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INTERNATIONAL/129: Menschenrecht auf Nahrung in Gefahr? (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 4/2014
Goldgräberstimmung
Bioökonomie zwischen Welthunger und Rohstoffalternativen

Menschenrecht auf Nahrung in Gefahr?
Bioökonomie auf Ernährungssicherung trimmen

Von Dr. Rafaël Schneider


Immer mehr Non-Food-Produkte werden aus nachwachsenden Rohstoffen hergestellt. Der Balanceakt zwischen ernährungsferner Biomassenutzung und der Schaffung von globaler Ernährungssicherheit ist der Biokraftstoffpolitik nicht gelungen. Doch genau diese Balance ist notwendig, soll der Wandel hin zur Bioökonomie global nachhaltig sein. Der Grad der Berücksichtigung des Menschenrechts auf Nahrung in der Politikgestaltung wie auch im unternehmerischen Handeln wird darüber entscheiden, ob Bioökonomiestrategien den Zugang zu Nahrung für arme Menschen erschweren oder im günstigsten Fall einen Beitrag zur Armutsbekämpfung leisten.


Vor wenigen Jahren haben die EU und die USA einen entscheidenden Schritt hin zur Bioökonomie unternommen und die Förderung von Biokraftstoffen beschlossen. Diese politische Vorgabe hat zu einer öffentlichkeitswirksamen Debatte um "Teller vor Tank" geführt. Während Politiker, Bioenergieverbände und Umwelt- sowie Entwicklungsorganisationen noch heute um einen Kompromiss um Biokraftstoffquoten ringen, nimmt die Nutzung von Biomasse in anderen Sektoren nahezu unbemerkt zu. Hierbei werden mögliche Auswirkungen auf die globale Ernährungssicherheit kaum hinterfragt. Zum Beispiel von Flaschen, bei denen der Biokunststoff aus Zuckerrohr gefertigt wurde. Oder von Winterreifen, deren Gummi aus Löwenzahn-Milch gewonnen wird. Welche Agrarflächen stehen dafür zur Verfügung? Ist die Verwirklichung des Menschenrechts auf Nahrung in Gefahr?

Globale Dimension wird oft unterschätzt

Heute leidet immer noch jeder neunte Mensch an Hunger, 805 Millionen weltweit. Mindestens 70% davon leben in ländlichen Regionen der Entwicklungsländer und von der Landwirtschaft. Durch den Wandel von der erdölbasierten Wirtschaft hin zur Bioökonomie gewinnen diese Regionen, die von Armut und Hunger besonders betroffen sind, immens an Bedeutung: Ihre fruchtbaren Böden bieten - gemeinsam mit Wasser, Sonneneinstrahlung, Wärme und billigen Arbeitskräften - ideale Bedingungen zur Gewinnung von Biomasse. Die Umsetzung der Bioökonomie-Strategien ist ohne Nutzung dieser Ressourcen kaum vorstellbar. Schon heute reichen die europäischen Agrarflächen nicht mehr aus: Die EU nimmt bereits 25 Millionen Hektar zusätzliche landwirtschaftliche Flächen im Ausland in Anspruch, um ihren Bedarf an Agrarprodukten zu decken.(1)

Die Umsetzung der überzogenen Biokraftstoffziele hat gezeigt, dass trotz gesetzlicher Umweltvorgaben die Kraftstoffpflanzenproduktion vielerorts nicht nur den Raubbau an der Natur verstärkt, sondern direkt und indirekt auch gravierende soziale Fehlentwicklungen wie Landraub in Entwicklungsländern und stark steigende Nahrungsmittelpreise hervorgerufen hat. In der Biokraftstoffpolitik wurden insbesondere die sozialen Auswirkungen zu lange ausgeblendet. Nun gilt es, aus diesen Fehlentwicklungen zu lernen und die Gewinnung von Biomasse insbesondere in Entwicklungsländern so zu gestalten, dass ein Beitrag zur Ernährungssicherung und Armutsreduzierung geleistet wird.

Bioökonomie armutsmindernd gestalten

Umsichtig gestaltete Bioökonomie-Strategien können sowohl global als auch lokal zur Armutsreduzierung beitragen. Global, weil beispielsweise in der EU oder den USA weniger Agrarüberschüsse anfallen, die zu Dumpingpreisen in ärmeren Ländern verkauft werden und dort die kleinbäuerliche Landwirtschaft unrentabel machen. Außerdem kann die Bioökonomie einen Beitrag zum globalen Klimaschutz leisten, der gerade für von den Klimafolgen besonders hart getroffene Kleinbauern und -bäuerinnen wichtig ist. Schließlich zeigt die moderne Nutzung von Biomasse Wege für Entwicklungsländer auf, wie die fossile Wirtschaftsphase weitgehend übersprungen werden kann.

Besonders wichtig ist es aber, die Biomassenachfrage zur Armutsreduzierung in armen ländlichen Regionen zu nutzen. Weltweit über 400 Millionen kleinbäuerliche Betriebe können in die Biomasseproduktion einbezogen werden. Genau dies ist bei der Kraftstoffpflanzenproduktion nicht gelungen: Die hohe Nachfrage hat zu einer Ausweitung von Plantagen geführt und bäuerliche Betriebe weitgehend ausgegrenzt. Benötigt wird eine Bioökonomiepolitik, die eine behutsam ansteigende Nachfrage nach Biomasse fördert. Kleinbauern und -bäuerinnen müssen Zeit haben, sich neu zu organisieren, zum Beispiel in Erzeugergruppen und Genossenschaften. Anbaumethoden und Marktzugang müssen verbessert werden. Diese Prozesse brauchen Zeit, um die Entwicklung des verarmten Klein- und Subsistenzbauerntums hin zu einer wirtschaftlich tragfähigen sowie sozial und ökologisch nachhaltig produzierenden bäuerlichen Landwirtschaft zu ermöglichen.

Menschenrecht auf Nahrung mitdenken

Bereits 2004 haben die Vereinten Nationen (UN) Leitlinien zum Recht auf angemessene Nahrung vereinbart, die einen Abschnitt über "Internationale Zusammenarbeit und einseitige Maßnahmen" enthalten. Darin heißt es unter anderem: "Die Staaten werden dringend aufgefordert, [...] einseitige Maßnahmen zu vermeiden oder von solchen abzusehen, [...] die der vollständigen Erreichung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung anderer Länder entgegenstehen und ihre Anstrengungen in Richtung auf die schrittweise Verwirklichung des Rechts auf angemessene Nahrung im Rahmen nationaler Ernährungssicherheit behindern".(2)

Aus dieser Aufforderung, die von allen UN-Mitgliedern mitgetragen wird, lässt sich eine Verpflichtung ableiten, bei der Nutzung von Biomasse zu ernährungsfernen Zwecken nicht nur mögliche nationale Folgen, sondern auch Auswirkungen auf andere Länder zu überprüfen. Die Einführung einer "Politikfolgenabschätzung Welternährung" könnte sicherstellen, dass in politisch-parlamentarischen Beratungs- und Entscheidungsprozessen mögliche gewollte und ungewollte Folgen von Politiken für die globale Ernährungssicherheit explizit erörtert werden, bevor Entscheidungen getroffen werden. In Deutschland würde das beispielsweise bedeuten, das im Bundestag bestehende Verfahren der Gesetzesfolgenabschätzung (GFA) um die Frage der Ernährungssicherheit zu erweitern. Die Beachtung der globalen Dimension in der Politikfolgenabschätzung würde zudem zu einer größeren Kohärenz zwischen allen binnen- und außenorientierten Politikbereichen führen.

Mindeststandards für Biomasse einführen

In den Bioökonomie-Strategien der EU (2012) und der Bundesregierung (2013) wird die Berücksichtigung des Primats der Ernährungssicherheit zugesichert. Bislang gibt es jedoch noch keine wissenschaftlich fundierten Standards und Kennzahlen, die eine Überprüfung der Berücksichtigung des Menschenrechts auf Nahrung bei der Produktion und Nutzung von Biomasse ermöglichen. Eine Zertifizierung von Biomasse ist nur zur Kraftstoffproduktion vorgeschrieben, das heißt zertifiziertes Palmöl kommt in den Tank, nicht zertifiziertes Palmöl auf den Tisch (zum Beispiel als Margarine) beziehungsweise auf die Haut (zum Beispiel bei Kosmetika). Zudem berücksichtigen die Biokraftstoffkriterien kaum soziale Gesichtspunkte. Eine entsprechende gesetzliche Regelung ist notwendig, aber derzeit weder auf nationaler noch auf europäischer Ebene geplant.

Benötigt wird ein globaler Biomassestandard, der die Produktion aller Biomassearten für alle unterschiedlichen Nutzungen länder- und sektorübergreifend regelt. Hierbei müssen nicht nur ökologische, sondern auch wirtschaftliche und vor allem soziale Kriterien der Nachhaltigkeit einbezogen werden.

Bislang gibt es nur wenige Vorschläge zur Überprüfung von Ernährungssicherungsaspekten bei der Biomasseproduktion und -nutzung. Das Zentrum für Entwicklungsforschung (ZEF) der Universität Bonn und die Welthungerhilfe haben sich daher zur Aufgabe gemacht, diese Lücke zu schließen und wissenschaftlich fundierte Kriterien zur Ernährungssicherheit zu entwickeln, die auf dem Menschenrecht auf Nahrung und den vier Säulen der Ernährungssicherheit (Verfügbarkeit, Versorgungsstabilität, Zugang und Nutzung) aufbauen. Ziel des Vorhabens ist es, handhabbare Standards zur Verfügung zu stellen,

• die zu einer kontinuierlichen Verbesserung der lokalen Ernährungslage beitragen; dies wird insbesondere durch eine verbesserte Einkommenssituation in den Anbauregionen erreicht, welche auch den Verkauf von Biomasse beinhaltet,

• die Kleinbauern und -bäuerinnen und mittleren Betrieben die Chance geben, Schritt für Schritt steigenden Anforderungen gerecht zu werden,

• die Großbetriebe als Entwicklungsmotoren in die Pflicht nehmen,

• deren Umsetzung flexibel genug gestaltet wird, um standortgerecht agieren zu können, ohne dabei Abstriche bei den zu erreichenden Standards zu machen,

• deren Einhaltung sozio-ökonomische Entwicklung generiert.

Die ernährungsferne Nutzung von Biomasse darf nirgendwo zur Verletzung des Menschenrechts auf Nahrung führen, sondern sollte vielmehr einen direkten Beitrag zur Armutsminderung leisten. Politische Leitplanken dazu werden derzeit bei den UN beraten: Bis 2030 soll sich beispielsweise das Einkommen dieser Kleinbauern verdoppeln. Die Bioökonomiestrategien der Industrienationen können und müssen an den geplanten globalen Nachhaltigkeitszielen (Sustainable Development Goals) anknüpfen.


Autor Dr. Rafaël Schneider ist stellvertretender Leiter Politik und Außenbeziehungen bei der Deutschen Welthungerhilfe e.V.


Anmerkungen

1. Noleppa, v. Witzke u. Cartsburg 2013.
2. FAO (2004), http://www.fao.org/3/ay7937e.pdf.


Das Forum Umwelt & Entwicklung wurde 1992 nach der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung gegründet und koordiniert die Aktivitäten der deutschen NRO in internationalen Politikprozessen zu nachhaltiger Entwicklung. Rechtsträger ist der Deutsche Naturschutzring, Dachverband der deutschen Natur- und Umweltschutzverbände (DNR) e.V. Diese Publikation wurde vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) offiziell gefördert. Der Inhalt gibt nicht unbedingt die Meinung des BMZ wieder.

Der Rundbrief des Forums Umwelt & Entwicklung, erscheint vierteljährlich, zu beziehen gegen eine Spende für das Forum.

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Quelle:
Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 4/2014, Seite 9-10
Herausgeber: Projektstelle Umwelt & Entwicklung
Marienstr. 19-20, 10117 Berlin
Telefon: 030/678 1775 93, Fax: 030/678 1775 80
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Februar 2015

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