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ASYL/661: Schleswig-Holstein - Offen für weitere Veränderungen (Der Schlepper)


Der Schlepper Nr. 51/52 - Sommer 2010
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in Schleswig-Holstein

Offen für weitere Veränderungen

Interview mit Emil Schmalfuß, Minister für Justiz, Gleichstellung und Integration

Interview Martin Link


Die Landtagswahlen im Herbst 2009 haben eine schwarz-gelbe Landesregierung an die Macht gebracht. Die Ministerien wurden neu geordnet. So wanderte mit der gesamten Ausländerabteilung auch die Zuständigkeit für die Flüchtlingspolitik im Bundesland vom Innenministerium zum Justizministerium. Dort verantwortet seither der parteilose ehemalige Präsident des Kieler Landgerichts, Emil Schmalfuß, welche Verwaltungskultur die Landespolitik künftig den Flüchtlingen im Land angedeihen lassen wird. DER SCHLEPPER befragte Minister Schmalfuß.


Der Schlepper: Herr Minister, für Ihre Vorgänger galt die Integrationsförderung für Flüchtlinge als nicht gewünscht. Langjährige Geduldete im Zustand des faktischen Lern- und Arbeitsverbots wurden folglich über Jahre sozial ausgegrenzt und in ihren Bemühungen blockiert, zur Entlastung der öffentlichen Hand beizutragen. Plant die derzeitige Landesregierung in diesem Zusammenhang einen politischen Paradigmenwechsel?

Schmalfuß: Schleswig-Holstein war 2002 eines der ersten Länder, das ein Integrationskonzept vorgelegt hat. Dieses Integrationskonzept hat sich an den konkreten Lebenslagen der Migrantinnen und Migranten ausgerichtet - und nicht an Aufenthaltstiteln. So sind z.B. alle Sprachfördermaßnahmen für Kinder und Jugendliche völlig unabhängig vom Aufenthaltsstatus. Geduldete Kinder und Jugendliche sind selbstverständlich einbezogen. Ein Paradigmenwechsel ist also nicht erforderlich. Punktuell werden wir uns aber bei der geplanten Fortschreibung des Integrationskonzeptes genau anschauen müssen, ob weitere Integrationsangebote auf Geduldete ausgeweitet werden sollen.

Der Schlepper: Der Koalitionsvertrag kündigt an, künftig die Integrationsmaßnahmen auch für geduldete Flüchtlinge zu öffnen. Welche Änderungen in der geltenden Rechts- und Verordnungslage sind zum Erreichen dieses Zieles geplant?

Schmalfuß: Schleswig-Holstein hat schon in der Vergangenheit Vorstöße unternommen, die Situation für Personen mit ungesichertem Aufenthaltsstatus zu verbessern. Beispielsweise wurde im Zuge des Richtlinienumsetzungsgesetzes 2007 versucht, weiteren Personen mit Aufenthaltsrechten aus humanitären Gründen einen Integrationskursanspruch zu verschaffen. Dieser Änderungsantrag fand keine Mehrheit. Angesichts der schwierigen Haushaltssituation von Bund und Ländern sehe ich auch künftig wenig Chance für diese Änderung.

Der Schlepper: Der Koalitionsvertrag fordert weiterhin die breite Teilnahme von Migrantinnen und Migranten an Integrationskursen ein, weil Sprachkompetenz grundlegend für eine erfolgreiche Integration sei. Andere Bundesländer demonstrieren, dass dies auch für Flüchtlinge gilt und fördern konsequent. Werden Sie daraufhin die finanziellen Voraussetzungen für die regelmäßige Teilnahme von Flüchtlingen an Sprachkursen schaffen?

Schmalfuß: Angesichts der zur Haushaltskonsolidierung notwendigen schmerzhaften Kürzungen vor allem auch im Zuwendungsbereich sehe ich derzeit keinen finanziellen Spielraum für neue Fördermaßnahmen.

Der Schlepper: Die gegen Flüchtlinge gerichteten Ausbildungs- und Arbeitsverbote sowie arbeitsmarktlichen Restriktionen fördern die Desintegration der betroffenen Flüchtlinge und verärgern Unternehmen. Wie beurteilen Sie die bis dato übliche Abwägung von Ordnungspolitik und arbeitsmarktpolitischen Bedarfen? Und wie beurteilen Sie die diesbezügliche Rechtslage, welche Praxis wird unter Ihrer Fachaufsicht künftig Standard?

Schmalfuß: Um international weiterhin wettbewerbsfähig zu bleiben, wird Deutschland nicht umhin kommen, seinen Arbeitsmarkt zu öffnen. Zur Sicherung des sich in Zukunft noch verstärkenden Fachkräftebedarfs ist Deutschland auf die Arbeitsmigration - nicht nur im hochqualifizierten Bereich - angewiesen. Ich gehe davon aus, dass auf Bundesebene weitere Maßnahmenbündel auf den Weg gebracht werden, die den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt für Ausländerinnen und Ausländer weiter öffnen werden. Nicht zuletzt werden wir uns mit einer Zuwanderung nach einem Punktesystem beschäftigen müssen, wie sie anfangs im ursprünglichen Zuwanderungsgesetz enthalten war.

Ein Schritt in die richtige Richtung war das Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz, das z.B. für geduldete Hochschulabsolventen oder Fachkräfte deutliche Verbesserungen gebracht hat. Damit einher ging eine Änderung der Beschäftigungsverfahrensverordnung, nach der Geduldeten bereits nach einem einjährigen Aufenthalt die Genehmigung für die Aufnahme einer Berufsausbildung ohne Vorrangprüfung erteilt wird.

Der Schlepper: Beratungsstellen, Betroffene und Unternehmen sind sich einig in der Einschätzung, dass die sogenannte "Residenzpflicht" diskriminiert und eine regelmäßige Hürde bei der Einstellung von Flüchtlingen darstellt. Die geltende Erlasslage "belohnt" im Einzelfall. Wie stehen Sie zu der Forderung der regelmäßigen Ausweitung des zugewiesenen Aufenthaltsbereiches auf das ganze Bundesland? Wird Schleswig-Holstein die Bundesratsinitiative des Landes Brandenburg unterstützen?

Schmalfuß: Soweit mit der Residenzpflicht die Wohnsitznahme schutzsuchender oder geduldeter Ausländerinnen und Ausländer vorgegeben wird, halte ich dies im Sinne einer möglichst gleichmäßigen Verteilung der Kosten für die Unterbringung und Versorgung der betroffenen Menschen auch künftig für sinnvoll. Dies gilt insbesondere angesichts der seit einiger Zeit wieder steigenden Zahl schutzsuchender Menschen.

Soweit die Residenzpflicht allerdings eine räumliche Einschränkung der Bewegungsfreiheit betroffener Menschen auf das Gebiet eines Kreises oder einer kreisfreien Stadt mit sich bringt, bin ich durchaus offen für weitere Veränderungen. Ich sage hier bewusst "weitere Veränderungen" da sich Schleswig-Holstein in der Vergangenheit zwar an die bundesgesetzlich vorgegebenen Regelungen gehalten hat, die Ausländerbehörden im Lande aber bereits seit dem Jahre 1988 durch entsprechende Erlasse immer wieder angehalten hat, das ihnen eingeräumte Ermessen bei der Entscheidung über Anträge auf Erteilung von Verlassenserlaubnissen grundsätzlich zugunsten der Antragsteller auszuüben. Darüber hinaus sind die Ausländerbehörden mit Erlass vom 31. März 2009 in den Fällen geduldeter Ausländerinnen und Ausländer angehalten worden, nach der Feststellung, dass die Betroffenen ihr Ausreise- oder Abschiebungshindernis nicht selbst zu vertreten haben, grundsätzlich eine räumliche Beschränkung auf das Land Schleswig-Holstein zu verfügen.

Die Absicht des Landes Brandenburg, eine Bundesratsinitiative mit dem Ziel der Ausweitung räumlicher Beschränkungen zu starten, ist mir bekannt. Ein entsprechendes Papier liegt aber noch nicht vor. Eine konkrete Meinungsbildung hierzu ist mir daher im Moment noch nicht möglich. Aber wie bereits erwähnt, schätze ich Überlegungen zur Ausweitung räumlicher Beschränkungen nicht grundsätzlich negativ ein.

Der Schlepper: Bleiberechtsentscheidungen unterliegen regelmäßig Ausschlusskriterien, die sich z.B. auf die Mitwirkung, die Rechtstreue oder die Marktfähigkeit der betroffenen Personen und Familien beziehen. Das schafft regelmäßige Härten und ist auch sonst nicht zielführend, weil die zuständigen Behörden Aufenthaltsbeendigungen faktisch nicht durchsetzen können. Wie werden Sie als zuständiger Minister in den Ausländerbehörden des Landes und der Kommunen künftig für eine ermessenspositive Verwaltungspraxis sorgen?

Schmalfuß: Die letzte Bleiberechtsregelung fand als §§ 104 a, b AufenthG erstmals in Form einer gesetzlichen Norm Eingang in das Aufenthaltsrecht. Dies darf zu Recht als Fortschritt auf dem Weg zu einer gesetzlichen Lösung für Personen ohne Aufenthaltsrecht aber mit langjährigem Aufenthalt und nachgewiesenen Integrationsleistungen gewertet werden. Da die Regelung jedoch als Stichtagsregelung konzipiert ist, ist das Entstehen von Härtefällen programmiert. Und die Regelung ist auch keine Dauerlösung zur Vermeidung von Kettenduldungen. Gleiches gilt für die Anschlussregelung der Innenministerkonferenz zur Altfallregelung, die den sog. "Inhabern von Aufenthaltserlaubnissen auf Probe" ein weiteres zweijähriges Zeitfenster einräumt, um die Lebensunterhaltssicherung zu erreichen. Für die praktische Umsetzung dieser Regelungen sah und sehe ich kein Erfordernis, den Ausländerbehörden weitere ermessensleitende Hinweise zur Verwaltungspraxis an die Hand zu geben.

Politische Initiativen, die auf eine neue stichtagsunabhängige Bleiberechtsregelung abzielen, wären nach meiner Einschätzung derzeit völlig chancenlos. Mehr noch, sie kämen zur Unzeit und würden vermutlich mit dem einfachen Argument, es müssten erstmal Erfahrungen mit der verlängerten Bleiberechtsregelung gesammelt werden, abgeblockt werden. Ich werde die tatsächliche Entwicklung genau beobachten und zu gegebener Zeit prüfen lassen, auf welchen Personenkreis sich ein neuer Vorstoß unter dem Aspekt vorliegender Integrationsleistungen erstrecken könnte.

Der Schlepper: Bis dato hat Schleswig-Holstein mögliche Gelder des Europäischen Sozialfonds (ESF) ausschließlich in Landesprogrammen zur Förderung von aufenthaltsgesicherten MigrantInnen eingesetzt. Inwieweit sehen Sie als zuständiger Minister für Integration Möglichkeiten, von ESF-Landesförderungsprogrammen auch für die Zielgruppe der Flüchtlinge zu öffnen?

Schmalfuß: In Schleswig-Holstein werden die Mittel des Europäischen Sozialfonds in der aktuellen Förderperiode, die die Jahre 2007 bis 2013 umfasst, im Arbeitsmarktprogramm der Landesregierung, dem Zukunftsprogramm Arbeit, eingesetzt. Mit dem Zukunftsprogramm Arbeit will die Landesregierung insbesondere die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen und Beschäftigten, die Verbesserung der Perspektiven von Jugendlichen am Arbeitsmarkt und die Erhöhung der Chancen für am Arbeitsmarkt Benachteiligte erreichen. Seit Sommer 2007 sind zur Erreichung dieser Ziele insgesamt 16 Förderangebote gestartet. Im Rahmen der Arbeitsmarktförderung werden damit verschiedene Zielgruppen, insbesondere Beschäftigte, Arbeitslose, Auszubildende, Schülerinnen und Schüler sowie kleine und mittlere Unternehmen angesprochen. Das Zukunftsprogramm Arbeit steht grundsätzlich allen offen, sofern sie über einen Arbeitsmarktzugang verfügen und zu den Zielgruppen der einzelnen Förderangebote gehören. Besonders hinweisen möchte ich in diesem Zusammenhang darauf, dass Kinder von Flüchtlingen, die in Schleswig-Holstein die allgemeinbildende Schule besuchen, grundsätzlich am "Handlungskonzept Schule & Arbeitswelt" partizipieren können.

Der Schlepper: Besonders jugendliche Flüchtlinge werden durch die geltende Asyl- und Ausländerrechtslage systematisch am Lernen, Arbeiten und nachhaltiger Integration gehindert. Mit der jüngst erfolgten Rücknahme der deutschen Vorbehaltserklärung gegen die UN-Kinderrechtskonvention könnte sich das zugunsten der Betroffenen ändern. Wie erklärt sich in diesem Zusammenhang, dass Schleswig-Holstein bei der jüngsten Innenministerkonferenz in Hamburg die Zusicherung des BMI begrüßt habe, "dass mit der Rücknahme der Erklärung keine Änderung des Aufenthalts- und des Asylverfahrensrechts verbunden" sei?

Schmalfuß: Die Rücknahme der deutschen Vorbehaltserklärung ist von Schleswig-Holstein stets unterstützt worden. Die Bundesregierung hatte in der Vergangenheit mehrfach öffentlich erklärt, dass die Vorbehalte aus heutiger Sicht nicht mehr notwendig seien. Es handele sich im Wesentlichen um Erläuterungen, die Fehl- und Überinterpretationen des Vertrages vermeiden sollen. Insofern kam der Vorbehaltserklärung nur eine klarstellende Bedeutung zu.

Zu der von Ihnen angesprochenen Protokollnotiz in dem Beschluss der Innenministerkonferenz muss ich zunächst darauf hinweisen, dass das Justizministerium Schleswig-Holstein in diesem Gremium nicht vertreten ist. Meine Recherchen haben ergeben, dass Schleswig-Holstein offensichtlich versehentlich in der Notiz aufgenommen wurde. Das hiesige Innenministerium bemüht sich um eine Berichtigung der Protokollnotiz. Neben dem Bundesminister des Innern hat auch die Bundesministerin der Justiz im Bundestag bestätigt, dass sie unmittelbar aus der Konvention keine legislative Handlungsnotwendigkeit und keine Verpflichtung, Gesetze zu ändern, konstatieren kann.


Martin Link, der das Interview mit dem Minister führte, ist Geschäftsführer des Flüchtlingsrates Schleswig-Holstein.


"Verwaltungspraxis auf den Prüfstand stellen"

Aus der Rede der Bundesministerin der Justiz Sabine Leutheusser-Schnarrenbergerauf dem Berliner Symposium zum Flüchtlingsschutz am 14. Juni 2010

(...) die Bundesregierung [hat] vor kurzem ein ganz wichtiges Zeichen gesetzt: Deutschland hat seine Interpretationserklärung zur Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen endlich zurückgenommen.

Ich weiß, dass sich viele (...) seit langem dafür eingesetzt haben. Ich habe das immer unterstützt und deshalb haben wir es auch im vergangenen Herbst zum Thema der Koalitionsverhandlungen gemacht. Nach fast 20 Jahren und vielen gescheiterten Versuchen früherer Regierungen hat die Bundesregierung Anfang Mai beschlossen, die deutschen Erklärungen zurückzunehmen. Das war ein ganz wichtiges Zeichen, auch für den Umgang mit minderjährigen Flüchtlingen, und ich danke allen, die sich unermüdlich für dieses Ziel eingesetzt haben.

Gut ist, dass auch in der Neufassung der Qualifikationsrichtlinie die vorrangige Berücksichtigung des Kindeswohls festgeschrieben werden soll. Ich würde es persönlich auch begrüßen, wenn bei der Asylverfahrensrichtlinie gerade bei den unbegleiteten Minderjährigen die eine oder andere Ausnahme zugelassen würde, vor allem wäre es schön, wenn man unbegleiteten Minderjährigen die Strapazen eines doch sehr belastenden Verfahrens an der Grenze und den häufig damit verbundenen Transitgewahrsam ersparen könnte.

In Deutschland hat die Rücknahme der Erklärung zur Kinderrechtskonvention vor allem Bedeutung für die Gesetzesanwendung. Wenn es um die Abschiebehaft geht, die medizinische Versorgung oder die Frage, ob ein 17-Jähriger ein Asylverfahren allein durchfechten muss oder ob er einen Beistand bekommt, dann haben die Behörden der Länder bei all diesen Punkten einen gewissen Spielraum. Das Bekenntnis zur Kinderrechtskonvention ist daher auch ein Signal an die Länder, ihre Verwaltungspraxis auf den Prüfstand zu stellen. Sie sollten jetzt schauen, was sie tun können, um auf Belange von minderjährigen Flüchtlingen noch stärker Rücksicht zu nehmen.

Quelle: www.bmj.bund.de


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Quelle:
Der Schlepper Nr. 51/52 - Sommer 2010, Seite II-IV
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in
Schleswig-Holstein
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Oktober 2010