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HUNGER/197: Hunger - ein vielschichtiges Problem (Forschungsreport)


ForschungsReport Ernährung · Landwirtschaft · Verbraucherschutz 2/2008
Die Zeitschrift des Senats der Bundesforschungsanstalten

HUNGER - ein vielschichtiges Problem
Die Entwicklung der Nahrungsmittelpreise und ihre Auswirkungen auf die Welternährungssituation

Von Martina Brockmeier und Rainer Klepper (Braunschweig)


Anfang 2007 ging die Bevölkerung in Mexiko auf die Straße, als sich die Preise für das zur Tortillaherstellung verwendete Maismehl innerhalb weniger Wochen verdoppelten. Erst staatliche Eingriffe mit der Festlegung von Obergrenzen für die Tortillapreise konnten die Bevölkerung beruhigen. Auch in vielen anderen Ländern gab und gibt es Unruhen wegen stark gestiegener Lebensmittelpreise, so in Ägypten, Indien, Indonesien und Haiti. Am härtesten trifft es dabei die Ärmsten der Armen. 2,7 Milliarden Personen - fast 40% der Weltbevölkerung - leben von weniger als 2 US-$ am Tag, die bei den aktuellen Nahrungsmittelpreisen kaum mehr zum Leben ausreichen. Der folgende Beitrag geht der Frage nach, welche Auswirkungen die Preisanstiege für Lebensmittel für die Welternährungssituation hat, wo mögliche Ursachen liegen und welche Maßnahmen ergriffen werden können, um die Lage zu entschärfen.


Rückschläge bei der Beseitigung des Hungers

Im Jahr 1996 hatten sich die Teilnehmer des Welternährungsgipfels (World Food Summit, WFS) zum Ziel gesetzt, die Anzahl der chronisch Unterernährten der Welt von 854 Millionen bis 2015 mindestens auf die Hälfte zu reduzieren. Statt knapp 20% der Weltbevölkerung würden dann nur noch weniger als 10% unter Hunger leiden. Der Zwischenbericht der FAO von 2006 konnte nur kleine Fortschritte bei der Bekämpfung des Hungers vermelden; der prozentuale Anteil sank zur Halbzeit geringfügig. Doch die Anzahl der Hungernden blieb wegen des raschen Bevölkerungswachstums nahezu konstant bei 853 Millionen Menschen, etwa dem Doppelten der Bevölkerung der EU-27 (vgl. Abb.1). Ursache für den geringen Fortschritt, so der Bericht der FAO, sei weniger das fehlende Wissen zur Beseitigung des Hungers als vielmehr der mangelnde politische Wille. Gestützt wird diese Aussage dadurch, dass der Fortschritt zwischen, aber auch innerhalb von Ländern sehr ungleich verteilt ist. Ausgehend von einem vergleichsweise hohen Niveau in Sub-Sahara Afrika mit einem Anteil von über 35% unzureichend ernährten Menschen an der Gesamtbevölkerung, war auch zu Beginn des neuen Jahrtausends kaum eine Verbesserung zu vermelden. Die Nahrungsmittelerzeugung und/oder die wirtschaftliche Entwicklung der meisten dieser afrikanischen Länder konnten mit dem raschen Anstieg der Bevölkerung nicht mithalten. Aber auch andere Regionen stehen zunehmend im Fokus. So deuten jüngste Meldungen in vielen Ländern wieder darauf hin, dass sich die Lage der Schwächsten der Gesellschaft deutlich verschlechtert. Hierzu tragen die steigenden Preise bei, insbesondere die Preise für Energie und Lebensmittel, mit der die Einkommensentwicklung nicht Schritt halten kann. Bei einem Ausgabenanteil für Lebensmittel am Einkommen von 50-80% sind die Ärmsten der Welt besonders hart von Preissteigerungen betroffen. In den Industrieländern wird hingegen nur zwischen 10-15% des Einkommens für Nahrungsmittel ausgegeben.


Abb 1: Anzahl Unterernährter nach Regionen in Mio.
 2001-03
Millionen Unterernährte
Indien
Sub-Sahara Afrika
Asien und Pazifik
China
Lateinamerika und Karibik
Naher Osten und Nordafrika
Schwellenländer
Industrieländer
212 (25%)
206 (24%)
162 (19%)
150 (3%)
52 (6%)
38 (4%)
25 (3%)
9 (1%)
insgesamt 853 Mio. Menschen


Rasch steigende Preise

Nachdem in den letzten zwei Jahrzehnten die Lebensmittelpreise auf den Weltmärkten niedrig und teilweise sogar real rückläufig waren, ist seit 2005 ein beachtlicher Anstieg zu verzeichnen. Dies gilt insbesondere für Weizen, Mais, Soja sowie Reis und die Energieträger mit dem Leitprodukt Erdöl. Das Wort eines "stillen Tsunamis" oder einer "ag-flation" macht die Runde. So stiegen die Preise für die Grundnahrungsmittel (FAO-Nahrungsmittelindex) im Jahr 2006 um 9%, 2007 um 23% und machten bis Mitte 2008 noch einmal einen Sprung von 12%. Seither ist allerdings wieder ein leichter Preisrückgang erkennbar.


Düstere Prognosen

Zwar gehen alle in jüngster Zeit veröffentlichten Prognosen übereinstimmend davon aus, dass die Märkte auf die hohen Preise mit einer Ausdehnung und Intensivierung der Erzeugung reagieren. Eine Rückkehr zu dem Preisniveau für Lebensmittel wie in den 80er und 90er Jahren wird jedoch nicht erwartet. Dies hat erhebliche Folgen für den Fortschritt beim Erreichen des WFS-Zieles der Hungerbekämpfung.

Nach Schätzungen der Weltbank verschlechtert sich bei einem Anstieg der Grundnahrungsmittelpreise um 1% die kalorimetrische Versorgung der Bevölkerung in den unterentwickelten Regionen um einen halben Prozentpunkt. Nach Einschätzungen vom IFPRI (International Food Policy Research Institute) folgt daraus, dass die Zahl der mangelhaft ernährten Menschen infolge des Anstieges der Lebensmittelpreise zunimmt, und zwar je Prozentpunkt Erhöhung um 16 Millionen. Ein weiterer, wenn auch verlangsamter Anstieg der Lebensmittelpreise in den kommenden Jahren ist kaum aufzuhalten, so die einhellige Meinung. Für die kommende Dekade rechnet die FAO mit einem mindestens 50% höherem Preisniveau als vor Beginn der Jahrtausendwende. Gestützt wird die Prognose durch die Erwartung, dass bis 2030 etwa 50% mehr Getreide und 85% mehr Fleisch erzeugt werden muss, um die globale Nahrungsmittelnachfrage der aufstrebenden Schwellen- und Entwicklungsländer befriedigen zu können. Die Halbierung der Hungernden bis 2015 ist daher in weite Ferne gerückt. Das IFPRI prognostiziert sogar eine Zunahme der chronisch Unterernährten auf 1,2 Milliarden bis 2025. Dies entspricht einer Verdopplung gegenüber dem bis 2003 erreichten.


Was die Nahrungsmittelpreise treibt

Steigende Nahrungsmittelpreise führen grundsätzlich zu einer Ausweitung der Erzeugung und/oder einer Einschränkung der Nachfrage. Dies war jedoch in den letzten Jahren nicht oder nur unzureichend der Fall. Die Gründe hierfür sind komplex und vielfältig, wie im Folgenden erläutert wird.

Das Angebot stagniert

Die Wetterbedingungen und die Verfügbarkeit von Wasser haben einen wesentlichen Einfluss auf die Höhe des Angebots von Nahrungsmitteln. Durch eine große Trockenheit kam es in den letzten Jahren weltweit zu erheblichen Ernteausfällen, von der insbesondere Australien als bedeutender Getreideexporteur betroffen war. In den Jahren 2006 und 2007 wurden hier jährlich 10 Mio. t oder 4% der globalen Getreideexporte weniger geerntet. Infolgedessen und aufgrund einer schon länger anhaltenden unter dem weltweiten Bedarf liegenden Erzeugung bei wichtigen Agrargütern schrumpften die Weizenvorräte auf ein 30-jähriges Tief, mit den dargestellten drastischen Preisreaktionen in den letzten drei Jahren. Unter den zuvor gegebenen Bedingungen langjährig niedriger Preise waren die Angebotsreaktionen auf den Weltagrarmärkten jedoch sehr verhalten. So hatte eine 10%ige Preissteigerung nur eine 1%ige Erhöhung des Angebots pro Jahr bewirkt. Produktivitätsfortschritte früherer Jahre konnten nicht mehr erreicht werden, nicht zuletzt wegen stagnierender oder rückläufiger Investitionen in Forschung und Entwicklung sowohl im Agrarsektor als auch den nachgelagerten Bereichen des Nahrungsmittelsektors.

Dies gilt für die Industrieländer, aber in besonderem Maße für die Entwicklungsländer. Zusätzlich fehlen der dringend notwendige Ausbau geeigneter und verbesserter Lagerungsmöglichkeiten sowie Investitionen in die Transport- und Kommunikationsinfrastruktur in den Entwicklungsländern. Dies ist eine Grundvoraussetzung für eine effiziente Logistik im Handel. Nur so können die für Angebotsreaktionen notwendigen Preisanreize auch in das Landesinnere zu den Agrarproduzenten gelangen. Weltweit wird die notwendige Ausdehnung der Erzeugung allerdings auch durch die zeitgleich deutlich gestiegenen Kosten für die Inputs (Energie, Kraftstoff, Düngemittel, Pflanzenschutzmittel) verhindert, die im landwirtschaftlichen Produktionsprozess eingesetzt werden. So fielen auch weltweit ehemals genutzte Agrarflächen im Zeitablauf brach.

Die Nachfrage steigt

Nachfrageseitig spielt der weltweit gestiegene Bedarf an Nahrungs- und Futtermitteln eine Schlüsselrolle. Gründe hierfür sind zum einen die weltweite Zunahme der Bevölkerung von täglich 225.000 oder jährlich 82 Millionen Menschen, die ernährt werden müssen. Zum anderen resultiert aus dem Einkommensanstieg und der fortschreitenden Urbanisierung in zahlreichen Entwicklungsländern eine Verwestlichung der Ernährungsgewohnheiten mit wachsender Nachfrage nach Fleisch, was wiederum einen zusätzlichen Bedarf an Futtermitteln nach sich zieht. Von Bedeutung für die Nachfrage nach Nahrungsmitteln ist darüber hinaus deren zunehmende Verwendung für die Erzeugung von Bioenergie. Die Nachfrage in diesen verschiedenen Verwendungsrichtungen ist in den letzten Jahren jedoch sehr unterschiedlich verlaufen. Während die Verwendung von Getreide (inkl. Mais) für Nahrungs- und Futtermittelzwecke seit dem Jahr 2000 beispielsweise um 4% bzw. 7% anstieg, erhöhte sich die industrielle Verwendung von Getreide für die Produktion von Bioenergie im selben Zeitraum um 25%. Eine besondere Steigerung verzeichnen die USA, wo bereits 30% der inländischen Maisernte zu dem Ersatzkraftstoff Bioethanol verarbeitet werden. Gefördert wird diese Entwicklung weltweit durch unterschiedliche politische Maßnahmen in Form eines Beimischzwangs von Biokraftstoffen im Treibstoff und direkten und indirekten Vergünstigungen für die Erzeugung und Beimischung von Biokraftstoffen.

Einflüsse der Politik

Darüber hinaus existieren Faktoren, die sowohl das Angebot als auch die Nachfrage beeinflussen. Ein in seiner Wirkungshöhe umstrittener Einflussfaktor ist die seit einigen Jahren fortlaufende Abwertung des US-$ gegenüber den meisten Währungen. Experten sind sich darüber einig, dass die Abwertung einen deutlichen Einfluss auf den Anstieg, aber vor allem auf die aktuell deutlich ausgeprägteren Schwankungen der Nahrungsmittelpreise hat. Dies gilt ebenso für Spekulationen über Fonds mit Nahrungsmitteln, denen jedoch nur ein kurzfristiger Einfluss zugeschrieben wird. Einen erheblichen Einfluss auf die Weltagrarmärkte haben dagegen die Agrarmarkt- und Agrarhandelspolitiken. Hier sind zunächst die von vielen Entwicklungsländern eingeführten ad hoc-Maßnahmen (z.B. Exportverbote oder -beschränkungen) zu nennen, die der eigenen Bevölkerung ein preisgünstigeres Nahrungsmittelangebot sichern soll. Die Situation auf den Weltagrarmärkten wird hierdurch jedoch deutlich angespannter, da das globale Nahrungsmittelangebot für andere Länder zusätzlich verknappt und der Spielraum zum Ausgleich der Preisschwankungen verkleinert wird.

Ebenfalls von Bedeutung sind die veränderten Agrarmarkt- und Agrarhandelspolitiken der wichtigsten Agrarexportländer, die darauf abzielen, die Überschussproduktion und die teure Lagerhaltung zu vermindern und so das Angebot auf den Weltagrarmärkten verknappt haben. Der dadurch erzielte Anstieg der Nahrungsmittelpreise auf den Weltagrarmärkten ist durchaus gewollt. Er soll den Agrarproduzenten in Entwicklungsländern die Chance und die notwendigen Preisanreize bieten, ihre Produktion von Nahrungsmitteln nachhaltig zu steigern. Wesentlich hierfür ist allerdings, dass gleichzeitig der Zugang zu den Agrarmärkten der Industrieländer erleichtert wird.


Was getan werden kann

Die Mehrzahl der Prognosen geht von deutlich höheren Preisen für Agrarrohstoffe und Lebensmittel im Vergleich zu früheren Dekaden aus. Die Ursachen werden in dem bereits beschriebenen weiterhin stetig wachsenden Bedarf an Nahrungsmitteln für die Ernährung bei nur schwachem Zuwachs in der Erzeugung gesehen. Dass daneben die Energiepreise an Bedeutung gewinnen, haben die letzten beiden Jahre gezeigt. Mit jedem Anstieg der Rohölpreise werden pflanzliche Öle und Getreide, wie auch zuckerhaltige Pflanzen verstärkt zur Erzeugung von Bioenergie, insbesondere Biodiesel und Bioethanol, umgeleitet und der menschlichen Ernährung entzogen. Preisreaktionen, bei begrenzt verfügbarer landwirtschaftlicher Fläche und anderer Ressourcen, können dabei nicht ausbleiben.

Um die drastischsten Folgen des Preisanstiegs zu mindern und unmittelbare Hungerkrisen zu verhindern, sollten kurzfristig Sofortmaßnahmen in Form direkter Einkommenstransfers oder Lebensmittelbezugsscheinen an die am stärksten Betroffenen ausgegeben werden. Dieser Art der zielgerichteten, weniger markt- und handelsverzerrenden Unterstützung sollte der Vorzug gegeben werden gegenüber der üblichen generellen Grundnahrungsmittelsubvention, staatlichen Preisfestsetzungen oder der Einführung von Exportbeschränkungen.

Mittel- und langfristig gilt es, die Akteure in die Lage zu versetzen, dem wachsenden Bedarf an Lebensmitteln durch ein entsprechendes Angebot gerecht zu werden. Zwar sind durch die derzeit hohen Preise hinreichende Anreize für eine Ausdehnung der Produktion gegeben. Diese sollten jedoch durch flankierende Maßnahmen, wie dem Aufbau einer leistungsfähigen Infrastruktur zur Senkung der Transaktionskosten, Abbau von Exporterstattungen und Handelshemmnissen jeglicher Art, die im Agrarbereich nach wie vor vergleichsweise sehr hoch sind, flankiert werden. Insbesondere in den Entwicklungsländern haben bei unzureichender finanzieller Ausstattung der Erzeuger die Bereitstellung von kostengünstigen Krediten für geeignetes Saatgut und eine verstärkte Mechanisierung sowie der Technologietransfers zur Steigerung der Produktivität und Investitionen in die Forschung und Ausbildung eine Schlüsselfunktion im Kampf gegen den Hunger.

Die Kostenvorteile, die viele Entwicklungsländer bei der Erzeugung von Nahrungsmitteln haben, können jedoch nur zum Tragen kommen, wenn die Subventionen in den Industrieländern abgebaut werden und die derzeitigen Preissignale nicht durch (dauerhafte) Lebensmittellieferungen aus den Industrieländern unterlaufen werden.

Die gestiegenen Nahrungsmittelpreise sollten vor allem für die weniger entwickelten Staaten auch als Chance verstanden werden, über eine effizientere Nutzung der meist reichlichen vorhandenen und nur extensiv genutzten Flächen die Versorgungslage mit Nahrungsmitteln im eigenen Land und weltweit zu verbessern. Gefordert sind hierbei sowohl die nationalen Staaten, Kooperationen zwischen den Entwicklungs- und Industrieländern als auch internationale Organisationen, wie der IWF, die Weltbank, die FAO und UN.


Dir. u. Prof. PD Dr. Martina Brockmeier
und Dipl.-Ing. agr. Rainer Klepper,
Johann Heinrich von Thünen-Institut,
Institut für Marktanalyse und Agrarhandelspolitik,
Bundesallee 50, 38116 Braunschweig.
E-Mail: martina.brockmeier@vti.bund.de


Diesen Artikel inclusive aller Abbildungen finden Sie im Internet im PDF-Format unter:
www.forschungsreport.de


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Quelle:
ForschungsReport Ernährung · Landwirtschaft · Verbraucherschutz
2/2008, Seite 4-7
Herausgeber:
Senat der Bundesforschungsanstalten im Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
Redaktion: Dr. Michael Welling
Geschäftsstelle des Senats der Bundesforschungsinstitute
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Bundesallee 50, 38116 Braunschweig
Tel.: 0531/596-1016, Fax: 0531/596-1099
E-Mail: michael.welling@vti.bund.de
Internet: www.forschungsreport.de, www.bmelv-forschung.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Februar 2009