Fläche gleich zwei Produkte ernten." Nachwuchswissenschaftler aus Tansania und Kunzmanns Mitarbeiter haben unter anderem herausfinden können, bei welcher Dichte die Seegurken in den Tangwäldern am besten gedeihen: 200 Gramm Seegurke pro Quadratmeter sind ideal.

Andreas Kunzmann arbeitet auch mit Forschern in Indonesien zusammen, unter anderem mit einem staatlichen Institut, das seit einigen Jahren Seegurken züchtet. "Hier bietet sich auch eine Kooperation mit Tansania an", sagt er. Künftig will der Ökophysiologe auch andere Tiere daraufhin untersuchen, ob sie sich für die IMTA eignen. In einem aktuellen Projekt erforscht er außerdem, inwieweit mit Bakterien verunreinigte Partikel aus dem Abwasser intensiv betriebener Anlagen Krankheiten verbreiten können. Auch damit will er dazu beitragen, die Aquakultur zu optimieren.


Pflegeleichte Pilgermuschel

Eine bessere, umweltfreundliche und Ressourcen schonende Aquakultur ist heute das Ziel vieler Wissenschaftler. Auch der ZMT-Biologe Matthias Wolff geht der Frage nach, wie sich die Aquakultur produktiv und zugleich nachhaltig betreiben lässt. Seit gut 30 Jahren beschäftigt er sich mit einem Meereslebewesen besonders: der Pilgermuschel Argopecten purpuratus. Diese Pilgermuschel ist vor Peru weit verbreitet. Früher tauchten Fischer auf wild gewachsenen Muschelbänken nach ihr. Seit etwa 15 Jahren wird sie meist gezüchtet. In Folge des Klimawandels hat sich das Wasser vor der peruanischen Küste durch eine Veränderung der Meeresströmung abgekühlt. Die Muschel findet jetzt weiter nördlich optimale Lebensbedingungen. Ideal ist die Situation in der etwa 60 Kilometer breiten Sechura-Bucht - hier gibt es weite Sandflächen, auf denen die Muscheln liegen. Zweimal am Tag treibt die Gezeitenströmung frisches, nährstoffreiches Wasser heran. Und auch der Salzgehalt und die Temperaturen stimmen.

Statt wie früher wild gewachsene Muscheln zu sammeln, sind die Tauchfischer dazu übergegangen, Jungmuscheln in der Bucht auszusetzen und zu kultivieren. Bereits nach acht bis zehn Monaten sind die Tiere erntereif. "Die Situation ist perfekt für eine Aquakultur", sagt Matthias Wolff. "Da Muscheln das Wasser filtern, braucht man die Tiere nicht zu füttern. So entstehen keine Kosten, und das Wasser wird nicht verschmutzt." Die ausgesetzten Jungmuscheln werden zuvor bei einer nahe gelegenen Insel wild gesammelt. Anders als bei den Seegurken in Asien schrumpft ihr Bestand aber nicht. Es gibt also stets ausreichend Nachschub für die Kultivierung.

Dennoch geht Matthias Wolff und seiner Mitarbeiterin Lotta Kluger die Arbeit nicht aus. Die Bucht von Sechura ist ein Hotspot der Pilgermuschelzucht. 2013 stammten 88 Prozent der peruanischen und zwei Drittel der südamerikanischen Muschelproduktion von hier. Längst beliefert die Bucht auch Nordamerika und Europa.

"2003 gab es nur drei Fischereiorganisationen, 2013 waren es bereits etwa 140", sagt Kluger. Sie versucht deshalb herauszufinden, wie viele Muscheln in dem Gebiet maximal gezüchtet werden können. Sind es nämlich zu viele, kann sich die Wasserqualität verschlechtern und der Sauerstoffgehalt sowie das Nahrungsangebot so stark abnehmen, dass die Tiere in großer Zahl sterben. Dadurch wäre das Sediment, auf dem die Tiere leben, für mehrere Jahre nicht mehr zu besiedeln.


Welche Rolle spielt El Niño?

In Experimenten vor Ort haben Lotta Kluger und ihre Mitarbeiter den Stoffwechsel und die Lebensbedingungen der Tiere genau untersucht. Anschließend wurden die Daten in ein mathematisches Modell eingegeben. "Wir wollen damit künftig vorausberechnen, wie sich die Situation der Muscheln mit den wechselnden Umweltbedingungen von Jahr zu Jahr oder mit den Jahreszeiten verändern", sagt Kluger. Für die Züchter sind das wertvolle Informationen - denn davon hängt ab, wie viele Saatmuscheln sie aussetzen können, ohne dass die Bucht überlastet wird. Auch das Klimaphänomen El Niño wollen Kluger und Wolff künftig in ihrem mathematischen Modell berücksichtigen. Während eines El Niños verändern sich die Wind-, Temperatur- und Strömungsverhältnisse vor Peru. Außerdem bringt er im Norden des Landes viel Regen, der das Wasser in der Bucht aussüßt - was zum Absterben der Muscheln führen kann. Insofern ist es wünschenswert, dass das mathematische Modell auch die Folgen für die Muschelzüchter antizipiert.

Wolff und Kluger beschäftigen sich daher nicht nur mit Biologie, sondern auch mit der wirtschaftlichen Situation der Muschelzüchter. "In der Bucht gibt es etwa 5.000 Züchter und 20.000 Menschen in der verarbeitenden Industrie - dabei handelt es sich nicht um Großkonzerne, sondern erfreulicherweise um Kleinbetriebe, die zumeist von Tauchfischern geleitet werden", sagt Wolff. Mit ihrer Arbeit wollen die Wissenschaftler ihnen nicht zuletzt Tipps an die Hand geben, wie sie bei wechselnden Umweltbedingungen langfristig möglichst viel ernten können. Selbstverständlich ohne, dass der Lebensraum, der schließlich auch ihre Überlebensgrundlage bildet, Schaden nimmt.

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Quelle:
Leibniz-Journal - Das Magazin der Leibniz-Gemeinschaft, Nr. 3/2015, Seite 22-25
Herausgeber: Der Präsident der Leibniz-Gemeinschaft
Matthias Kleiner
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Dezember 2015

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