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INTERNATIONAL/138: Aus der Mülltonne in den Kochtopf - Café-Kette rettet Nahrung vor Vernichtung (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 2. September 2015

Ernährung:
Aus der Mülltonne in den Kochtopf - Café-Kette rettet Nahrung vor Vernichtung

von Silvia Boarini



Bild: © Silvia Boarini/IPS

Der Chefkoch Adam Smith gründete im Dezember 2013 'The Real Junk Food Project'
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LEEDS, ENGLAND (IPS) - Eine Graswurzel-Initiative mit Ursprung in der nordenglischen Stadt Leeds hat sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, die Verschwendung von Nahrungsmitteln ein für allemal zu beenden. Der Chefkoch Adam Smith rief die Initiative 'The Real Junk Food Project' (TRJFP) im Dezember 2013 ins Leben. In der Folge ist ein Netzwerk aus Cafés entstanden, in denen Speisen angeboten werden, deren Zutaten eigentlich auf dem Müll landen sollten.

Freiwillige sammeln die Lebensmittel ein, aus denen in den Lokalen noch schmackhafte Mahlzeiten gekocht werden können. Die Gäste geben so viel, wie sie selbst möchten: an Geld, Zeit oder Nahrungsmitteln, die sie selbst nicht aufbrauchen können.

TRJFP stützt sich auf ehrenamtliche Helfer, Crowdfunding und private Spenden. Nur wenige Mitarbeiter bekommen ein festes Gehalt in Höhe des Mindestlohnes.

Smith ist vom Verlauf seines Projekts begeistert. "Wir glauben daran, dass wir durch das organische Wachstum dieser Cafés Veränderungen anregen können", sagt der 29-Jährige, der an einem Tisch in dem ersten TRJFP-Lokal, 'The Armley Junk-Tion' in Armley, einem Vorort von Leeds, sitzt.


Bild: © Silvia Boarini/IPS

Im Lokal 'The Armley Junk-Tion' in Leeds geben Gäste so viel, wie sie wollen und können
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Mehr als 100 Lokale weltweit

In weniger als zwei Jahren hat sich seine Initiative zu einem weltweiten Netzwerk mit 110 Cafés weiterentwickelt. 40 davon werden in Großbritannien und allein 14 in Leeds betrieben. Ableger des Projekts sind beispielsweise auch in Deutschland, Frankreich, Australien und Südafrika zu finden. Die Prinzessinnengärten, ein Stadtökologieprojekt in Berlin, richtete Anfang August ein 'Kickoff Event' aus, um die Initiative in der Hauptstadt vorzustellen.

Bis jetzt hat das Armley Junk-Tion für 10.000 Gäste 12.000 Mahlzeiten aus Lebensmitteln zubereitet, die ansonsten in den Abfall gewandert wären", berichtet Smith. Das gesamte Netzwerk hat im Laufe von 18 Monaten 90.000 Menschen 60.000 mal den Teller gefüllt und damit 107.000 Tonnen Nahrung vor der unnötigen Vernichtung gerettet.

Freiwillige Helfer sind jeden Tag rund um die Uhr unterwegs, um Nahrungsmittel aus Privathaushalten, Produktionsbetrieben, Lagern und Supermärkten abzuholen. Manches wird auch aus den Müllcontainern der Händler gefischt. "Wir beachten keine Verfallsdaten und beurteilen selbst, ob die Produkte für den menschlichen Verzehr geeignet und unbedenklich sind", sagt Smith.

Die Menge der Lebensmittel, die von TRJFP gerettet werden, nimmt sich im Vergleich zu der alljährlich vergeudeten Nahrung allerdings sehr gering aus. Die UN-Agrarorganisation FAO geht davon aus, dass weltweit etwa ein Drittel aller Lebensmittel - rund 1,3 Milliarden Tonnen im Jahr - weggeworfen wird. Jede vierte produzierte Kalorie wird somit nicht konsumiert. Laut FAO-Berichten sind andererseits 795 Millionen Menschen auf der Welt chronisch unterernährt.

Die Verschwendung von Nahrung wird allgemein als Skandal betrachtet. Zumeist werden unterschiedliche Lösungen angeboten: einerseits mehr Recycling in Industriestaaten und auf der anderen Seite eine höhere Nahrungsproduktion in und für Entwicklungsländer. Auf diese Weise bleibt den Kritikern zufolge aber ein fehlerhaftes System bestehen, und eine milliardenschwere Industrie kann ungehindert weiter ihren eigenen Interessen nachgehen.


Globaler Hunger mit einem Viertel der weggeworfenen Nahrung zu lösen

Tristram Stuart, Autor des Buches 'Waste - Uncovering the Global Food Scandal', weist darauf hin, dass nahezu eine Milliarde Menschen, die auf der Welt Hunger leiden, mit weniger als einem Viertel der in den USA, in Großbritannien und in Europa weggeworfenen Lebensmittel gesättigt werden könnten.

In Frankreich verabschiedete das Parlament im Mai ein neues Gesetz, das großen Supermärkten verbietet, unverkaufte Lebensmittel wegzuwerfen. Stattdessen müssen sie diese Nahrung Bauern oder Wohltätigkeitsorganisationen zur Verfügung stellen. Auch wenn dieser Schritt als Erfolg im Kampf gegen die Verschwendung gelobt wird, kritisieren Aktivisten der Bewegung 'Les Gars'pilleurs', dass solche Gesetze das Problem nicht an der Wurzel fassen. Denn Supermärkte sind nicht die einzigen Schuldigen.

Die britische Hilfsorganisation 'Waste and Resources Action Programme' (WRAP) berichtet, dass diese Geschäfte für weniger als zwei Prozent der Nahrungsvergeudung in Großbritannien verantwortlich seien. Private Haushalte tragen dagegen 47 Prozent und Produzenten 27 Prozent zu der Verschwendung bei. "Die Regierung gibt Millionen Pfund für Informationskampagnen aus, um die Leute davon abzuhalten, Lebensmittel wegzuwerfen. Und wir tun nichts anderes, als anderen dieses Essen zu servieren", sagt Smith. "Geld kostet es uns das nicht."

Als unabhängige Graswurzelbewegung stuft TRJFP die Nahrungsverschwendung nicht als entweder ökologisches, wirtschaftliches oder soziales Problem ein, sondern bevorzugt einen ganzheitlichen Betrachtungsansatz. Neben Sensibilisierungskampagnen für die Öffentlichkeit betreibt das Netzwerk auch Lobbyarbeit, um Minister und Parlamentarier zu effizienten Maßnahmen zu bewegen. "Wir waren schon mehrmals am Sitz des britischen Parlaments, um über das Problem zu diskutieren. Und wir werden so lange weitermachen, bis nichts mehr vergeudet wird", erklärt Smith. "Ich hoffe, dass ich eines Tages auch für Abgeordnete ein Mittagessen aus geretteten Lebensmitteln zubereiten kann."


Kunden aus allen sozialen Schichten

In dem Lokal in Armley stehen beispielsweise Fleischeintopf, Steak und Linsensuppe auf der Speisekarte. An den Tischen sitzen Hipster, Obdachlose, Angestellte und Arbeitslose, deren Wege sich unter anderen Umständen kaum kreuzen würden. In dem Café werden aber alle auf die gleiche Weise bedient.

Richard, der sich von seiner Alkoholsucht erholt, isst seit ein paar Monaten in The Armley Junk-Tion zu Mittag. "Der soziale Hintergrund der Gäste spielt hier keine Rolle", sagt er. "Man nimmt hier gemeinsam seine Mahlzeiten ein. Auf der Speisekarte findet jeder für sich das Passende." Der 36-jährige Paul, der wegen psychischer Probleme in einem Heim lebt, kommt in das Café, weil er in seiner Einrichtung nur Essen aus der Mikrowelle bekäme."

Nigel Stone, einer der Freiwilligen, der Smith bei der Leitung des Cafés in Armley unterstützt, hatte den Erfolg der Idee nie angezweifelt. "Es ist eine Lösung nach dem gesunden Menschenverstand. Das Beste daran ist, dass der soziale Zusammenhalt insbesondere in schwierigen Zeiten gestärkt wird." (Ende/IPS/ck/02.09.2015)


Link:
http://www.ipsnews.net/2015/08/stop-food-waste-cook-it-and-eat-it/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 2. September 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. September 2015

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