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ASYL/1440: Fest der Familie steht bevor - kein Fest für getrennte Flüchtlingsfamilien (Pro Asyl)


Pro Asyl - Pressemitteilung vom 20. Dezember 2019

Fest der Familie steht bevor - kein Fest für getrennte Flüchtlingsfamilien


PRO ASYL und der Flüchtlingsrat Niedersachsen fordern, dass Flüchtlingsfamilien nicht länger getrennt werden und in Deutschland Schutz und Sicherheit finden. Die Organisationen kritisieren, dass noch nicht einmal der Minimalkonsens in der Praxis umgesetzt wird.

Am 1. August 2018 wurde das Grundrecht auf Familie für subsidiär Geschützte in ein Gnadenkontingent von 1.000 Personen pro Monat umgewandelt. Die Befürchtung, dass auf die Betroffenen ein Bürokratie-Dschungel wartet, ohne jede zeitnahe Perspektive und Planungssicherheit, ob und wann sie es in das Monatskontingent schaffen werden, hat sich bewahrheitet.

Fast 1,5 Jahre nach der Abschaffung des Rechtsanspruchs auf Familienzusammenführung für subsidiär Schutzberechtigte steht fest: Fast 20 Prozent des von der Großen Koalition in Berlin in einem lange verhandelten Kompromiss versprochenen Visakontingents wurden bisher nicht ausgeschöpft. Nach aktuellen Zahlen des Auswärtigen Amtes wurden in den ersten 16 Monaten nach Inkrafttreten der Neuregelung der Familienzusammenführung für subsidiär Schutzberechtigte von den 16.000 möglichen Visa nur rund 13.000 Visa erteilt. Die Gründe dafür liegen vor allem darin, dass 2018 die Aufnahme der Visabearbeitung durch das überbürokratisierte Verfahren lange Zeit in Anspruch nahm. Dabei warteten zum 31. August 2019 weltweit über 24.000 angehörige Personen, darunter viele Kinder, auf einen Visumantragstermin (Bundestags-Drucksache 19/13890, S. 34 f.).

Karim Alwasiti, Familiennachzugs-Experte von PRO ASYL beim Flüchtlingsrat Niedersachsen:

»3.000 Personen, die zum Jahresende 2019 längst mit ihren Angehörigen in Deutschland hätten vereint sein können, sind weiterhin von diesen getrennt. Die Familienangehörigen leiden in Syrien, den Anrainerstaaten und anderen Regionen weltweit unter widrigsten und lebensbedrohlichen Bedingungen. Darunter sind auch viele Kleinkinder. Während Innenminister Boris Pistorius noch vor einem Jahr öffentlich betont hat, dass der mühsam in den Koalitionsverhandlungen gefundene Kompromiss zum Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigen insgesamt gefährdet sei, wenn nicht die Möglichkeit einer Übertragung des im Jahr 2018 nicht ausgeschöpften Kontingents in das Jahr 2019 geschaffen werde, ist heute davon kaum mehr die Rede. Wir erwarten von den Verantwortlichen in CDU/CSU und SPD, dass sie hier umgehend die Gespräche über die ausstehenden Visa nochmals aufnehmen, um das große Leid der Familien zu mindern.«

Schon seit Juni 2019 stellt der Flüchtlingsrat Niedersachsen auf Basis der Zahlen des Auswärtigen Amtes zudem fest, dass die für eine Visaerteilung erforderlichen Zustimmungsentscheidungen des Bundesverwaltungsamtes monatlich bei unter 1.000 Personen liegen, obwohl gesetzlich ein Kontingent von bis zu 1.000 Personen monatlich vorgesehen ist. Die Gründe hierfür bleiben in dem sehr intransparenten Verfahren vielfach unklar.


Hintergrund:
§ 36 a Aufenthaltsgesetz regelt seit 01. August 2018, dass monatlich 1.000 nationale Visa für die Familienzusammenführung zu subsidiär Schutzberechtigten erteilen werden können. Die Bundesregierung sah dabei bei dem Kontingent im Jahr 2018 eine Übertragbarkeit zwischen einzelnen Monaten vor, ab 2019 soll eine solche Übertragbarkeit nicht mehr möglich sein.

2018 wurden nach den Zahlen des Auswärtigen Amtes von möglichen 5.000 Visa 2.612 Visa erteilt, 2019 wurden bis 31. November 2019 von möglichen 11.000 Visa 10.416 Visa erteilt.


Anlage: Fallskizzen

Fall 1:
Der heute 14-jährige Mohammed A. flüchtet Ende 2015 als 10-Jähriger zusammen mit seinem Onkel und dessen Ehefrau nach Deutschland. Mohammeds Vater ist Mitglied einer kurdischen Partei und steht wegen seiner politischen Aktivitäten und der Verweigerung des Militärdienstes auf der Fahndungsliste des syrischen Regimes.

Nach der beängstigenden Flucht zu Fuß über die Türkei, mit dem Schlauchboot über das Mittelmeer und dann per Bus und Zug nach Deutschland wird Mohammed mehrere Monate von seinem Onkel und seiner Tante getrennt untergebracht. Es geht ihm in dieser Zeit sehr schlecht und er weint viel. Die Gründe für eine weitere Trennung von den vertrauten Familienmitgliedern sind ihm nicht zu vermitteln.

Im Februar 2017 erhält Mohammed A. den subsidiären Schutzstatus vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Als ihm erklärt wird, dass er mit diesem Status seine Eltern zum damaligen Zeitpunkt nicht würde nachziehen lassen können, löst dies eine schwere Krise bei ihm aus. Er verweigert jegliches Gespräch über seine Eltern und versucht seinen Schmerz und seine Wut zu unterdrücken. Mohammed besucht dann aber nach langen Tiefen erfolgreich die Schule und erhält gute Unterstützung.

Die Situation seiner Familie, darunter vier Schwestern im Alter zwischen 6 und 13 Jahren, im Flüchtlingslager im Nordirak gestaltet sich als perspektivlos. Der Vater leidet unter Nierensteinen, kann sich eine Operation jedoch finanziell nicht leisten. Die Terrororganisation IS fasst in der Region zunehmend wieder Fuß.

Mohammeds Familie muss in ihrer verzweifelten Lage drei Mal eine Terminnummer beim Deutschen Generalkonsulat in Erbil buchen. Zweimal werden die Terminanträge aufgrund der veränderten Rechtslage für ungültig erklärt. Bereits vor Inkrafttreten der Neuregelung der Familienzusammenführung zu subsidiär Schutzberechtigten zum 01. August 2018 stellt die Familie beim Auswärtigen Amt einen Härtefallantrag, erfolglos. Im Frühjahr 2019 erhält die Familie schließlich ihren Termin zur Visumantragstellung.

Die Anträge liegen mittlerweile seit mehreren Monate bei der lokalen Ausländerbehörde. Diese verlangt allerdings für die vier minderjährigen Schwestern jeweils eine Verpflichtungserklärung für Wohnraum und den Lebensunterhalt. Die Eltern stehen vor einem nicht auflösbaren Dilemma.


Fall 2:
Herr. Z. ist 40 Jahre alt und kommt aus dem Sudan. Mitte 2015 flüchtet er nach Deutschland. Zwei Jahre später, 2017, erhält er vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den subsidiären Schutzstatus. Er ist verheiratet und hat zwei Töchter im Alter von 5 und 9 Jahren. Die Ehefrau muss sich bis heute vor den Repressalien der sudanesischen Polizei verstecken und lebt bei Verwandten auf dem Dorf.

Herr Z. erlernt die deutsche Sprache und arbeitet bereits seit rund 2 Jahren sozialversicherungspflichtig in der gehobenen Gastronomie.

Als zum 01. August 2018 die Neuregelung der Familienzusammenführung zu subsidiär Schutzberechtigten nach vorheriger 2,5-jähriger Aussetzung in Kraft tritt, beantragt die Ehefrau einen Termin zur Visumantragsstellung bei der Deutschen Botschaft Khartum. Mehrfach versucht der Unterstützer*innenkreis einen baldigen Termin zu erhalten. Die massiven Unruhen im Sudan im Jahr 2019 beunruhigten Herrn Z. und die Familie sehr.

Lange Zeit später können die Visaanträge endlich gestellt werden. Nun liegen sie bei der lokalen Ausländerbehörde. Diese weist darauf hin, dass eine Prüfung nun weitere Monate dauern werde. Die Familie lebt seit viereinhalb Jahren voneinander getrennt.

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Quelle:
Pro Asyl - Pressemitteilung vom 20. Dezember 2019
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E-Mail: proasyl@proasyl.de
Internet: www.proasyl.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Dezember 2019

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