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ASYL/1322: Keine Verlängerung der Frist für Widerrufsverfahren (Pro Asyl)


Pro Asyl - Pressemitteilung vom 23. November 2018

Keine Verlängerung der Frist für Widerrufsverfahren

PRO ASYL zu Syrien, Irak und Afghanistan: Flüchtlinge müssen ankommen dürfen


PRO ASYL begrüßt die Festlegung des Bundesinnministers, dass gegenwärtig keine Abschiebungen nach Syrien stattfinden können. Zugleich fordert PRO ASYL, dass auch in die Herkunftsländer Afghanistan und Irak keine Abschiebungen stattfinden dürfen. Die Innenminister müssen kommende Woche auch für diese Staaten einen Abschiebestopp beschließen.

Auf harte Kritik stößt die bekanntgewordene Absicht, die Frist zur Durchführung von Widerrufsverfahren für zwischen 2015 und 2016 eingereiste Flüchtlinge von drei auf fünf Jahre zu verlängern. Nach Medienberichten soll SPD Innenpolitiker Lischka bereits zugestimmt haben. Damit würden vor allem Flüchtlinge aus Syrien, Irak und Afghanistan getroffen, die die Hauptherkunftsländer in den Jahren 2015 und 2016 ausmachten.

»Menschen müssen ankommen dürfen. So wird Unsicherheit geschaffen, die Integration und das Hineinwachsen in unsere Gesellschaft verhindert«, sagte Günter Burkhardt, Geschäftsführer von PRO ASYL. Befristete Abschiebestopps nach Syrien, die Debatte um forcierte Abschiebungen in Krisengebiete wie Afghanistan oder auch in den Irak sowie die Verlängerung der Widerrufsfrist auf fünf Jahre führen, so Burkhardt, zu einem »Leben im Schwebezustand. Die GroKo fährt einen unverantwortlichen Kurs. Die Menschen werden zermürbt, Integration unnötig erschwert und Arbeitgeber abgeschreckt, Flüchtlinge dauerhaft auszubilden und einzustellen. Man muss den Eindruck gewinnen, dass dahinter System steckt. Wenn aufgrund der unsicheren Zustände nicht kurzfristig abgeschoben werden kann, dann hält man sich alle Hintertürchen offen, um für Flüchtlinge das Ankommen in Deutschland, eine Verfestigung des Aufenthaltsstatus und ein Leben in Sicherheit zu verhindern. Die Bundesländer müssen sich dem widersetzen«, fordert Burkhardt.

PRO ASYL appelliert an die Innenminister, eine auf Integration ausgerichtete Weichenstellung vorzunehmen und den permanenten Ausreisedruck zu beenden. In keines der oben genannten Krisengebiete sei mittelfristig eine Rückkehr einer hohen Zahl von Flüchtlingen aus Deutschland in Sicherheit und Würde möglich.


Hintergrundinformationen zu Afghanistan und Irak
Afghanistan: Abschiebungen sind nicht vertretbar

Nach dem nunmehr bereits vor Monaten vorgelegten neuen Lagebericht des Auswärtigen Amtes, der Anlass geboten hätte, die aktuelle Abschiebungspraxis zu überdenken, müssen wir nun auf eine weitere Verschlechterung der Sicherheitssituation in Afghanistan hinweisen.

Nach einem aktuellen Bericht des Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (SIGAR) hat sich die Zahl der von der afghanischen Regierung noch kontrollierten Regionen weiter reduziert. Vor allem in umkämpften Gebieten, aber auch in Großstädten wie Kabul finden beständig »violent events« statt. Mit Attacken auf Distrikt- und Provinzhauptstädte zeigen die Taliban, dass auch in dicht bevölkerten städtischen Regionen der Übergang von Guerillastrategien zu flächendeckender territorialer Kontrolle möglich ist. Allein infolge der aktuellen Parlamentswahlen starben 56 Menschen bei Anschlägen der Taliban, 379 wurden verletzt. Die hohen Verlust- und Desertionsraten bei den afghanischen Sicherheitskräften werfen die Frage auf, wo und wie lange der afghanische Staat seiner Schutzfunktion noch gerecht werden kann.

Diese und andere Sachverhalte hat das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) in seinen jüngsten Richtlinien (Eligibility Guidelines) vom 30. August 2018 berücksichtigt und für Kabul - in der deutschen Rechtsprechung immer noch eine theoretische Fluchtalternative - eine Situation generalisierter Gewalt festgestellt. Nach Ansicht des UNHCR kann die Region Kabul generell nicht mehr als inländische Fluchtalternative angesehen werden. Dies ist auch bedingt durch die infrastrukturelle Überforderung von Stadt und Region, die angespannte soziale Lage, Obdachlosigkeit und offensichtliche Versorgungsprobleme.

PRO ASYL hält es für bedenklich, dass die Bundesregierung in der Beantwortung einer Schriftlichen Frage für September 2018 die rechtliche Qualität von UNHCR-Richtlinien mit der Bemerkung abtut, es handle sich bei der Einschätzung des UNHCR, Kabul sei nicht sicher, um »eine bloße Empfehlung«, statt sich mit den Inhalten der Richtlinien seriös auseinanderzusetzen. Das widerspricht geltenden Regeln, wonach »genaue und aktuelle Informationen aus relevanten Quellen, wie etwa Informationen des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (?) eingeholt werden« müssen (Art. 8 Abs. 2 der EU-Qualifikationsrichtlinie).

Die derzeitige Asylentscheidungspraxis zeigt, dass insbesondere bezüglich der internen Fluchtalternative beim Bundesamt und bei einem Teil der Verwaltungsgerichte nicht sorgsam geprüft wird, wo und für wen eine solche gegeben ist und unter welchen Voraussetzungen sie überhaupt erreichbar ist. Das Thema wird in BAMF-Entscheidungen aus jüngster Zeit mit Textbausteinen und geringem Differenzierungsgrad behandelt. Über familiäre Unterstützungsnetzwerke der Zurückgeführten wird häufig lediglich spekuliert. Individuelle Gefährdungsmomente werden weitgehend ausgeblendet. Insbesondere alleinstehende, junge (gesunde) Afghanen hält man ohne nähere Prüfung der Umstände für fähig, sich in Kabul oder einer anderen Großstadt eine Existenz aufzubauen, selbst wenn sie im Iran geboren oder aufgewachsen sind und Afghanistan gar nicht kennen.

Vor dem Hintergrund der verschärften Sicherheitslage und der individuellen Verfolgungsgefahr in Afghanistan fordert PRO ASYL einen Abschiebungsstopp.

Irak - keine Abschiebung in eine nach wie vor unübersichtliche Situation

PRO ASYL begrüßt, dass der Wiederaufbau im Irak von Seiten der Bundesregierung finanziell großzügig unterstützt werden soll. Gleichzeitig scheint die Erwartung unrealistisch, dass nunmehr eine kurzfristige Rückkehr einer großen Zahl von Irakflüchtlingen aus Deutschland und anderen EU-Staaten erwartet werden kann. Zwar gibt es eine nicht geringe Anzahl von Rückkehrer*innen und Rückkehrversuchen, insbesondere in die vom IS befreiten Teile des Irak. Kaum jemand wagt jedoch zu prognostizieren, wie die künftige politische Ordnung aussehen könnte, in der Menschen nicht damit rechnen müssen, erneut verfolgt und vertrieben zu werden. Das Ergebnis des Krieges ist ein Flickenteppich von lokalen und regionalen Machtgebieten, in denen es unklar ist, ob die religiöse, ethnische oder tribale Zugehörigkeit die größte Rolle spielt. Der Irak ist nach wie vor ein politisch, konfessionell und territorial tief gespaltenes Land, das als Gesamtstaat in seinen künftigen Konturen noch kaum erkennbar ist. Neben den innerirakischen Konflikten bleibt das Hineinwirken einflussreicher externer Akteure in den Irak ein Problem. Der Anti-IS-Koalition gehören Akteure mit unterschiedlicher Agenda, wie die Türkei oder Saudi-Arabien, an. Die geopolitischen Interessen Russlands und der USA sowie der größeren regionalen Mächte Türkei und Iran treffen weiterhin aufeinander - mit den Risiken erneuter Eskalationen.

Für den Irak und Syrien gilt, dass es kaum irgendwo wirksamen staatlichen Schutz für die religiösen und ethnischen Minderheiten gibt. Von der politischen Destabilisierung sind diejenigen stark betroffen, die sich keinem der großen Interessensblöcke zuordnen können. Ob es überhaupt eine Zukunft in der Region für Jesid*innen, Christ*innen, Alewit*innen und Kurd*innen - jedenfalls außerhalb des kurdischen Nordirak - geben wird, ist unklar. Umso unverständlicher ist es, dass es beim Bundesamt zu Ablehnungen von Asylanträgen jesidischer Asylsuchender gekommen ist, selbst solcher, die vom Völkermord des Jahres 2014 betroffen waren und ihm gerade noch entkommen konnten.

PRO ASYL fordert, keinen Ausreise- und Abschiebungsdruck gegenüber irakischen Flüchtlingen auszuüben.

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Quelle:
Pro Asyl - Pressemitteilung vom 23. November 2018
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E-Mail: proasyl@proasyl.de
Internet: www.proasyl.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. November 2018

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