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ASYL/574: Menschenrechte achten - Flüchtlinge schützen (IPPNWforum)


IPPNWforum | 114 | 09
Mitteilungen der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

Menschenrechte achten - Flüchtlinge schützen
Was sind mögliche Konfliktkonstellationen?

Von Günter Burkhardt


Monat für Monat spielen sich an Europas Grenzen menschliche Tragödien ab. Insgesamt wurden im Jahr 2007 mindestens 1.861 tote Flüchtlinge in den Gewässern vor Europa gezählt (http://fortresseurope.blogspot.com). Im Jahr 2006 waren es 2.088. Genau weiß es niemand, aber eines ist sicher: Das Mittelmeer und der Atlantik vor den Kanaren entwickeln sich zu einem Massengrab. Immer perfekter werden die Strategien der europäischen Staaten, die Fluchtwege nach Europa zu versperren. Tag und Nacht sind bewaffnete Patrouillen im Einsatz. Nachtsichtgeräte, Wärmebildkameras und meterhohe Stacheldrahtzäune säumen die Grenzen. Patrouillenboote, Flugzeuge und Hubschrauber sind ununterbrochen unterwegs. Eine immer wichtigere Rolle spielt dabei die europäische Grenzagentur FRONTEX. Flüchtlingsboote werden im Zuge von FRONTEX-Einsätzen in internationalen Gewässern aufgebracht und zurückgedrängt. Mit allen Mitteln sollen Menschen an der Flucht nach Europa gehindert werden.

Flüchtlinge und Migranten sind gezwungen, immer weitere und gefährlichere Wege auf sich zu nehmen. Zunehmend benutzen sie kleine und seeuntaugliche Boote, um nicht entdeckt zu werden.


Schutzbedürftige oder illegale Einwanderer?

"Das sind keine Flüchtlinge, sondern illegale Migranten", so FRONTEX-Chef Ilkka Laitinen im Dezember 2006. In ihrem Jahresbericht für das Jahr 2007 feiert die Agentur den Erfolg ihrer Einsätze. Stolz berichtet FRONTEX so zum Beispiel von den Ergebnissen der Operation Poseidon in der Ägäis: An den südöstlichen Land- und Seegrenzen der EU wurde der Fluchtweg von 3.405 illegalen Migranten "unterbrochen" (intercepted), 422 "illegale Migranten" wurden "abgedrängt" (diverted). Was aus den Menschen wurde, ist völlig unklar. Waren sie schutzbedürftig? Wurden sie inhaftiert? Wurden sie illegal in die Türkei zurückgeschoben, wie PRO ASYL im Juli/August und im Oktober 2007 in einigen Fällen dokumentierte? War auch FRONTEX in Menschenrechtsverletzungen involviert? Die Operation Poseidon lief jedenfalls in diesem Zeitraum ab. Genaueres ist nicht zu erfahren.

Wer sind die Menschen, die versuchen, Europa zu erreichen? Die Innenminister der europäischen Länder scheint dies nicht zu interessieren. In ihren Augen sind die Menschen, die nach Europa kommen, allesamt "illegale Einwanderer". Allein auf der italienischen Insel Lampedusa stellten im Jahr 2006 rund 2.000 "Boat-People" einen Asylantrag. Das sind 60 % aller Asylanträge in Italien. Fast die Hälfte der Asylsuchenden wurde in Italien als Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention oder als anderweitig schutzbedürftig anerkannt. Auch auf Malta erhält knapp die Hälfte derjenigen, die als Flüchtlinge mit dem Boot ankommen und einen Asylantrag stellen, eine Flüchtlingsanerkennung oder subsidiären Schutz.

In Griechenland sind es zunehmend Iraker und Afghanen - also Menschen, die in hohem Maße schutzbedürftig sind. Auch in vielen Staaten Afrikas herrscht Krieg, kommt es zur Verfolgung von ethnischen Minderheiten und zu systematischen Menschenrechtsverletzungen. In Somalia toben die schwersten Kämpfe seit Jahren. Eine halbe Million Menschen ist derzeit auf der Flucht. Zwischen Eritrea und Äthiopien droht erneut ein Krieg auszubrechen. Bereits zwischen 1982 und 2000 forderte ein Krieg zwischen beiden Ländern 70.000 Tote. Im Sudan ist die Lage nicht weniger explosiv. In einer Reihe weiterer afrikanischer Staaten plündern korrupte politische Regime in Einklang mit internationalen Wirtschaftsunternehmen das eigene Land. Und oft gehen individuelle Verfolgung und die Zerstörung von Existenzgrundlagen Hand in Hand.

Es ist eine Täuschung der Öffentlichkeit, wenn Regierungsvertreter europäischer Staaten pauschal den nach Europa Kommenden die Schutzbedürftigkeit absprechen und sie als illegale Einwanderer stigmatisieren. Sie versuchen so, die Einsätze des Grenzschutzes und der FRONTEX-Einheiten zu legitimieren.


Menschenrechtsfreie Räume auf See?

Zur Abwehr von Flüchtlingen und Migranten scheint den Staaten Europas jedes Mittel recht zu sein.

Beispiel Italien: Hier stehen seit Sommer letzten Jahres tunesische Fischer vor Gericht, die am 8. August 2007 44 Menschen aus Seenot gerettet haben. Sie wurden wegen Beihilfe zur illegalen Einreise angeklagt und zum Teil wochenlang inhaftiert. Auch der Prozess um die Cap Anamur Crew geht weiter. Kapitäne überlegen es sich inzwischen, ob sie Schiffbrüchige aus Seenot retten oder sie ihrem Schicksal überlassen.

Beispiel Griechenland: Die Recherche von PRO ASYL und griechischen Rechtsanwältinnen im Sommer und Herbst letzten Jahres hat nachgewiesen, dass die griechische Küstenwache Flüchtlinge auf unbewohnten Inseln aussetzt, illegal in die Türkei zurückverfrachtet und schwere Menschenrechtsverletzungen begeht.

Beispiel EU: Auch die von der EU gegründete gemeinsame Grenzagentur FRONTEX operiert unter Missachtung der Menschenrechte. Die Einsatzkräfte drängen Flüchtlingsboote ab. Es häufen sich Einsätze in den Küstengewässern der afrikanischen Staaten. Es wird nicht geprüft, ob sich in den von den FRONTEX-Einsatzkräften zurückgedrängten Booten Schutzbedürftige befinden. Die Bundesregierung behauptet, die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) entfalte ihre Wirkung erst dann, wenn Schutzsuchende europäischen Boden betreten.

Diese Auffassung steht im krassen Gegensatz zum Wortlaut der GFK und ist rechtlich nicht haltbar. Im übrigen verbietet auch die Europäische Menschenrechtskonvention eine Zurückweisung ohne Prüfung der Schutzbedürftigkeit. Es ist juristisch unstrittig, dass Grenzbeamte auch jenseits des Staatsgebiets staatliche Herrschaftsgewalt ausüben und deshalb an die in Europa geltenden Gesetze gebunden sind. Ein von der Stiftung PRO ASYL, amnesty international und dem Forum Menschenrechte in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten des European Center for Constitutional and Human Rights vom September 2007 kommt zu der eindeutigen Schlussfolgerung, dass es europäischen Grenzbeamten verboten ist, potentiell Schutzbedürftige auf See zurückzuweisen, zurückzueskortieren, an der Weiterfahrt zu hindern oder in nicht zur EU gehörige Länder zurückzuschleppen. Die Flüchtlinge haben vielmehr einen Rechtsanspruch, in den nächsten sicheren Hafen auf europäisches Territorium gebracht zu werden.

In der Praxis entwickeln sich das Mittelmeer und weite Teile des Atlantiks zusehends zu einem rechtsfreien Raum. "Es gibt Gegenden am Mittelmeer, die dem Wilden Westen gleichen, wo ein Menschenleben nichts zählt", klagte UNHCR-Sprecherin Laura Boldrini im Oktober 2007.


Achtung der Menschenrechte

Am 10. Dezember 2008 wird die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 60 Jahre alt. Die Menschenrechte werden nicht nur in einigen afrikanischen Staaten verletzt, sondern auch in Europa. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat im Dezember 2007 zu Recht formuliert: "Wir dürfen nicht wegschauen, wenn Menschenrechte mit Füßen getreten werden, wo auch immer dies geschieht." Jedes staatliche Handeln ist gebunden an die Achtung der Menschenrechte. Wann endlich öffnen die Regierungschefs ihre Augen und setzen sich dafür ein, dass die eigenen Grenzbeamten Menschenrechtsverletzungen Einhalt gebieten?


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Was ist Frontex?

Die Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union wurde durch die Verordnung (EG) 2007/2004 des Rates v. 26.10.2004 errichtet und hat am 1. Mai 2005 ihre Arbeit aufgenommen. Frontex hat ihren Sitz in Warschau, Polen.

Tobias Pflüger, MdEP, zu Frontex:

In der Bevölkerung aber auch im Europäischen Parlament herrscht weitgehend Unklarheit darüber, was die Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen (FRONTEX) eigentlich alles macht und worin ihre Bedeutung besteht. Die Agentur soll offiziell einen Beitrag zum "Integrierten Grenzschutz" der EU leisten. Unter Integration wird im Zusammenhang mit der EU meist verstanden, dass einzelstaatliche Aufgaben und Fähigkeiten gebündelt und fortan von einer Institution auf EU-Ebene zentral gesteuert werden. Doch die Integration, die FRONTEX leistet, geht weit darüber hinaus. Schon auf nationalstaatlicher Ebene werden die Aufgaben und Kompetenzen verschiedenster Behörden zusammengeführt. Dies gilt allein schon als Voraussetzung für deren internationale Vernetzung. Die vertikale, internationale Integration bringt also zwangsläufig eine horizontale (funktionelle) Integration mit sich, die von wissenschaftlichen und medizinisch-humanitären Organisationen über die Polizei und Gendarmerieeinheiten bis zum Militär reicht. Diese Behörden unterlagen bisher völlig unterschiedlichen Zielsetzungen und ihre Zusammenarbeit ist mit den Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit kaum zu vereinen. Dies gilt bereits für die EU, wo die wichtigsten legislativen Entscheidungen gerade in der Innenpolitik vom Ministerrat getroffen werden, der sich aus den jeweils zuständigen Ministern der Mitgliedsstaaten zusammensetzt, also Teilen der Exekutiven. Sofern diese Entscheidungen den Bereich der "polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit" - die so genannte "Dritte Säule der EU" - betreffen, haben das Parlament und auch der Europäische Gerichtshof kaum Einflussmöglichkeiten. Häufig aber findet die Kooperation von Behörden nicht einmal auf der Grundlage einer legislativen Entscheidung, sondern informeller Absprachen statt. So entstanden beispielsweise auch die Institutionen, aus denen FRONTEX hervorgegangen ist. FRONTEX selbst wurde zwar durch ein "EU-Gesetz" ins Leben gerufen, allerdings als autonome Agentur, damit sie selbst möglichst wenig rechtlichen Bindungen und parlamentarischer Kontrolle unterliegt. Dass FRONTEX seine Tätigkeit vor allem auch auf dem Meer und in fremden Küstengewässern entfaltet, passt hierzu nur allzu gut. Denn auch dort, wie hinsichtlich der Agentur selbst, sind die Kompetenzen und die rechtlichen Verantwortlichkeiten unklar. Allerdings agiert FRONTEX auch auf Flughäfen, z.B. bei einer umfangreichen Kontrollaktion im Februar 2007 an den Flughäfen Frankfurt, Madrid, Barcelona, Lissabon, Paris, Amsterdam, Mailand und Rom. FRONTEX hat eine "starke Migrationsbewegungen auf dem Luftweg aus Südamerika" ausgemacht und kontrollierte deshalb alle nicht deutsch aussehenden Insassen von Flügen aus Südamerika. Ich selbst bin bei einem Rückflug aus Caracas (Venezuela) Zeuge dieser Kontrollaktion geworden. Der Hessische Rundfunk schreibt dazu: "Die EU-Beamten tragen die Uniformen ihres Landes, haben aber an ihrem Einsatzort durchaus exekutive Befugnisse. So kann zum Beispiel ein Grenzer aus Portugal, der in Frankfurt eingesetzt ist, dort Passagiere festhalten und befragen." Ein völlig neue Entwicklung von Polizeibefugnissen.

Literatur:

Was ist FRONTEX? Aufgaben und Strukturen der Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen. Broschüre der Informationsstelle Militarisierung (IMI), Tübingen

Ruth Weinzierl und Urszula Lisson: Grenzschutz und Menschenrechte. Eine Studie des deutschen Instituts für Menschenrechte, Berlin 2007

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Quelle:
IPPNWforum | 114 | 09, S. 12-13
Herausgeber:
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. März 2009